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Louis
Laut Harry war er selbst zwei Minuten zu früh, ich drei zu spät.
Es hätte eine Lüge sein können, denn ich schenkte der digitalen Uhrzeit auf dem kleinen Sicherheits-Display neben der Haustür keine Aufmerksamkeit. Drei Minuten zu spät unten in der Eingangshalle, meinen halbvollen Schulrucksack geschultert, diverse Schlüssel fürs Auto, die Garage und das Haus in meiner Hosentasche. Keine Ahnung, wie Harry mit seinem Riesengepäck vor mir fertig geworden war, aber hier stand er; gegen das Fenster neben der Tür gelehnt und mit einem Bein auf dem bunten Koffer, die knöchelhohen Boots bereits an den Füßen. Wüsste ich nicht, dass es Abfahrt bedeutete, wäre der Anblick perfekt gewesen.
»19:34 Uhr.«, sagte Harry mit einem weiteren Schulterblick. »Jetzt sind es schon vier Minuten. Deine Schuhe, Louis.«
Ich nickte und schlüpfte in meine Vans, auch wenn ich noch die ganze Nacht hier hätte stehen können, ohne meine Schuhe anzuziehen. Wenn das genug war, um uns vom Aufbruch abzuhalten, wäre ich den Rest meines Lebens barfuß gelaufen. Aber wir mussten zurück. Dieses Wochenende war Ausnahmesituation genug gewesen, vom ersten Detail an. Ich wollte Evelyns Vertrauen nicht dadurch brechen, dass wir durch eine verspätete Rückkehr das letzte Versprechen in den Wind schlugen.
»Bist du bereit?«, fragte ich also und ließ Harry den Vortritt. Er ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Eingangshalle wandern, bevor er über die Türschwelle nach draußen trat, als wäre die Innenarchitektur meines Hauses die wichtigste Erinnerung an die vergangenen Tage.
»Bereit für etwas, das ich noch nie gemacht habe?«, fragte er spielerisch.
Ich zog die Haustür von außen zu, weniger grob, als ich es von mir erwartete hätte. »Macht keinen Sinn, Harry.« Die Temperatur draußen war erstaunlich gefallen innerhalb der letzten halben Stunde, seitdem wir aus der Stadt zurückgekehrt waren. »Du hast es schon gemacht. Du bist schon mal in einem Auto gefahren. Und ins Internat zurückgekehrt.«
Harry war mit seinem schweren Koffer etwas langsamer als ich. Ich wartete am Fuß der Treppe auf ihn. »Nein, Louis.«, widersprach er mit breitem Grinsen auf dem Gesicht. »Ich hab noch nicht in einem Auto gesessen, seit ich keine Jungfrau mehr bin. Oder bin ins Internat zurückgekehrt. Alles ist anders. Ich bin ein neuer Mensch.«
Ich stoppte das unterdrückte Prusten erst nach ein paar Sekunden und versicherte mich, dass Harry sehen konnte, wie ich die Augen verdrehte. »Schon klar, Haz.«
»Du bist nur neidisch.«
Mit geübten Fingern schloss ich die Garage auf. »Ich schätze, du könntest dich daran erinnern, dass ich auch keine Jungfrau mehr bin, Harry.« Ich schlüpfte aus den Armschlaufen meines Rucksacks und stellte ihn auf dem Boden ab. Bittend präsentierte ich Harry den schwarzen Autoschlüssel auf meiner offenen Handfläche. »Kannst du unsere Taschen verstauen? Ich sichere alles ab.«
»Mhm.« Er nahm mir die Autoschlüssel ab, mit einem elektrischen Signal und orangenem Licht öffnete das Fahrzeug sich.
Ich verließ die Garage wieder. Mit zügigem Schritt klapperte ich alle Sicherheitskästen an der Außenwand des Hauses ab und brachte die Haus- und Garagenschlüssel zurück in ihre elektronisch gesicherten Verstecke. Ob alle Fenster auch ja geschlossen waren, kontrollierte ich nicht mehr. Sollten die Einbrecher doch kommen. Außerdem würden meine Eltern bald zurück sein.
»Alles klar?«, fragte ich, zurück in der Garage. Harry lehnte am glänzenden Lack des Autos, die Fahrer- und Beifahrertüren waren zum Lüften geöffnet, als wäre es ein heißer Sommertag.
»Wenn alles abgesichert ist, dann ja.« Er wartete darauf, dass ich als erster einstieg. Ich schlug mich auf die rechte Seite des Autos und rutschte auf den Sitz hinterm Lenkrad.
»Alles abgesichert.«, bestätigte ich, ohne einen zweiten Gedanken an die Fenster.
Vorsichtig kletterte Harry auf den Beifahrersitz neben mir. Er benötigte fast eine Minute, um eine Position zu finden, die ihn nicht das Gesicht verziehen ließ. Endlich entspannten sich seine Finger am Rand des eingelassenen Getränkehalters.
Ich schmunzelte und brachte meine Tür mit dumpfem Schlag zum Schließen. Wie ein Echo zog auch Harry seine Tür zu. Ich wollte den Motor nicht starten oder das Auto bewegen oder wissen, dass unser nächstes Ziel der gewöhnliche Alltag war. Aber ich tat all diese Dinge trotzdem. Langsam ließ ich das Auto aus der Garage rollen und das Fenster mit leisem Surren hinunterfahren. Mit gehobenem Finger wartete ich darauf, dass sich das Garagentor automatisch schloss und dann, mit einem Klicken, verriegelte. Ich ließ das Fenster wieder hochfahren und schloss die Außenwelt aus. Das Rascheln der Blätter im Wind verstummte, wir atmeten die Luft des anderen.
»Radio?«, fragte ich in die motorsummende Stille. Harrys Mundwinkel verrieten mir, dass er nicht mehr in Plauderlaune war. Er wollte so wenig zurück wie ich. Während ich uns vom Grundstück auf die leere Straße lenkte, beugte er sich vor und drückte einen der runden Knöpfe. Die Stimme irgendeines schottischen Studiogastes drang aus unsichtbaren Lautsprechern, begleitet von hellem Frauenlachen.
Ich bremste sanft, als wir uns endgültig auf der Straße befanden. Harry sah aus dem Fenster, ich ließ sein Profil verschwimmen und musterte, wovon ich wusste, dass er gerade versuchte, es in sein Gedächtnis zu hämmern. Fast konnte ich die Villa mit seinen Augen sehen. Die Sonne stand hoch genug über dem Horizont, um die weiße Hauswand noch nicht in goldenes Rot zu tauchen. Harry würde diesen Ort vermissen und die Vermutung, dass es auch mir dieses Mal genauso gehen würde, wollte mich nicht loslassen. Donnerstag bis Sonntag, länger waren wir nicht hier gewesen. Ich hatte sein Gesicht einstürzen sehen; ertränkt in Tränen und Schmerz, dann glänzend vor Schweiß aus der Hitze unserer aneinandergepressten Körper. Es schien unmöglich, nach 18 vergangenen Jahren, aber vielleicht hatte Harry es geschafft, London seines zu machen.
Ich warf einen Blick in die Spiegel. Keine Menschenseele verließ in diesem Stadtviertel an einem Sonntagabend dieser Uhrzeit sein Haus und das weinbegleitete Abendessen.
»Bereit.«, murmelte Harry, als hätte er die Antwort auf meine Frage jetzt erst gefunden.
»Okay.« Ich nahm den Fuß von der Bremse. »Dann mal los.«
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Am schrecklichsten war der Fakt, dass ich ganz genau wusste, dass wir hätten bleiben können. Harry konnte so viel über Evelyns Bestrebungen zu Gerechtigkeit reden wie er wollte; es änderte nichts daran, dass sie Harry trotz allen Wunsches nach Unparteilichkeit eben doch mehr liebte als den Rest der Schülerschaft, und alles für ihn tun würde. Woher ich das wusste, obwohl ich ihr nicht mal gegenüber gestanden hatte, seit ich überhaupt wusste, was sie für Harry war? Ich saß gerade in ihrem Auto. Sie hatte mir ihr Auto gegeben, nur um Harry ein bisschen durchs Land zu chauffieren – und ihn glücklich zu machen. Natürlich hätte sie uns noch länger in London bleiben lassen, wenn ich sie nur angerufen und darum gebeten hätte. Besonders nach der ganzen Sache mit den Kerzen. Und wen interessierte schon der Unterricht? Ich hätte beide meine Hände dafür ins Feuer gelegt, dass sie uns länger hätte bleiben lassen.
Und trotzdem hatte ich mich dagegen entschieden. Zuallererst, weil Harry sich geweigert hätte. Ganz egal, wie sehr er sich danach sehnte, London nie wieder zu verlassen; er hätte sich nicht zum Bleiben überreden lassen. Und außerdem... Ich wusste, dass wir zurückmussten. Nicht wegen des Unterrichts. Oder wegen Niall und Liam. Oder wegen Zayn, den wir hoffentlich bald ohne Rückflugticket in einen Flieger nach Paris setzen würden. Oder wegen meiner Eltern, oder der englischen Weite, oder unseres Zimmers. Wir mussten ganz einfach zurück, weil die Zeit uns davonlief.
Wie die Ironie es wollte, hatte ich entdeckt, dass es in London einen London-Harry gab; der wie ein Lottogewinner – ha! – lächelte, mit mir schlief, weil er mich liebte und um des Sexes willen, und mich mit dem pausenlosen Blitzen seiner Polaroidkamera früher oder später erblinden lassen würde. London-Harry war kein anderer Mensch, aber er hatte andere Möglichkeiten.
Doch jetzt mussten wir zurück ins Internat. Ich hatte noch ein Jahr und ein paar Monate, um Harry dort zu erleben. Zu leben. Dass ich nicht nur für den Rest dieses Schuljahres an der Privatschule bleiben würde, stand längst fest. Und danach...danach könnte ich London-Harry für den Rest meines Lebens haben.
Ich lockerte meinen Griff ums Lenkrad. Der Rest meines Lebens war etwas, das sich bei Zusammenfassung so falsch in meinem Kopf anfühlte. Aber wunderbar mit Harry. Ich war jung und dumm und naiv und würde garantiert so bald keine voreiligen Entscheidungen treffen, aber es war die Möglichkeit, die sich gut anfühlte. Wenn Harry der Rest meines Lebens war, dann war er meine ein bisschen weniger beängstigende Zukunft. Ich wollte ganz einfach nicht, dass er zu meiner Vergangenheit wurde. Und das würde ich auch nicht zulassen, solange Harry sich von mir halten ließ.
Zukunft und Zukunft und Zukunft; das war der Rest meines Lebens. Ich mochte nur beschränkte Macht und Einfluss über sie haben, aber ich würde dort ankommen. Und wenn ich auch nur einen winzigen Teil meines Herzens auf der Zunge tragen würde, dann vielleicht mit Harry an meiner Seite. Wenn er das wollte. Ich warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
Zu meiner Überraschung hatten seine großen Augen mich schon ins Visier gefasst. Er blinzelte, erschrocken durch das plötzliche Alles meines Gesichtes. Dann lächelte er. Ich musste meine visuelle Aufmerksamkeit wieder der Straße zuwenden.
»Worüber denkst du nach, Harry?«, fragte ich, nicht viel lauter als die dudelnde Melodie eines Liedes, das älter als Harry und ich zusammen war. Es war ein seltsamer Sender, so willkürlich, dass es unmöglich für mich war, mir Evelyn vorzustellen, wie sie erst eine Klavierballade und drei Minuten später einen Reggae-Remix genoss.
Harry ließ sich Zeit mit der Antwort und ich wartete geduldig auf die ihm so gut wie möglich ausformulierten Worte. Aber als er sprach, ließ er mich ein wenig hängen. »Ich weiß es nicht genau.« Verkreuzt platzierte er seine Handflächen lose auf seinen Oberschenkeln. »Über alles, schätze ich.«
Auch wenn das keine besonders hilfreiche oder verständliche Auskunft gewesen war, nickte ich. Harry räusperte sich leise, die Augen jetzt auf das dunkle Nichts hinter den etwas milchigen Fensterscheiben fixiert. »Was ist mit dir? Worüber denkst du nach, Louis?«
»Hmm.«, summte ich leise und musterte den hinter uns liegenden, nur durch einen roten Lichtkegel erhellten Straßenverlauf im Rückspiegel. »Über dich und mich.«
»Aha.«, er bemühte sich, beiläufig zu klingen, aber die unterdrückte Neugier war nicht schwer herauszuhören. »Und zu welchen interessanten Schlüssen kommst du bezüglich dir und mir?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau.«, bat ich ihm seine eigene Antwort an. »Ich versuche, die Zukunft zu verstehen.«
»Die Zukunft, in der wir miteinander schlafen werden, ohne, dass das ganze Internat davon wachgehalten wird?«, er drehte das Radio etwas leiser, als eine monotone Männerstimme begann, irgendwelche Zuhöreranekdoten zu teilen. »Das ist nämlich die Zukunft, die ich zu verstehen versuche.«
So gut es ging versuchte ich, mein Grinsen auf den von Harry abgewandten rechten Mundwinkel zu beschränken. »Und zu welchen interessanten Schlüssen kommst du bezüglich dieses Themas?« Ich setzte einen Blinker, auch wenn es sich anfühlte, als wären wir das einzige Auto auf der Welt. Nur für ein paar Sekunden konnte ich das geöffnete, rostrote Metalltor erahnen, das wir passierten. Mir war klar, dass es um diese Uhrzeit nur noch für uns beide offen stand.
Das Knirschen der breiten Räder auf dem Kies war für einen Augenblick betäubend. Nicht die Lautstärke, aber die Tatsache, dass wir beide wussten, auf welchem Grundstück wir uns jetzt befanden. Ich hörte Harry lauter als zuvor ausatmen.
»Zu keinen so wirklich bisher.«, gab er schließlich zu, aber ich hatte die gestellte Frage schon wieder vergessen. »Außer, dass es gut ist, dass Zayn wohl der einzige sein wird, der uns nicht hören kann. Sein Zimmer ist zu weit weg.«
»Das ist schade.«, ich kniff meine Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit vor uns. Aus Erfahrung wusste ich mittlerweile, dass der baumgesäumte Kiesweg sich fast einen Kilometer erstreckte, bis er das Internat erreichte. Ich fuhr langsam.
»Wieso das?«, fragte Harry skeptisch. Er warf mir einen fragenden Blick zu und ich wollte ihn erwidern, aber ich hätte sowieso nicht viel erkannt.
»Weil Zayn der einzige ist, den ich gerne hören lassen würde, wenn wir Sex haben.«, erklärte ich fachlich. War doch ganz logisch. »Jedes einzelne Mal.«
»Ich weiß nicht, ob mir die Vorstellung so gut gefällt.«, bemerkte Harry mit noch mehr Skepsis und ich hatte keine Schwierigkeiten, seine gerümpfte Nase herauszuhören.
»Mir schon.«
»Hm.«
Hohe Bäume säumten den Weg wie blasse Geister mit schwarzen Kronen aus ausgelaufenen Gedanken. Ich fragte mich, ob wir schon auf der Höhe des Sees waren. Im Radio begann ein Dudelsack zu spielen. Dieser irre Sender. Für eine Weile lauschten wir beide dem einsamen Instrument.
»Lou?«, fragte Harry, als nach einer Minute eine Flöte eingestiegen war und die Illusion zerstörte.
»Ja?« Es konnte nicht mehr weit sein.
»Ich hab etwas aus deinem Haus gestohlen.«
Ich versuchte, die Umrisse des Internates irgendwo vor uns zu erahnen, aber es war unmöglich. Auf dem Weg nach Norfolk hatte sich der Himmel komplett zugezogen. Kein einziger Stern blinzelte durch die unsichtbare Wolkendecke. Es hätte so gut Neu- wie Vollmond sein können. Wahrscheinlich waren wir noch nicht mal über den letzten Hügel hinweg.
»Ich weiß, Harry.«, seufzte ich. »Aber ich hatte nicht Zahnpasta gemeint, als ich von Bonnie und Clyde geredet habe.«
»Woher weißt du, dass es Zahnpasta ist?«, fragte er und ich wollte nicht glauben, dass es ehrliche Überraschung in seiner Stimme war.
»Woher?! Erinnerst du dich nicht mehr an heute Morgen?« Er schwieg, was entweder ein ›Nein‹ oder – sehr viel wahrscheinlicher – ein ›Ach ja, stimmt. Oops‹ war. Wie auch immer; ich half ihm auf die Sprünge. »›Ich liebe deine Zahnpasta, Louis.‹«, imitierte ich seine Stimme so gut ich konnte. »›Am Anfang war ich mir nicht sicher, weil sie so anders ist. Aber ich liebe sie.‹ Und zwei Minuten später:›Denkst du, es ist Diebstahl, wenn man weiß, dass es den Besitzer nicht stören würde?‹ Du bist nicht ganz so subtil, wie ich mir das wünschen würde. Du hast noch so einiges zu lernen, Harry.«
»Ich hab's versucht.«, murmelte er leise. »Nächstes Mal stehle ich dein Bett. Das hat mir nämlich auch gefallen.«
»Ist gut. Aber nur, wenn ich Teil des Deals bin.«
»Abgemacht.« Harrys Finger streiften meinen Oberarm fast unmerklich. »Glaubst du, deine Eltern würden die Polizei rufen, wenn sie herausfänden, dass ich Möbel aus ihrem Haus stehle?«
Im Nebel von Himmel-Erde tauchten die Sterne der Wolkennacht auf. Gelb und viereckig waren die Fenster des Internats die blasseste Erinnerung an die Lichter der Hauptstadt. Die Küche war hell erleuchtet, aber nur erstaunlich wenige der Schülerzimmer wurden von ihren Lampen aus den kaum auszumachenden Mauern des hohen Gebäudes erhellt. Harry sagte nichts.
»Meine Eltern«, erwiderte ich also, um uns von der Tatsache der Rückkehr abzulenken, während wir auf die schleifenförmige Auffahrt rollten, »würden die Polizei höchstens anrufen, um privates Sicherheitspersonal anzustellen, das dich und deine Bankkonten beschützt.« Ich ließ das Auto zum Stehen kommen. Von hier aus konnten wir die breite Treppe im verlorenen Licht der Fenster erkennen. Sie war nah. »Du könntest stehlen, was du willst. Nur du selbst darfst nicht gestohlen werden. Nicht ihr wertvoller Harry Selley.«
Ich schnallte mich ab. Harrys beharrliches ›Styles‹ blieb aus. Verwirrt sah ich zu ihm hinüber. Wie hypnotisiert klebte sein Blick an der halb in der Nacht versteckten Schule. Seinem halb in der Nacht versteckten Zuhause. Wir waren zurück.
Ich wollte ihn in den Arm nehmen, aber jetzt mussten wir erstmal zurück ins Internat. Die kleine, digitale Uhr am Armaturenbrett verkündete 21:54 Uhr. Wir waren pünktlich; zurück vor der Nachtruhe, wie versprochen. Ich zog den Schlüssel ab, die Scheinwerfer gaben der Schwärze Raum, Motor und Radio verstummten. Stille umarmte uns wie Schlaf.
Etwas blind tastete ich nach dem Türgriff, aber erschrak, als Harrys zu laute Stimme mich stoppte.
»Halt!«
Ich zuckte zurück. Die Tür blieb geschlossen. Ein Klicken ertönte, als auch Harry sich abschnallte.
»Was ist los, Harry?«
Ich bekam keine Antwort. Stattdessen wurde mir ein Ellenbogen in die Seite gestoßen. Harry hatte seine Beine auf den Sitz gezogen und sah ganz danach aus, als würde er jetzt versuchen, auf dem Sitzpolster auf seine Füße zu kommen.
»Harry, was zur Hölle wird das?«
»Steig nicht aus, Louis.«, zischte er mir konzentriert zu. Ich war viel zu beschäftigt damit, seine gequetschten, unförmigen Bewegungen mit offenem Mund mitzuverfolgen, als dass ich hätte aussteigen können. Er hatte es irgendwie geschafft, jetzt mit eingeknicktem Kopf auf dem Sitz zu hocken. Seine Hände fanden an seinem Fenster und meiner Kopfstütze Halt. Kurz war es still. Staunend bewunderte ich seinen unerklärlichen Umriss.
Dann ging die Tortur weiter. Bevor ich wusste, was geschah, befand sich einer von Harrys Füßen auf meinem Sitz. Ich rutschte ein paar Zentimeter weiter nach rechts, weg von seinem Fuß, als ich begriff, was er hier unternahm. Es war zu spät, um ihn aufzuhalten.
Mit unterdrückten Geräuschen, die seine blauen Flecken am nächsten Tag schon ankündigten, kletterte er ungelenk über...alles, worüber man in einem Auto nicht klettern sollte und fiel schließlich neben mir auf den Fahrersitz. Ich schnappte fassungslos nach Luft, als ich plötzlich gegen die Tür zu meiner Rechten gepresst wurde. Unsere Hüften und Schultern waren wie in einem Schraubstock zwischen Schalthebel und Fahrertür eingespannt.
»Harry«, sagte ich mit ein wenig gezwungener Ruhe, als ich verstanden hatte, wie ich Luft holen konnte, »ich werde Evelyn klarmachen, dass es ihr Patensohn war, der ihr Auto kaputt gemacht hat. Dass ich nichts damit zu tun hatte!«
Sein Kopf sank auf meine Schulter. »Okay.«
»Was soll das hier werden? Was war dein Plan?«
Seine Stimme war noch schöner in der Dunkelheit und ein wenig hasste ich ihn dafür. »Ich will nicht aussteigen.«, murmelte er.
Mit ein bisschen Gewalt zog ich meinen linken Arm zwischen unseren Körpern hervor. Ein winziger Bruchteil des Drucks löste sich. »Ich habe Evelyn garantiert, dass wir vor der Nachtruhe zurück sein werden.«
»Ich weiß.«, versicherte er leise. Seine Locken kringelten sich weich gegen meinen Hals. »Und wir werden vor der Nachtruhe zurück sein.«, versicherte er beruhigend.
»Ach ja?« Mit meiner freien Hand malte ich eine dünne Linie auf seinen Oberschenkel. »Dann sollten wir jetzt los.«
Er drehte seinen Kopf so, dass er die Uhr sehen konnte. Das einzige, dass auch nach Abziehen des Schlüssels noch schwach leuchtete. Vier kleine Ziffern in der Schwärze. 21:56 Uhr. »Nein. Wir haben noch drei Minuten.«
»Drei Minuten? Drei Minuten bis 59? Und dann?«
»Dann springen wir auf, sprinten aus dem Auto, die Treppe rauf, hinein ins Internat und ab in unser Zimmer. Tadaa, wir sind pünktlich wieder zurück.«
Ich lachte ungläubig, malte die unsichtbare Linie in die andere Richtung. »Was ist mit dem Gepäck?«
»Brauchen wir nicht, das können wir morgen früh noch holen.«, erklärte er sanft.
Ich unterdrückte ein Seufzen. »Wozu, Harry? Für mich ist das hier nicht besonders bequem, also muss es für dich noch schlimmer sein.«
Für ein paar Sekunden hörte ich nur die leicht versetzten Atemzüge unserer Lungen in den viel zu gequetschten Brustkörben. »Du hast recht.«, räumte er dann ein. »Es ist nicht besonders bequem. Gib mir einen Augenblick.«
Wieder hatte ich keine Zeit zu protestieren, bevor es nicht schon wieder vorbei war. Mit leichtem Ächzen hatte Harry sich aus den Hochdruckfesseln seiner Position befreit und war seitlich auf meinen Schoß gerutscht. Erleichtert schob ich mich wieder ein bisschen mittiger auf meinen Sitz – mit der größten Mühe, Harry nicht als nächstes hinterm Lenkrad einzuklemmen.
Er küsste meine Nasenspitze. Ich wollte mich vorbeugen und seinen Mund küssen, aber er hatte seinen Kopf schon wieder weggezogen, um ihn halb gegen meine Kopfstütze, halb gegen meinen Hals zu lehnen. Meine Lippen streiften seine Augenbraue.
»Wie lange?«, flüsterte Harry, sein Atem warm gegen die wenige Haut, die der Ausschnitt meines Shirts entblößte.
»Zwei Minuten«, berichtete ich mit einem Blick auf die Uhr. 21:57 Uhr. »Wozu dieser Countdown, Harry?« Mit der linken Hand strich ich ihm durch die seidigen Haare. Und wartete auf seine Antwort.
»Weil ich nicht will, dass es vorbei ist.«, hauchte er so zart, dass ich ihn fast nicht gehört hätte.
»London?«, fragte ich sanft nach.
Er nickte leicht, seine Schläfe streifte mein Ohr. »London. Das Wochenende. Alles.«
»Es wird nicht alles vorbei sein, Haz.« Ich flüsterte jetzt ebenfalls. Das Gewicht von seinem Körper war schwer gegen meine Brust.
»Ich weiß.«, flüsterte er zurück. Wir waren alleine hier und niemand konnte uns hören, aber es fühlte sich plötzlich richtig an. »Ich will es trotzdem genießen. Diese zwei Minuten, ja?«
Ich drehte meinen Kopf vorsichtig und küsste ihn hoch auf den Wangenknochen direkt unter seinem Auge. »Ist gut.«
Ohne es sehen zu können, spürte ich, wie die Finger von Harrys linker Hand die meiner rechten fanden und sie miteinander verflochten.
»Ich möchte dich küssen, Harry.«, hauchte ich, weil ich keine Hand frei hatte, um sein Gesicht zu meinem zu führen.
Er hob den Kopf und lächelte ein in der Dunkelheit verwaschenes Lächeln. »Küss mich, Lou.«
Also küsste ich ihn, und er küsste mich. Wie ganz am Anfang, wie im Januar. Wie im Februar, im März, im April, im Mai. Und wie im Juni, im Juli, August, September, Oktober, Dezember. Ich konnte nicht darauf warten, Harry zum ersten Mal im Herbst zu küssen. Rotwangig und perfekt.
21:58 Uhr. Ich fing die Uhrzeit mit den Augen auf und löste mich von Harrys Lippen.
»Eine Minute.«
»Eine Minute.«, wiederholte Harry. Ich wusste, dass er versuchte, Enden zu begreifen. Es erschien mir unvorstellbar, dass wir in weniger als sechzig Sekunden draußen durch die Kälte der Nacht laufen – und ziemlich wahrscheinlich stolpern und uns irgendwas brechen – würden.
»Glaubst du, Niall schläft schon?«, fragte Harry leise. Ich war überrascht, dass er nicht auch in der Dunkelheit ganz genau ausmachen konnte, welches der beleuchteten oder nicht beleuchteten Zimmer Nialls war.
»Nein.«
»Glaubst du, Liam schläft schon?«
»Nein.«
»Wieso?«
Ich atmete tief ein; den Geruch von Harry und mir und Evelyns Auto. »Weil ich absolut sicher bin, dass die beiden sich in unser Zimmer geschmuggelt haben und uns für unsere Rückkehr auflauern.«
Ganz leise, so leise, dass es ein Traum sein könnte, lachte Harry. »Ich glaube, du hast recht.« Er drückte meine Finger mit seinen fester.
Ich lächelte eines der seelenruhigen Lächeln, die Harry mir beigebracht hatte; weich in den Wangen. Es war kein Ende. Aber das wussten wir beide so genau, dass wir tun konnten, als wäre es eines. Eine Illusion für schläfrige Herzen.
Ich musste ihm nicht mal sagen, dass ich ihn liebte. Liebe wurde nicht durch Worte wahr. Worte mochten viele Dinge tun können, aber letztendlich waren sie nur das. Worte.
Für einige Sekunden schloss ich die Augen, um all das zu spüren, was ich jeden Tag in drei kleine Worte verpackte. Es hätte mein Herz gebrochen; das schwächliche Unrecht meiner Zunge, wenn ich nicht gewusst hätte, dass Harry mich verstand. Weil er all das auch spürte.
Ich öffnete die Augen. Die Welt war noch da.
»Harry?«
»Ja?«
Die letzte Ziffer war umgesprungen. 21:59 Uhr. Ich drückte Harrys Hand.
»Jetzt.«
• Ende •
Ich will mein Dankeschön kurz fassen, denn sonst liest es keiner.
Es hätte mich in die Sterne katapultiert, wenn auch nur eine einzige Person die Geschichte gelesen hätte. Du bist diese Person und dafür möchte ich mich mit jedem Lächeln, das du ausgelöst hast, bei dir bedanken.
Zahlen bedeuten nichts, aber ihr bedeutet etwas. Vielen, vielen Dank an jeden von euch! Selbst wenn ihr weder gevotet noch kommentiert habt. Selbst wenn ihr alle Kapitel nur überflogen habt, bis ich endlich Smut abgeliefert habe. Selbst wenn ihr nur geblieben seid, weil ihr gehofft habt, dass Harry doch ein Prinz ist, oder arm, oder top (keine Ahnung, wer an Harrys bottomness gezweifelt haben könnte, aber man weiß ja nie). Es bedeutet mir mehr, als ich sagen kann, dass ein paar meiner Worte es in die Köpfe anderer Menschen geschafft haben. Danke. Aber ein besonderes Dankeschön natürlich an diejenigen, die gevotet und kommentiert und diese Geschichte nicht am Leben gehalten, aber lebendig gemacht haben.
Vielleicht liest man sich in meiner neuen Geschichte wieder (das erste Kapitel habt ihr jetzt). Oder vielleicht niemals. Und hoffentlich niemals in meinen alten Geschichten.
Aber Dankeschön für alles, und dass ihr hier wart. Das Internet ist groß, und nicht real, deswegen bedeutet es mir noch mehr.
Danke.
♡
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