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Louis
Natürlich. Die einzige Sache, auf die ich mich verlassen hatte. Verdammt. Ich hätte es wissen müssen. Eine Konferenz auf dem verfluchten Guernsey.
Ich drehte mich schnell wieder zu Harry um. Er war jetzt ebenfalls aufgestanden. Überfordert und verunsichert sprang der Blick seiner grünen Augen über mein Gesicht. Wieder formte er fragend meinen Namen mit seinen Lippen, dieses Mal ganz, ohne ein Geräusch zu machen. Ich überbrückte den Abstand zwischen uns und umfasste seine Unterarme.
»Es tut mir so leid, Harry.« Ich lehnte meine Stirn gegen seine.
Er blinzelte verloren. »Was ist los, Louis?«
Ich seufzte leise. Bevor ich antworten konnte, hob Harry alarmiert den Kopf. Jetzt hatte auch er die Geräusche an der Eingangstür gehört.
»Es sind meine Eltern.«
Überrascht öffnete er den Mund. Sein Blick legte sich auf die angelehnte Tür in meinem Rücken. Die vollen Lippen schienen mit ein paar Bewegungen Worte zu suchen, aber schließlich schloss er den Mund wieder.
»Ja, ich weiß.« Die Stimme meiner Mutter drang jetzt aus der Eingangshalle, aber ich fuhr weiter fort. »Es tut mir leid, Haz. Ich hab keine Ahnung, wieso sie hier sind. Ich würde uns wegbeamen, wenn ich könnte.«
Doch Harry schüttelte den Kopf, nachdem er seine Gedanken kurz gesammelt zu haben schien. Er sah flüchtig an sich hinab. »Lass uns Hallo sagen.«
Ich hätte gerne verneint und wäre aus dem Fenster geklettert, um dieser Situation zu entkommen, aber mir war bewusst, dass es keinen realistischen Umweg um diese Sache gab. Meine Eltern waren hier, Harry war hier. Auf in die Schlacht.
Ich drückte Harry einen Kuss auf den Mundwinkel. War es eine weitere Entschuldigung? Oder eine Ermutigung? Ich wusste es nicht. Ich wollte den Taxifahrer vor unserem Haus dafür bezahlen, dass er meine Eltern so weit wie nur irgendwie möglich wegfuhr – das war alles, was ich sagen konnte.
Doch auch das war nicht wirklich eine Option. Also atmete ich kurz durch. Harry hatte gestern Abend die beängstigende Panikattacke überstanden. Dann würden wir auch das hier überleben.
Ich zwang mich aufzusehen, als wir aus der Tür zum Esszimmer traten. Harry neben mir hatte die Hände vor seinem Körper gefaltet. Beide unsere Blicke lagen auf den Eindringlingen, die einige Meter entfernt von uns ihre Koffer ins Haus schafften.
Es war meine Mutter, die als erstes ihren Kopf hob und innehielt. Ich konnte sehen, wie sie die Augen zusammenkniff. Dann hellte ihr Gesicht sich auf.
»Louis!« Sie hatte die Halle schneller durchquert, als ich blinzeln konnte. »Du bist zuhause! Was für eine schöne Überraschung!« Ja, was für eine schöne Überraschung.
Mein Vater kam stirnrunzelnd neben meiner Mutter zum Stehen. »Miss Carter hat uns nicht über freie Tage informiert. Sag bloß nicht, es geht wieder mit den Streiks los. So viel wie wir für diese Schule bezahlen, müssten die Lehrer in Geld schwimmen.«
Ein hartnäckiges Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Ich wollte weglaufen. Meine Mutter warf meinem Vater einen flüchtigen, zurechtweisenden Blick zu. »Und du hast einen Mitschüler mitgebracht!«, fuhr sie mit neugierigem Blick auf Harry fort. Mein Magen drehte sich um. »Ich finde wirklich, sie sollten die Streiks vorher wenigstens ansagen. Aber ich kann mir schon denken, wer du bist. Der nette, irische Junge, den Miss Carter erwähnt hat! So spontan hat sich sicherlich kein Flug nach Irland finden lassen, hm? Ich bin sehr froh, dass du so besonnen warst und deinem Freund angeboten hast, mit herzukommen, Louis!«
»Mum.« In meinen Ohren pochte mein eigener Herzschlag. Ich holte Luft. »Er ist nicht nur ein Freund. Wir sind... Er ist mein fester Freund.« Ich betete, dass ich mich nicht anhörte, als wäre ich betrunken. Denn so fühlte ich mich. Ich nahm Harrys Hand und suchte in seinem Gesicht die Kontrolle, die sich mir so schnell entzogen hatte. »Möchtest du dich vorstellen?«
Auch wenn ich es nicht wollte, musste ich meine Eltern ansehen. Mein Vater hatte eine Augenbraue hochgezogen, meine Mutter sah überrascht zwischen Harry und mir hin und her. Ein kleiner Stein fiel mir vom Herzen, auch wenn sie noch kein Wort gesagt hatten. Immerhin waren noch keine Möbel geflogen.
»Harry«, seine Stimme war unbesorgt und höflich. Mehr Erleichterung durchfloss meine Adern. Charisma. Ich hatte ganz vergessen, dass Harry ein Engel war, dessen größtes Talent war, Leute für sich zu gewinnen.
Doch mein Vater räusperte sich unbeeindruckt. Schnell drückte ich Harrys Hand. »Nachname«, erklärte ich leise. In unseren Gesellschaftskreisen war ein Vorname keine Vorstellung.
»Styles.«, setzte Harry eilig hinzu. Er lächelte entschuldigend. »Harry Styles.«
Meine Eltern wechselten einen vielsagenden Blick – der entweder bedeutete, dass sogar meine Eltern mehr über die Familie meines festen Freundes wussten als ich oder dass der Name ihnen unbekannt war und sie sich wünschten, ihr einziger Sohn würde seine neuen homosexuellen Bedürfnisse wenigstens mit einem bedeutenden Mitschüler ausleben. Schwer zu sagen.
Ich versuchte, die letzten Reste des überwältigenden Kribbelns abzuschütteln. Es war raus. Kein Grund mehr, nervös zu sein. »Wir sind als Harrys Geburtstagsgeschenk hergekommen.«, begann ich drauflos zu reden, um die Stille nicht unangenehmer werden zu lassen. »Mein Geschenk. Alles von Evelyn abgesegnet, also kein Grund, die Polizei zu rufen. Und das fremde Auto in der Garage bitte nicht abschleppen lassen. Wir bleiben bis morgen.«
Meine Mutter stellte ihren schmalen Koffer ab. Mir war klar, dass das Lächeln, das jetzt auf ihren Lippen lag, nicht fallen würde. »Alles Gute zum Geburtstag, Harry.« Ihre Stimme war ungewohnt weich. »Es ist schön, dich kennenzulernen.« Sie streckte ihre Hand aus, allerdings die linke. Misstrauisch musterte ich die stumme Aufforderung.
Doch Harry schien zu verstehen. Er ließ meine Hand los und legte seine rechte in die ausgestreckte linke meiner Mutter. Ihre Finger umschlossen seine und drückten sie sanft. Es war kein Händeschütteln; es war eine warme Geste.
Ich fühlte mich wie in einem surrealen Traum. Doch ich konnte nicht sicher sagen, ob ich aufwachen wollte.
»Mein Geburtstag war Anfang Februar.«, erwiderte Harry als Erklärung. Er sah meinen Vater an, der jetzt ebenfalls die Hand ausstreckte. Im Gegensatz zu meiner Mutter schüttelte er Harrys Hand auf konventionelle Weise.
»Es ist eine angenehme Überraschung, dich hier zu haben, Harry.«, verkündete er, ohne dass ich behaupten konnte, Sarkasmus zu erkennen. Meine Eltern sollten aufhören, von Überraschungen zu reden.
Ich atmete die angestaute Luft in meiner Lunge in einem einzigen Zug aus. »Sehr gut!«, verkündete ich. »Jetzt kennen wir uns also alle. Hervorragend. Harry und ich waren eigentlich gerade dabei, zu frühstücken. Wenn ihr uns also entschuldigen würdet...« Ich umschloss Harrys Handgelenk und zog ihn zurück ins Esszimmer, bevor er aus Höflichkeit protestieren konnte. Dieses Mal drückte ich die Tür hinter uns zu.
Harrys Lächeln verschwand wie auf Knopfdruck von seinem Gesicht. Ha! Es war also doch alles nur Fassade. Geschockt sah er mich mit offenem Mund an.
»Louis!«, murmelte er fassungslos. »Louis!«
Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Was?«
»Ich wusste nicht, dass...«, er umfasste meine Wangen mit seinen Händen und musterte überfordert meine Augen. »Louis, das war dein Coming Out! Ich hatte keine Ahnung, dass sie es noch nicht wussten. Aber du hast es einfach...« Tränen glänzten in seinem Blick. Er drückte mir einen Kuss auf die Lippen. »Ich bin so stolz auf dich!«
Ich lachte leise. Das betrunkene Gefühl war noch immer nicht ganz verschwunden. Aber jetzt fühlte ich mich leicht wie eine Feder. »Und ich dachte schon, du würdest wütend sein, dass ich ihnen nicht von dir erzählt habe.«
Harry schüttelte eifrig den Kopf. Wieder küsste er mich aufgeregt. Es war eigentlich weniger ein Kuss als ein euphorisches Lächeln seiner Lippen gegen meine. »Wie könnte ich wütend sein, Lou?«, fragte er leichtherzig. Leise kicherte er und senkte den Kopf. Seine Schläfe lag warm an meiner Wange. »Auch wenn es mich doch ein bisschen kränkt, dass deine Mutter mehr über den ›netten, irischen Jungen‹ weiß als mich. Eve hätte ebenso einfach ein gutes Wort für mich einlegen können.«
Sorglos ließ ich das in meiner Brust kribbelnde Lachen zu. Es war so simpel. Ein paar Buchstaben auf meiner Zunge und meine Eltern kannten eine Wahrheit, die ich selbst noch nicht lange kannte. Aber in mir war sie groß und richtig. »Ich habe mich geoutet.«, bestätigte ich zufrieden. Zart küsste ich Harrys schimmernde Wimpern, bevor er wirklich weinen könnte.
»Ohne deinen Kopf oder dein Erbe zu verlieren.«, stimmte er fröhlich zu. »Ich freue mich so für dich, Louis.«
Ich wollte etwas erwidern, aber es klopfte gegen die Tür in meinem Rücken. Schnell zog ich Harry zum Tisch. »Ja?«, fragte ich, noch immer mit Überwältigung im Bauch.
Langsam wurde die Tür geöffnet. »Wir dachten, es wäre vielleicht ganz schön, wenn wir uns ein bisschen zu euch gesellen könnten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schoben meine Eltern sich durch die Tür. Ganz wunderbar, genau das hier war meine Traumvorstellung eines London-Wochenendes mit Harry. Aber was sollte ich tun? Ausnahmsweise benahmen sie sich mal nicht wie diktatorische Vormünder. Wir hatten jetzt über mehrere Wochen ein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Das wollte ich nicht wieder aufs Spiel setzen.
Also setzten wir uns alle an den für zwei Personen gedeckten Tisch. Mein Vater neben mir, meine Mutter neben Harry. Ich starrte ratlos die Scones an. »Habt ihr schon gefrühstückt?«, fragte ich langsam, um Harry und mir die Erlaubnis zu geben, weiter essen zu können.
Mein Vater nickte. »Ja. Bevor wir aufgebrochen sind.« Ich spürte seinen seitlichen Blick auf mir. Aber ich nickte nur stumm. Er sollte wissen, dass ich es ganz sicher nicht sein würde, der den Elefanten im Raum ansprach. Guernsey und ihre vermaledeite verfrühte Rückkehr.
»Also, Harry«, schaltete meine Mutter sich ein. Ich unterdrückte ein Seufzen. Jetzt ging also die Fragerunde los. »Du gehst mit Louis aufs Internat?« Beinahe hätte ich gelacht. Meine Eltern bräuchten Nachhilfe in nicht-geschäftsbedingten Konversationen.
Aber Harry schien problemlos über diese offensichtliche Unfähigkeit hinwegzusehen. »Ja. Louis und ich teilen uns ein Zimmer.«, berichtete er mit weichen Grübchen in den Wangen. Unter dem Tisch verpasste ich ihm einen leichten Tritt gegens Schienbein. Gab es eine noch aufdringlichere Weise, anzudeuten, dass wir unsere Freizeit nicht dem hingebungsvollen Lernen widmeten? Aber Harry ließ sich nichts anmerken.
Ich räusperte mich leise, um seine Fahrlässigkeit wieder gerade zu biegen. »Harry ist derjenige, dem ihr für meine guten Noten danken könnt. Er ist ein Genie.« Sofort biss ich mir auf die Zunge. Das war auch nicht, was ich meinen Eltern erzählen sollte. Ich wollte nicht, dass sie irgendwelche Erwartungen entwickelten. Ja; es war alles schön und gut, dass sie mich und Harry nicht für gleichgeschlechtliche Liebe auf einem Scheiterhaufen verbrannt hatten, aber gleichzeitig wollte ich verhindern, dass sie Harry nach irgendwelchen Schwiegersohn-Maßstäben beurteilten. Sie hätten niemals hier sein sollen. Wieso war es so ein verdammtes Minenfeld, meinen festen Freund meinen Eltern vorzustellen?
»Das ist nicht wahr.«, erklärte Harry in derselben Tonlage, in der er immer über dieses Thema sprach. Er verstellte sich nicht. »Louis hat die guten Noten allein seinem Fleiß zu verdanken.« Er warf mir einen Blick zu und schnitt mich ab, bevor ich etwas erwidern konnte. »Wie war Guernsey? Ich war noch nie auf einer der Kanalinseln.«
Na ganz toll. Natürlich war Harry derjenige, der das ungewollte Zusammentreffen ins Rampenlicht stellte.
Aber überrascht wurde ich Zeuge davon, wie meine Eltern nicht von einer vorzeitig beendeten Konferenz berichteten, sondern stattdessen munter begannen, Harry von den Meeresgezeiten, der Alderney Railway und dem lokalen Früchtebrot zu erzählen. Als mein Vater detailliert die Überlebensgeschichte der langhaarigen Ziegen der Insel auspackte, konnte ich nur noch ungläubig den Kopf schütteln und mein Lächeln dadurch verbergen, dass ich den letzten Schluck meines Orangensaftes trank.
Ja, es fühlte sich definitiv wie ein Traum an. In den Osterferien hatte ich mich wirklich gut mit meinen Eltern verstanden – über unsere Einigung, was meine Zukunft betraf, weit hinaus – aber, dass sie so schnell zu normalen Menschen werden konnten... Mein Vater hatte einen Scherz auf dem Rückflug von Sardinien gemacht, und das war wie ein kleines Wunder für mich gewesen. Doch die offene und freundliche Weise, in der sie jetzt mit Harry redeten, lag noch in einer ganz anderen Liga. Ich wusste nicht, ob ich glücklich oder misstrauisch sein sollte.
Trotz der Leichtigkeit der Unterhaltung war ich erleichtert, als auch Harry endlich aufgegessen hatte. Ohne weiter Zeit zu verschwenden, entschuldigte ich mich, um den Tisch abzudecken. Ich schnappte mir unsere Teller und machte mich auf den Weg in die Küche. Wir waren sowieso schon viel zu spät dran. Es war gut, dass wir keine großen Touristenattraktionen geplant hatten.
Die schmutzigen Teller verfrachtete ich in die noch fast leere Spülmaschine. Harry und ich hatten hauptsächlich außer Haus gegessen. Bei meinen Kochkünsten verständlich.
Ein leises Klirren von Glas veranlasste mich dazu, mich umzudrehen. Meine Mutter balancierte unsere Saftgläser in der einen, die Saftflasche in der anderen Hand. »Ihr hättet nicht aus der Flasche trinken müssen, Louis.«, kommentierte sie mit schwer herauszuhörendem Urteil. Sie stellte das Geschirr ab.
Ich verdrehte die Augen. »Dekanter werten den Geschmack nicht auf. Sie sind nur hässlich. Ich hasse die Dinger.«
Ich wollte mich an ihr vorbei aus der Küche schieben, aber sie umschloss mein Handgelenk mit ihren Fingern. Überrascht hob ich die Augenbrauen, blieb aber wie sie es wünschte vor ihr stehen.
»Louis«, seufzte sie. Ihr Blick schien mein ganzes Gesicht für immer abspeichern zu wollen. Als hätte sie dafür nicht schon 18 Jahre Zeit gehabt. Bevor ich mich wehren konnte, schloss sie mich in ihre Arme. Und auch nach 18 Jahren wusste ich noch immer nicht, wie ich darauf reagieren sollte. »Ich bin so glücklich, dass du hier bist, Louis. Du und Harry.«
Behutsam drückte ich mich von ihr, als es mir angemessen erschien. Stirnrunzelnd sah ich sie an. »Ja, wegen dieser Sache... Hat es einen besonderen Grund, dass ihr euch da drinnen so seltsam benehmt?«
Sie presste bedauernd die Lippen aufeinander. »Harry ist die erste...Person, die du uns je vorgestellt hast. Nicht, dass wir von deinen anderen Beziehungen nichts gewusst hätten, aber... Louis, wir bemühen uns.«
»Ich denke, wir sind uns alle bewusst, dass ich nicht geplant hatte, ihn euch vorzustellen.« Das musste ich ihr ganz sicher nicht weiter erklären. Mittlerweile hatten sie ohne Zweifel eins und eins zusammengezählt. Guernsey und der Blick in ihren Terminkalender waren kein Zufall gewesen.
»Die Konferenz wurde vorzeitig beendet, Louis. Es gibt eine Sturmwarnung für den Kanal. Aber keine Sorge, alles Wichtige wurde vorher geklärt.«
»Ich hatte mir keine Sorgen gemacht.«
Sie nickte ohne Vorwurf. Nachdenklichkeit zog sich für eine Weile über ihr Gesicht. »Ich bin sehr stolz auf dich, Louis.« Wie ein Echo klang ihre Reue in meinen Ohren nach. »Ich hoffe, du weißt, dass ich dich liebe, egal, wen du liebst.« Anscheinend wurde die ganz große Sentimentalität ausgepackt.
»Jetzt weiß ich es.«, erwiderte ich knapp. Sie blinzelte einmal zu oft. Ich riss mich zusammen. Denn sie hatte recht; sie bemühte sich. »Danke, Mum.«
Schwach lächelte sie und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Wieder wusste ich nicht, was ich tun sollte. Aber ich fühlte mich weniger schlecht.
»Louis?«, fragte sie schließlich mit der Stimme so sorglos wie zuvor. »Denkst du, ihr beide werdet zur Mittagszeit hier sein? Ich würde mich sehr freuen, wenn wir alle gemeinsam essen könnten.«
»Nein.«, stellte ich mit so viel Endgültigkeit wie möglich in der Stimme fest. »Wir haben Pläne. Zu zweit. Und erwähn dieses Angebot nicht Harry gegenüber!« Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, verließ ich dieses Mal wirklich die Küche – und hoffte inständig, dass sie den Essenswunsch für sich behielt. Harry würde ohne mit der Wimper zu zucken zustimmen. Das ließ ich aber nicht zu. Wir hatten keine ganzen zwei Tage mehr hier.
Als ich die Tür zum Esszimmer öffnen wollte, tat sie das ganz alleine von innen. Beschwingt passierte Harry mich, mit dem letzten unserer Frühstücksüberreste beladen. Durch seine vollen Hände eingeschränkt, küsste er mich im Vorbeigehen lächelnd auf die Schulter. Summend lief er weiter in Richtung Küche.
Ich schob mich ins Esszimmer. Mein Vater war dabei, die Stühle ordentlich zurück an den abgeräumten Tisch zu schieben. Er sah auf. Ich wollte mich wieder umdrehen, weil meine Hilfe hier nicht mehr benötigt wurde, aber seine Stimme hielt mich zurück.
»Du kannst dich entspannen, Louis. Wir werden ihn nicht auf Heiratstauglichkeit prüfen.« Er schob den letzten Stuhl zurecht.
Kommentarlos umfasste ich eine der ausgerichteten Stuhllehnen.
»Aber ich muss dich trotzdem beglückwünschen«, fuhr er amüsiert fort. »Dass du dir den letzten Selley schnappen würdest, das hätte sogar ich dir nicht zugetraut!«
Ein ungläubiges Lachen entwich mir, bevor ich es zurückhalten konnte. Deswegen behandelten meine Eltern Harry also mit einer selbstverständlichen Freundlichkeit, die einem Prinzen angemessen wäre. Sie hatten seinen Namen falsch verstanden! Selley. Ja, haha. Tut mir echt leid, enttäuschen zu müssen.
»Styles«, grinste ich. »Harry Styles. Ihr müsst die Heiratstauglichkeit-Prüfung wohl oder übel nochmal vollziehen. Selley! Das wäre ein Traum für euch, nicht wahr?«
Er schien für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Das war es wohl mit den Träumen des perfekten Schwiegersohns. »Louis, du-« Seinen Kopf neigend musterte er mich forschend. »Harry ist Anne Selleys Sohn.«
Ich starrte ihn an und zwang mich, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Die Selleys waren bis vor einigen Jahren eine der letzten britischen Adelsfamilien gewesen, die es bis in die Gegenwart geschafft hatten, Besitz, Titel und teilweise sogar politischen Einfluss zu behalten. Vor nur wenigen Generationen allerdings hatte das Geschlecht das Ende seiner Linie gefunden. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je namentlich von Anne Selley gehört zu haben. Aber Harry...
»Du wusstest es nicht!«, stellte mein Vater fest. Kurz schien er nachzudenken. Dann nickte er. »Natürlich nicht. Wenn er es dir nicht erzählt hat. Du warst zu jung. Louis, Harrys Eltern sind in einem schrecklichen Hausbrand gestorben. Es war erschütternd, damals. Das jahrhundertealte Anwesen ist fast vollständig niedergebrannt. Zu dem Zeitpunkt hatte Anne Selley aber schon geheiratet und ihren Namen verloren. Du hast nie von Desmond Styles gehört? Er war einer der jüngsten und besten Anwälte mit mehr High-Profile-Cases, als ich an meinen Fingern abzählen könnte. Ich hätte mich nicht an den Namen des Sohnes erinnern können, aber ja, Harry. Harry Styles. Ich bin mir nicht sicher, was seine Stellung wäre, wenn auch über die weibliche Linie der Titel vererbt werden würde... Es ist schön zu sehen, dass es ihm gut geht. Er muss eine schwere Kindheit gehabt haben.«
Wie ein Fisch auf trockenem Land öffnete ich verloren den Mund. Ich wollte ihm sagen, dass der Name Styles zu häufig war, um ihn auf diese Weise zurückzuverfolgen. Dass er sich vielleicht falsch an den Vornamen des Sohnes erinnerte. Aber ich wusste selbst, dass ich Unrecht hatte. Der Zufall war unmöglich. Harrys Vater war ein Anwalt gewesen, seine Eltern waren in einem Feuer umgekommen.
So blind konnte nicht mal ich sein.
»Aber es spielt keine Rolle.«, murmelte ich, als ich meiner Stimme wieder halbwegs traute. »Du hast es selbst gesagt. Er ist kein Selley mehr. Es macht keinen Unterschied.«
Mein Vater lachte und das Geräusch war so ungewohnt, dass ich ihn nur mit weiten Augen ansehen konnte. »Louis, er selbst mag kein Peer mehr sein. Aber er wird sehr bald erben, zerstörtes Anwesen hin oder her! Wie alt ist Harry?«
Ich klammerte mich an die Stuhllehne. »Dad«, erklärte ich mit allem Nachdruck, den ich aufbringen konnte, »es ist mir egal, was oder wann Harry erben wird. Ich wusste nichts von all dem. Es ändert nichts.«
»Er wird keinen Tag seines Lebens arbeiten müssen, Louis. Seine Kinder und vermutlich seine Enkelkinder werden niemals einen Finger rühren müssen. Es ist irrelevant, dass sein Vater vermutlich Millionen gemacht hat. Neben dem Vermögen der Selleys ist das...nichtig.«
»Ich kümmere mich nicht um das Geld.«, wiederholte ich.
»Ich weiß, Louis.«, erwiderte er – zu meiner Überraschung aufrichtig. »Er ist der Junge vom Ball, nicht wahr? Von dem wir dich weggezerrt haben? Es war nur ein paar Tage später, dass du unseren Terminkalender verlangt hast.« Er lächelte. Vielleicht war das hier wirklich einfach nur ein wirrer Traum. »Es tut mir leid, Louis, dass wir hier aufgetaucht sind. Wir wollten kein gemeinsames Wochenende zu zweit zerstören. Wir hatten keine Ahnung.«
Ich nickte. Ich wusste nicht, ob mein Körper vor Energie oder Energieverlust kribbelte. Mein Kopf hielt mir die Erinnerung vor, wie ich Harry dafür ausgelacht hatte, dass er einen Namen wie ein Mitglied der Königsfamilie hatte. Kein Windsor. Aber ein verdammter Selley.
Es gab nichts mehr, das ich hätte sagen können, oder wollen. Aber das schien mein Vater zu verstehen. Er umrundete den Tisch und drückte sanft meine Schulter. »Mein Sohn verführt einen Selley und weiß es nicht mal.«, grinste er amüsiert und verließ vor mir das Esszimmer. »Dass ich das noch erleben darf. Wenn man bedenkt, dass ich dich mit Sienna Moore verkuppeln wollte!« Obwohl ich bis auf seinen Rücken nichts mehr sah, hörte ich sein Schmunzeln. Einige Sekunden später konnte ich mich dazu aufraffen, ihm zu folgen.
Das Lachen Harrys und meiner Mutter aus der Küche ließ sich schon von hier deutlich vernehmen. Ich konnte sie förmlich vor mir sehen. ›Hahaha, und Louis hat wirklich nie erkannt, wer du bist?‹ ›Hahaha, nein!‹
Ohne auf das wirkliche Gespräch zu achten, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte, schob ich mich in die Küche und legte einen Arm um Harrys Schultern. »Tut mir leid, Mum, aber ich muss dir Harry jetzt entführen. Wir wollen los, nicht wahr?«
Allerdings ließ ich Harry nicht die Möglichkeit, diese Frage zu beantworten und zog ihn mit mir hinaus in die Eingangshalle und auf die Treppe nach oben.
»Louis, es ist alles gut.«, versuchte er, mich zu beschwichtigen. »Sie waren sehr nett. Du musst mich nicht retten.«
»Ich rette dich nicht. Ich will nur nicht, dass sie sich zu sehr in dich verlieben.« Natürlich war mir bewusst, dass es dafür schon zu spät war.
Harry lachte warm. Eine kurze Pause folgte, aber ich wusste, dass er noch etwas zu sagen hatte. »Weißt du, ich habe Mitleid mit deinen Eltern.«, seufzte er, als wir im Badezimmer standen.
»Sei bloß nicht zu großzügig.« Ich griff nach meiner Zahnbürste und wartete, bis Harry mir die Zahnpasta reichte.
»Ich meine, weil du ihnen das Leben so schwer machst. Sie geben sich wirklich große Mühe, wenn du mich fragst. Sie waren unheimlich nett zu mir.«
Ich schob mir die Zahnbürste in den Mund. »Lass uns bitte nicht weiter darüber reden. Ich hatte eigentlich nicht geplant, an diesem Wochenende auch nur an meine Eltern zu denken.«
Harry nuschelte etwas durch seinen Zahnpastaschaum. Ich verstand es nicht, aber das war uns wohl beiden bewusst.
»Außerdem«, ergänzte ich so deutlich wie möglich, »sind wir spät dran. Es bleibt keine Zeit mehr, über irgendwas zu philosophieren. Vor allem nichts so Unnötiges.«
Ins Waschbecken spuckte Harry seinen schneeweißen Schaum. »Spät dran? Ich dachte, der Garten wäre so geheim.«
Ich verdrehte die Augen. »Wir sind immer noch in London, Harry. Wahrscheinlich ist St. Dunstan-in-the-East das erste Suchergebnis für ›bestbehütete Geheimnisse Londons‹ in Google.«
Harry lächelte mit seinen weiß-roten Lippen. »Na dann lass uns so schnell wie möglich los.«
Zufrieden nickte ich. Endlich verstand Harry seine Prioritäten. Mein Mund gab meine Zahnbürste frei und ich lehnte mich vor, um Harry zu küssen. Es war ebender Kuss, den Harry und ich damals heimlich in den Waschräumen des Internats geteilt hatten, kurz und glücklich.
Nur, dass es heute keinen einzigen Menschen mehr gab, der nicht von uns wissen durfte.
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