• 19 •
Louis
Am Anfang war ich einfach nur wütend gewesen. Auf Harry, auf Niall, auf diese dämliche Idee von ihnen, mich auszusperren. Zu dem Zeitpunkt hatte ich allerdings auch noch gehofft, dass sie mich vielleicht eine Stunde oder so im Regen stehen lassen würden. Schön wär's.
Ich war unglaublich froh, als Harry irgendwann von oben kam (es war eine verglaste Fensterwand, durch die ich nach drinnen sehen konnte) und ich hatte gedacht, dass er Niall, der die ganze Zeit auf der Treppe gesessen und mich bewacht hatte, Bescheid geben würde, dass sie mich wieder reinlassen konnten. Stattdessen hatte er ihn nur in seiner Wache abgelöst.
Jedes Mal, wenn ein anderer Schüler drinnen vorbeilief, hoffte ich wieder. Aber diese dämlichen Kinder schauten nicht mal aus dem Fenster. Und selbst wenn sie mich gesehen hätten, wäre ihnen die Wahl zwischen Harrys und meiner Sympathie garantiert nicht schwer gefallen. Sie hätten allesamt Harry gewählt.
Bis auf Einen, Liam. Doch der hatte sich kein einziges Mal hier unten blicken lassen. Keine Ahnung, wo er war. Vielleicht hatten er und Eleanor wieder Gefallen aneinander gefunden und würden die nächsten drei Tage ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Aber wo auch immer er war, er sollte besser hier sein und mir helfen.
Seit der Mittagszeit dann hatte ich Hunger. Weil ich meinen Porridge heute Morgen auch nur mit halber Begeisterung gegessen hatte, war mein Magen ziemlich leer.
Harry bewachte mich, während Niall und alle anderen (außer Liam, den sah ich nicht) essen gingen. Der Ire brachte seinem besten Freund aber zwei Äpfel mit, von denen Harry den ersten schon aß, als er wieder hochging und Niall sich als Wache auf der Treppe niederließ.
Harry und Niall waren zwei komplett unterschiedliche Wachen. Harry las und es war, als wollte er vermeiden, mich anzusehen. Niall allerdings grinste mich die ganze Zeit schadenfroh an.
Schlimm war das Ganze allerdings erst später geworden. Es war ungefähr vier Uhr gewesen, als der schwache Dauerregen sich urplötzlich in ein gewaltiges Unwetter verwandelt hatte. Es hatte begonnen in Strömen zu regnen und ich war mir ziemlich sicher, dass es auch kälter geworden war.
Und seitdem war der Regen nicht schwächer geworden. Ganz im Gegenteil. Es hatte sogar zu gewittern begonnen.
Ich hatte Schutz unter dem winzigen Vordach gesucht und mich an die Scheiben gekauert, aber das hatte rein gar nichts gebracht. Es war windig und so traf mich der Regen noch mit kompletter Wucht. Ich war schon längst klitschnass; dicke, nasse Haarsträhnen hingen mir in die Stirn. Außerdem war es eiskalt. Mein dünner Pullover klebte wie eine zweite Haut aus Eis an meinem Oberkörper. Auch meine Hose war ganz und gar nass.
Und dann war da noch der Hunger. Ich hatte ein riesiges, leeres Loch in mir und es fühlte sich einfach nur schrecklich an. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich noch nie in meinem Leben schlimmer gefühlt habe.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es mittlerweile war. Es war dunkel, aber das sollte auch nichts heißen. Zu dieser Jahreszeit wurde es früh dunkel und außerdem war der Himmel von schweren Gewitterwolken verhängt.
Ich zitterte heftig und mir war leicht übel, als ich unter großer Anstrengung den Kopf so drehte, dass ich durch das Fenster sehen konnte. Niall war da. Er sah nicht auf, sondern blätterte durch irgendein Schulbuch. Kraftlos ließ ich den Kopf wieder zurückfallen.
Dann fragte ich mich, wann sie mich wohl wieder reinlassen würden und dachte daran, wie Harry jetzt wahrscheinlich absolut zufrieden oben in unserem Zimmer saß und genugtuend die Wärme genoss.
Harry
Der Regen peitschte gegen das Fenster und ich zuckte leicht zusammen, als ein Donnern das tosende Geräusch des Regens durchdrang.
»Liam, ich muss da raus! Wir müssen ihn reinholen! Ich halte das nicht länger aus.« Schnell trat ich vom Fenster weg und war schon auf dem Weg aus dem Zimmer, als Liam sich vor mich stellte.
»Oh nein, Harry, das wirst du nicht! Louis wird schon nicht an ein bisschen Regen sterben. Er muss es lernen und einsehen, dass dieser Streit nichts Gutes für Einen von euch bringt. Und das wird er nicht, wenn du ihn aus Mitleid wieder reinholst.«
»Bitte, Liam! Was, wenn er von einem Blitz getroffen wird?« Ich wusste, dass das kompletter Schwachsinn war, wenn Louis nicht gerade auf den höchsten Baum geklettert war und seine Arme in den Himmel streckte – wozu er im Moment wahrscheinlich nicht mal in der Lage war. Aber irgendwie musste ich Liam ja überzeugen.
Der größere Junge sah mich an, als hätte ich etwas absolut Lächerliches gesagt (das hatte ich ja eigentlich auch).
»Harry, möchtest du, dass der Streit aufhört?«
Geschlagen nickte ich.
»Na siehst du! Dann lass Louis bis morgen früh draußen.«
Mir entglitten die Gesichtszüge. »Bis morgen früh?!«
Liam nickte gnadenlos und ich vergrub verzweifelt das Gesicht in meinen Handflächen.
Liam klopfte mir sanft auf die Schulter.
»Du wirst es überleben, Kleiner.«
»Ja, aber er nicht.«
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Während des Abendessens löste ich Niall unten wieder ab – er wollte auf keinen Fall eine Mahlzeit verpassen, nicht mal, wenn es um seinen Krieg mit Louis ging.
Ich sah kein einziges Mal aus dem Fenster. Ich wollte Louis nicht sehen (wenn ich das in der Dunkelheit überhaupt gekonnt hätte).
Um neun löste Niall mich wieder ab, er würde bis zur Nachtruhe bleiben. Dann würden wir Louis nicht mehr bewachen müssen, denn dann wäre hier unten eh keiner mehr.
Ich schrieb weiter an meinem Englischaufsatz, um mich abzulenken. Liam schaute ziemlich oft vorbei, um sich zu versichern, dass ich nicht an meinen Gewissensqualen starb und auch nicht nachgab und Louis doch noch reinholen würde.
Als Niall dann hochkam und ich schließlich im Bett lag, war ich noch immer so angespannt wie den ganzen Tag schon. Aber irgendwie schaffte ich es trotzdem noch einzuschlafen.
•
Halb eins wachte ich wieder auf. Alles im Zimmer war eine einheitliche, schwarze Masse. Der Regen trommelte noch immer laut gegen das Glas.
Als dann plötzlich ein Blitz das Zimmer erhellte und ich das leere Bett sah, war es bei mir vorbei. Ich sprang auf.
Ohne mir noch etwas überzuziehen, rannte ich leise durch den dunklen Gang. Ich zwang mich, nicht daran zu denken, dass ich um diese Uhrzeit eigentlich nicht raus durfte.
Ich brachte die breite Treppe innerhalb von Sekunden hinter mich. Ich brauchte kein Licht, um die Stufen zu sehen, ich könnte sie im Schlaf auf Händen hochlaufen.
Es war schwierig, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, aber ich kannte hier alles besser als meine Westentasche. Und die Sorge trieb mich an.
Mit zittrigen Fingern drehte ich den Schlüssel der Glastür herum und schwang sie dann sofort nach innen auf.
Hart schlugen mir Wind, Regen und Kälte entgegen und intuitiv schlang ich die Arme um meinen Oberkörper.
Dann trat ich ohne Zögern über die Türschwelle in die Nacht.
Ich rief seinen Namen, mehrmals. Aber ich hatte ein Gefühl, als würde der Wind meine Worte sofort davontragen. Erst als sich meine Augen endlich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich ihn.
»Louis!« Sofort stützte ich zu dem Umriss des Körpers, der nur Louis' sein konnte. Er hatte die Beine an den Körper gezogen und den Kopf auf die Knie gestützt.
Louis hob schwach den Kopf, als ich mich neben ihm auf die Knie fallen ließ. Seine Augen weiteten sich unmerklich, als hätte er nicht mehr die Kraft, noch überrascht über mein Erscheinen zu sein.
Ich brauchte ein paar Versuche, bis ich ihn endlich hochgezogen hatte. Beinahe sein gesamtes Gewicht lagerte auf mir und es erforderte alle Kraft, die ich aufbringen konnte, den größeren Körper auf den Beinen zu halten. Zusätzlich war er komplett durchnässt und ungesund kalt.
Louis versuchte halbherzig mitzustolpern, als ich ihn wieder durch die Tür zog. Einhändig schloss ich sie wieder zu und hievte Louis dann mit mir zur Treppe. Seine eiskalten Finger krallten sich in meinen Arm.
Die Treppe war die Hölle. Louis wurde mit jeder Sekunde schwerer, die Kälte seiner Haut und Kleidung brannten sich durch meinen Körper. Zweimal verlor ich beinahe das Gleichgewicht und ich war mir nicht sicher, ob wir einen Sturz überlebt hätten.
Als wir endlich mit allen Füßen in der zweiten Etage standen, hatte meine Kraft mich beinahe komplett verlassen. Zum ersten Mal verfluchte ich, dass unser Zimmer das letzte im Gang war. Ich murmelte Louis kurz zu, dass er leise sein sollte, aber er hatte bisher sowieso noch kein Wort gesagt – was mir ehrliche Sorgen bereitete.
Der Gang war mir noch nie so lang vorgekommen, aber es war auch noch nie so eine Erlösung gewesen, die Tür meines Zimmers hinter mir zu schließen.
Einige Sekunden lehnte ich kraftlos an der Wand, Louis' Gewicht noch immer auf mir. Dann sammelte ich mich nochmal, knipste den Lichtschalter an und zog Louis die wenigen Meter zu einem der Holzstühle.
Damit er nicht von der schmalen Sitzfläche kippte, baute ich zwei der anderen Stühle links und rechts von ihm auf, sodass er gezwungen war, halbwegs gerade auf seinem Stuhl sitzenzubleiben.
Als ich das endlich geschafft hatte, fiel ich erschöpft auf meine Knie und sah ihn mir jetzt zum ersten Mal richtig an.
Er hatte kein Fünkchen Spannung mehr in seinem Körper und hing in meiner Stuhlkonstruktion, als schliefe er. Ich konnte nicht genau sagen, ob er bei Bewusstsein war oder nicht. Wahrscheinlich weder das eine noch das andere so richtig.
Sein Kopf hing halb auf seine Schulter hinunter, die Haut seines Gesichtes war von einem fahlen Weiß. Seine Lippen waren bläulich und seine Augenlider flackerten auf und zu, als hätte Louis keine Kontrolle mehr über seine Muskeln. Der Rest seines Körpers ließ sich einfach mit nass und schwach zusammenfassen.
Als ich dann wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, rappelte ich mich schnell vom Boden auf und lief zu dem in der Wand eingelassenen Schrank. Mit Augen und Fingerspitzen überflog ich seine Kleidung und zog dann seine bequemste Hose und den Pullover, der am wärmsten aussah, heraus. Weil seine Socken alle nicht sonderlich warm aussahen, griff ich einfach in mein Sockenfach und warf dann die ausgewählte Kleidung neben Louis auf den Boden.
Es fühlte sich ewig lang an, bis ich den nassen und klebrigen Pullover über Louis' Kopf gezogen hatte. Sein nackter Oberkörper glänzte von der Nässe und eine Gänsehaut erstreckte sich von seinen Armen über seinen Nacken und seinen Rücken hinunter. Ich legte ihm erstmal ein Handtuch über die Schultern und begann dann, seine Hose auszuziehen.
Glücklicherweise hatte der feste Stoff der engen Jeans Louis' Boxershorts ganz gut vor der Nässe geschützt. Sie waren nur ein wenig klamm und ich ersparte mir, sie ihm auch noch auszuziehen.
Als Louis dann halbnackt vor mir saß, war ich für einen winzigen Moment gefesselt von seinem Körper. Egal wie kraftlos er im Moment war, er war noch immer wunderschön. Aber als Louis von einem blitzartigen Zittern geschüttelt wurde, ermahnte ich mich und zog ihm schnell die Hose, den Pulli und drei Paare Socken über.
Dann brachte ich ihn zu seinem Bett, legte ihn hin und deckte ihn zu. Ich nahm seine Hände in meine, denn auch wenn meine kleiner waren, waren sie warm. Vielleicht konnte ich seine nur ein wenig aufwärmen. Das schuldete ich ihm. Ich fühlte mich unglaublich schlecht. Es war zwar nicht meine Idee gewesen, ich war es auch nicht gewesen, der Louis auch bei dem Unwetter noch draußen behalten wollte. Aber ich hatte zugestimmt. Ich hatte nicht widersprochen. Brennend bildeten sich Tränen in meinen Augen.
»Es tut mir leid, Louis.«, flüsterte ich und strich weiter mit meinem Daumen über seine kalte Handfläche. Plötzlich zuckten seine Mundwinkel und ein schwaches Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht.
»Immer noch die gleiche Heulsuse«, sagte er mit schelmischem Blick und müder Stimme, während seine Augen halb geöffnet waren. Es hörte sich beinahe liebevoll an und mit leisem Schluchzen lachte ich erleichtert, während die Tränen über meine Wangen rannen.
Ich sah dabei zu, wie sich seine Augen langsam schlossen und dann war ich mir sicher, dass er komplett weg war. Sanft schob ich seine Hände auch unter die Decke und stand dann auf, um das Licht auszumachen.
Als ich wieder in meinem Bett lag und auch Louis in der Wärme war, hörte sich das Trommeln des Regens nur noch halb so laut an.
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