• 103 •
Louis
fine line (song), vielleicht
Mit einem Klicken schaltete sich der Wasserkocher brodelnd aus. An den Henkeln zog ich die beiden Tassen zu mir. Klares Wasser färbte sich dunkel, als ich es dampfend auf die Teebeutel goss.
»Hier«, ich schob Harry seine Tasse über den Tisch hinweg entgegen. Es war der schmale Stehtisch in der Küche, an dem Harry auf einem der Barhocker saß. Ich schob meinen ein paar Zentimeter versetzt auf die gegenüberliegende Seite und setzte mich ebenfalls. Richtete ich meine zu ihm aus, würden unsere Knie sich berühren.
Harrys Hände lagen flach auf der Tischplatte, sein Blick lag auf seinen Händen. Wie vorgesehen hob und senkte seine Brust sich langsam. Blasse Schatten schimmerten unter seinen Augen durch die noch immer zu farblose Haut seines Gesichts.
Ich seufzte. »Du musst mit mir reden, Harry.«
Er sah auf. Doch sein Blick fand mich nicht. Er schaute komplett durch mich hindurch. Ich wartete, aber seine Lippen blieben verschlossen.
Mit gezwungener Ruhe schloss ich meine Hände um die warme Teetasse vor mir. »Du musst es mir erklären, Harry.«
An den Stellen, an denen die weißen Ärmel des T-Shirts über seinen Oberarmen abschnitten, offenbarte sich eine leichte Gänsehaut. Aber es war nicht kalt in der Küche. Und ich hatte keine Geduld mehr für unwichtige Dinge, die verhinderten, dass ich erfuhr, was ich vor langer Zeit hätte erfahren müssen.
»Ich habe dich und Niall schon vor Wochen darüber reden hören. Monaten.« Meine Stimme konnte den Druck nicht verstecken. Ich wollte Harry nicht unter Druck setzen. Aber ich wollte auch nicht länger unwissend bleiben. »Du wolltest mir die Wahrheit verschweigen, weil ich dich nicht wie mit Seidenhandschuhen behandeln sollte.«, sprach ich meine früheren Gedanken aus. »Aber hey, Harry, natürlich werde ich dich mit Seidenhandschuhen anfassen, hätte ich gewusst, dass dir solche Dinge passieren können! Harry! Rede mit mir, verdammt. Ich kann das nicht. Du kannst es mir nicht länger verschweigen, verstehst du?«
Er schaute durch mich hindurch, als würde ich ihm nicht direkt gegenüber sitzen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte und wollte ihn nicht zum Reden zwingen. Aber wieso verstand er nicht, dass ich die Wahrheit erfahren musste? Vor nur zwanzig Minuten hatte er zitternd und bebend in meinen Armen gelegen.
Noch nie war die Stille in diesem Haus lauter gewesen. Die weißen Fliesen schienen grau.
»Ich bin in Manchester geboren.«
Ruckartig hob ich den Kopf. Harrys Blick war nicht klarer geworden, aber die ruhigen Worte waren seine. Wie ein kurzer elektrischer Schock, den man erst verstand, nachdem er vorbei war, schoss die aufmerksame Aufregung in meinen Körper. Es war so weit. Harry würde reden.
»Mein Dad war Anwalt für Gesellschaftsrecht.« Harry blinzelte, seine Stimme blieb leise. Ich biss mir auf die Lippe. War. Ich konnte nur beten, dass das bedeutete, dass Harrys Dad den Beruf gewechselt hatte. »Meine Mum war Neurochirurgin.«
Etwas in mir brach. Kälte sprang auf meinen Körper über, als wäre Harrys Gänsehaut ansteckend. Überwältigt schloss ich die Augen und verbarg das Gesicht in meinen Händen.
Natürlich. Wie konnte ich so dämlich gewesen sein? Die einzige Möglichkeit, die ich nie in Betracht gezogen hatte. Harrys Eltern waren tot.
»Wir haben in Manchester gewohnt, weit außerhalb vom Zentrum.« Harry hatte seine Stimme unter Kontrolle. Ich befreite mein Gesicht aus meinen Händen. Der Blick der grünen Augen war auf seinen Tee gesenkt. Ich bewegte meinen Arm nur ein paar Zentimeter, um seine Finger mit meinen zu berühren.
»Es war ein schönes Haus. Aus der Familie meiner Mum. Aber wir haben alleine dort gewohnt; meine letzte Großmutter starb, als ich noch ein Baby war.« Harrys Wangen bewegten sich beim Sprechen kaum. Er beschwor eine vergangene Zeit herauf und ließ die Luft träge werden. »Der Dachboden roch nach alten Büchern und Kerzenwachs. Alleine durfte ich nicht die Leiter hochklettern, aber Mum und Dad waren gerne mit mir oben.«
Ich bewegte keinen Muskel. Harry redete, ohne sich die Worte zurechtzulegen, da war ich mir sicher. »Ich hatte ein Fahrrad mit Regenbogenreflektoren. Ich hab ohne Stützräder gelernt, darauf zu fahren. In meinem Zimmer durfte ich an die Wände malen, mit Buntstiften und Acrylfarbren. Die Sonne hat nur abends reingeschienen, wenn im Frühling und Herbst die Sonne unterging und alles in rotes Licht getaucht hat.« Die willkürlichen Fakten schwebten aus seiner Erinnerung heraus in die Kälte der Küche. Sie prickelten auf meiner Haut und ließen vor meinem inneren Auge rote Sonnenstrahlen und Regenbogenreflektoren tanzen.
Aber genauso wartete ich auf die Worte, die mein Herz brechen würden, und Harrys bereits gebrochen hatten.
»Das Haus hatte einen Garten mit zwei großen Walnussbäumen. Sie waren höher als der Schornstein. Meine Mum hatte im Garten Bienen, sie fand sie beruhigend. Nach meiner Geburt haben meine Eltern aufgehört, so viel zu arbeiten. Sie waren da. Zuhause. Außer wenn wir gereist sind. Ich kann mich noch an Reykjavik erinnern. Wir haben Nordlichter gesehen, am Wasser. Es war wie ein Traum, sie sind nicht echt. Sie passieren in deinem Kopf. Aber das stimmt nicht. Sie sind wirklich im Himmel. Sie tanzen. Man muss die Natur lieben, wenn man weiß, dass sie grünes Feuer in der Nacht erschaffen kann.«
Er atmete aus. Ich wartete, weil ich wusste, dass er so langsam reden konnte, wie er wollte. Es war wie mit allem anderem im Leben. Jetzt, wo meine Ungeduld endlich gestillt werden würde, war sie verschwunden.
Jetzt, Harry mit seinen blassen Wangen und glasigen Augen gegenübersitzend, verstand ich, wieso ich ihn vorher nie auf all das hier angesprochen hatte. Obwohl ich schon seit Monaten wusste, dass er mir nie die ganze Wahrheit gesagt hatte. Es ging nicht um Vertrauen bei dieser Sache. Denn es ging nicht um uns. Es ging um ihn.
Ich konnte nicht wissen, ob es ihm half, dass meine Finger seine berührten. Die Sekunden verstrichen lautlos. Vielleicht war der einzige Grund dafür, dass ich so bedingungslos ruhig war, der, dass ich noch unter Schock von vorhin stand. Sowas gab es. Es war mir nur nie zuvor passiert.
Unter Schock zu stehen war so unglaublich egoistisch. Man musste versorgt werden, obwohl es in den meisten Fällen jemand anderes gab, der diese Hilfe sehr viel dringender brauchte.
»Ich war sechs Jahre alt in der Nacht, in der das Haus in Flammen stand.« Die Stille verlor all die Lautstärke. »Manche Menschen erinnern sich nicht. Ich wünschte, ich würde mich nicht erinnern. Rauch ist...mein Zimmer war unten. Nicht atmen können fühlt sich-« Etwas raubte ihm für einige Sekunden den Atem. »Ich bin aufgewacht. Wir hatten keine Feuermelder. Es war ein altes Haus.« Mit jeder seiner länger werdenden Pausen hörte seine Stimme sich ferner an. Vielleicht wurde die Küche kälter.
»Es ist nicht wie in einem Film, du kannst nichts sehen. Es war komplett dunkel. Nicht sehen und atmen zu können ist schlimmer als jeder Albtraum. Ich wollte nicht lernen, wie es sich anfühlt zu sterben. Es ist sterben, bevor du stirbst.«
Wären nicht alle meine Muskeln wie zu Eis erstarrt, hätte ich Harrys Hand ergriffen. Oder realisiert, dass ich mit ihm weinte.
»Ein brennendes Haus macht Geräusche. Sie sind laut und tief und dumpf. So muss es sich anhören, wenn einem der Schädel eingeschlagen wird. Es war schlimmer als die Schreie, auch wenn sie... Ich hatte Angst. Nur Angst. Es gibt keine anderen Emotionen, wenn man wirklich Angst hat. Meine Eltern, sie-« Harry verschluckte sich an einem heiseren Schluchzen, das ich nicht kommen gesehen hatte. Schmerz pochte in meinem Kopf. »Sie hatten Angst. Ich weiß nicht, in welchem Moment sie wussten, dass sie sterben würden. Sie haben nicht versucht, sich selbst zu retten, sondern-«
Harrys Lippen zitterten zu sehr, um weiter zu sprechen. Sein unkontrolliertes Weinen schüttelte seinen ganzen Körper, während seine bleichen Finger sich an die graue Tasse klammerten. Ich konnte nicht mehr durch die Nase atmen. Eine Leere hatte alles, was sich jemals in meinem Körper befunden hatte, geschluckt.
Aber ich rappelte mich auf. Mit steifen Beinen kletterte ich von meinem Stuhl. In drei Schritten hatte ich den schmalen Tisch umrundet. Ich schlang meine Arme um Harry, so fest ich konnte. Ein noch lauteres Schluchzen löste sich aus seinem Hals.
Es hatte einen guten Grund gegeben, wieso Harry die Wahrheit verschwiegen hatte.
Manche Vergangenheit sollte begraben bleiben.
Mein Gesicht presste sich in das weiße Shirt, die blasse Haut. Harrys Fingernägel waren in meinem Unterarm vergraben. Sein Schluchzen ließ uns beide erbeben. Ich wusste nicht, ob ich ihn hielt, um ihn oder mich zu halten.
Er weinte, er wimmerte, er schluchzte. Die Tränen waren schneller als sein Atem. Er hustete, bis der Schmerz in seiner Stimme wieder überwog. Ich konnte nur mit ihm weinen; ein Leid beklagen, das niemals meines sein würde. Vor meinen geschlossenen Augen tanzten dunkle Flammen, als hätte ich selbst erfahren, dass Feuer Tod bedeutete.
In den Ecken der Küche wurde Harrys Schluchzen endlos. Zeit saugte sich schwer in unsere laufenden Tränen, Minuten verstrichen wie Stunden. Ich versuchte nicht mehr zu denken. Die Überwältigung war zu groß, um sich der tonnenschweren Emotion nicht hinzugeben. Es war so viel einfacher, in dem Schmerz zu existieren. Mein Gehirn war warmes Blut und schwarze Tinte.
Die erdrückende Endlosigkeit machte es unmöglich, die Sinne zu benutzen. So bemerkte ich erst, dass Harrys Weinen leise geworden war, als ich jegliche Wahrnehmung der Zeit verloren hatte. Ich atmete durch den Mund, um nicht die Nase hochziehen zu müssen. Meine Arme umschlossen Harrys verletzlichen Körper noch immer wie eine Zwangsjacke. Genauso fest klammerte er sich an mich. Die Tränen flossen weiter, seine und meine. Aber das Schluchzen war verhallt.
Ich schlug die Augen auf. Eine winzige Bewegung des Kopfes genügte, um vom reinen Küchenlicht geblendet zu werden. Meine Wimpern waren schwer vor Nässe. Ich hob den Kopf leicht an. Durch meinen Auslöser öffnete auch Harry langsam die Augen.
Seine gerötetes Gesicht schwamm glänzend in den Flüssigkeiten aus Augen, Mund und Nase. Noch immer zitterten seine vollen Lippen sanft. Zwischen all der verschwommenen Haut und dem klebrigen Salz schienen die grünen Augen winzig.
Doch er sah mich an. Und sein Blick war nicht verschwommen. Er war schmerzerfüllt und herzzerreißend, aber er war klar. Ungelenk löste Harry den Griff um meinen Arm. Langsam, wie in Zeitlupe, streckten sich die Finger seiner linken Hand aus. Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand. Er zeigte auf den hohen Barstuhl, den ich verlassen hatte.
Es fühlte sich verräterisch an, von Harrys Seite zu weichen und den kleinen Tisch abermals zu umrunden. Aber ich tat es gehorsam. Auf den Fliesen waren meine Schritte gleichzeitig leise und laut. Ich stemmte mich zurück auf meinen Stuhl.
Noch immer sah Harry mich an. Es war nicht ganz einfach, den Blick zu erwidern. Mein Kopf schmerzte. Aber meine Eltern waren am Leben.
Als Harry wieder sprach, brach seine Stimme mehrfach. Es hielt ihn nicht auf. Er redete, als könnte er sich selbst nicht hören.
»Die Feuerwehr hat gesagt, dass es wahrscheinlich ein Kabelbrand war.« Die Tränen flossen still über seine Wangen. »Sowas kommt vor in alten Häusern. Es gibt Statistiken. Aber niemand denkt, dass er Teil der Statistik wird.«
Er hielt inne. Für ein paar Sekunden schloss er die Augen. Dann schlug er sie wieder auf. »Ich hatte keine lebenden Großeltern. Oder Tanten und Onkel. Oder Geschwister.
Dass ich eine Patentante hatte, wurde ignoriert. Sie war zu jung, um das Kind ihrer besten Freundin aufziehen zu wollen. Bis Evelyn im Krankenhaus stand und mich mitnahm.«
Mir war schwindlig. Je mehr Sinn Harrys Worte machten, desto haltloser fühlte ich mich.
»Wir blieben für einige Tage in Manchester. Es gab Dinge zu klären, von denen ich nichts verstand. Eve nahm mich mit. Sie wollte mich nicht alleine lassen. Es war...zu dem Zeitpunkt konnte ich noch nicht verstehen, was es bedeutete, dass sie mich jedes Mal, wenn ich in Wein- und Schreikrämpfe ausbrach, aus den Büros trug und mich so lange hielt, bis es vorbei war. Ich konnte nicht verstehen, wie stark sie für mich sein musste, weil auch sie den Verlust erlitten hatte.«
Von seinem Kinn tropfte eine runde Träne in seinen Tee. Das klare Platschen schien ihn kurz aus der Verfassung zu bringen. Er blinzelte in alarmierender Frequenz. Doch dann räusperte er sich leise und fuhr fort.
»Es war gut, als wir Manchester endlich verließen. Ich wusste es nicht. Ich fühlte mich wie ein Fremder an dem Ort, zu dem Eve uns brachte. Sie war Schulleiterin geworden, ein paar Monate früher. Das Internat ist seit Generationen ihr Familienbesitz. Sie war so jung, aber ich war jünger. Vielleicht half es mir, dass wir uns zusammen in den Schlaf weinten.«
Er schluckte hart. Ich wollte ihn wieder in den Arm nehmen. Aber er hatte mich hier hinüber gebeten.
»Ich war zu jung, um mir zu wünschen, mit meinen Eltern gestorben zu sein. Alles, was ich fühlen konnte, war Schmerz. Keine Trauer, keine Wut, nur Schmerz. In meinem Kopf, in meinem Bauch, in meinen Fingerspitzen. Es kommt und geht. Ich spüre es jetzt. Aber in den ersten Wochen, war es immer da. Ich erinnere mich nicht mehr an alles in den Tagen. Sie waren endlos. Ich hab Eves Zimmer nicht verlassen.« Ich konnte nicht mehr sagen, ob er wieder aufgehört hatte, mich wahrzunehmen. Seine Stimme kam von einem Ort tief in ihm.
»Es wurde nicht besser mit der Zeit; ich habe nur gelernt, an andere Dinge zu denken. Das Internat war riesig – vor allem für jemanden, der selbst nicht viel größer als einen Meter ist. Es wurde mein Zuhause. Eve und ich waren eine Familie. Wir sind es. Sie hat gearbeitet und die Schule geleitet, aber es gab immer jemanden, der Zeit für mich hatte. Ich wurde von allen aufgezogen; Lehrern, Gärtnern, Küchenpersonal. Es war mein Zuhause. Ist mein Zuhause.« Mir wurde bewusst, dass ich nicht aus seiner Wahrnehmung verschwunden war. Seine geröteten Augen hatten meine nicht aus dem Blick verloren.
»Ich hatte eine gute Kindheit, Louis. Nichts hätte jemals meine Eltern zurückbringen können. Ich war zu jung und zu alt für ihren Tod. Sechs ist ein Alter, in dem man sich an genug erinnern kann, um sie zu vermissen. Aber ich wurde glücklich. Ich hatte keine gleichaltrige Gesellschaft, aber Eve, das Schulpersonal, meine Fantasie und den größten Garten, den ich je gesehen hatte.«
»Du bist nicht zur Schule gegangen?«, fragte ich, bevor ich die Frage stoppen konnte. Sofort biss ich mir auf die Zunge. Angespannt wartete ich auf Harrys Reaktion, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Ich habe in einer Schule gelebt. Keine Grundschule, aber es gab genügend Lehrer, um mich zu unterrichten. Es war für mich nie wirklich Unterricht. Ist es bis heute nicht. Diese Menschen waren nicht meine Lehrer, sie waren diejenigen, mit denen ich aufgewachsen bin. Eve hat mir Lesen beigebracht. Das war das Wichtigste. Ich kann nicht sagen, wie viele Jahre meines Lebens ich in der Bibliothek verbracht habe. Ich bin dort eingeschlafen, bis Eve mich irgendwann fand und in mein Bett gebracht hat. Außer in den Ferien. Wenn keine Schüler da waren, durfte ich schlafen, wo ich wollte. Wir fuhren nicht weg. Nie. Eve hat das Gefühl, dass sie Verantwortungen gegenüber dem Personal hat, das manchmal da bleiben muss. Also taten wir es auch. Es war okay.«
Er blinzelte zur Decke hinauf. Ich gab mir alle Mühe, im Chaos in meinem Kopf durchzublicken.
Nach einer Weile seufzte Harry. Er faltete seine Hände auf der Tischplatte. »PTSD.«, erklärte er mit einer Ruhe, von der ich nicht sagen konnte, ob er sie erzwang. »Das war es, was vorhin passiert ist. Posttraumatische Belastungsstörung. Es tut mir so leid, Louis. Ich hätte es dir vorher sagen sollen.«
Ich wusste nicht, ob er eine Antwort erwartete. Ich hatte keine. Posttraumatische Belastungsstörung. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen von der Wange.
»Nach neun Monaten hat es begonnen.«, fuhr Harry fort. Jetzt lag Vorsicht in seiner Stimme. »Es war am Neujahrsball. Kurz vor meinem siebten Geburtstag. Kerzen auf den Tischen, an den Wänden, in den Kronleuchtern. Der Kamin war an. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es beim ersten Mal war – schlimm genug, dass der Krankenwagen gerufen wurde. Ein dissoziativer Krampfanfall.«
Ich konnte nicht mal versuchen, mir einen sechsjährigen Harry mit denselben verdrehten Augen wie von vor einer halben Stunde vorzustellen. Mein Hals kribbelte genug, um mich leicht vornüber beugen zu lassen. Ich durfte mich nicht übergeben.
»Am Anfang dachten wir, es wäre einmalig. Es kann einzelne Intrusionen geben. Das kommt bei kleinen Kindern vor.« Harry schloss die Augen. »Aber dann kamen die Albträume. Das waren die heftigsten Flashbacks. Man kann nichts tun, wenn man dem eigenen Kopf ausgeliefert ist. Wer soll dir sagen, was real ist? Träume sind wahr, immer. Dein Bewusstsein erlebt Träume nicht weniger real als das Leben im Wachzustand. Das macht Träume zu den besten Lügnern.«
Er öffnete die Augen. Vielleicht waren die Tränen brutaler als das Brechen seiner Stimme. »Kurz nach den Albträumen begannen auch die Anfälle am helllichten Tag. Ich war hypersensibel auf zu viele Arten von Triggern. Rauch, winzige Flammen, verbrannte Gerüche – manchmal reichte es schon aus, den Dampf von einem der Wasserkocher in der Küche zu sehen.« Er sah in mein vermutlich ebenso blasses Gesicht wie seines. »Im Nervensystem müssen Erregungsschwellen erreicht werden, um eine Reaktion zu veranlassen. Nach einem... Diese Schwellen können sinken. Für bestimmte Reize und Auslöser. Es hat außerhalb meiner Kontrolle gelegen.«
Die Übelkeit lag noch immer schwer auf meiner Zunge. Ich atmete so flach wie möglich.
»Ich sehe alles. Ich spüre alles, ich bin zurück im brennenden Haus. Manchmal bin ich wieder sechs Jahre alt. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Aber jedes Mal habe ich den Rauch in den Augen und der Lunge. Es schnürt mir die Luft ab. Es ist nicht immer gleich schlimm, manchmal kann ich nicken, sprechen.« Harry atmete tief ein und wieder aus. Weil er es jetzt konnte.
»Die ersten zwei Jahre waren schlimm. Wir haben gelernt, die Trigger so gut es ging zu umgehen. Ich war in Therapie. Bin ich immer noch. In der Zeit am Anfang war ich zweimal wöchentlich in Cambridge. Jetzt habe ich nur noch Termine in den Ferien.«
»In den Ferien?«, fragte ich, wieder mit schnellerer Zunge als Reflexionsgabe. »In den ersten Ferien, Harry, unseren Herbstferien; erinnerst du dich an den Tag, an dem die Anzüge kamen? Du warst verschwunden. Ich habe dich überall gesucht. Warst du in Norwich? In Therapie?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war der 21. Oktober. Der Geburtstag meiner Mum. Eve und ich waren in Manchester. Ich habe vergessen, dich vorzuwarnen, dass ich weg sein würde.«
»Harry«, seufzte ich schuldbewusst. »Ich wünschte, ich hätte es gewusst.« In dieser Sekunde war es die Wahrheit. Wahrscheinlich hatte Harry diesen Tag weinend auf einem Friedhof verbracht. »Ich hätte dich in den Arm nehmen können. Sollen. Selbst damals. Aber Unwissenheit kann...erbarmungslos sein.«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast-« Eine schwere Träne tropfte von seinem Kinn und er schien es sich anders zu überlegen. »Niall war eine große Veränderung. Eine gute. Ich habe ihm alles erzählt – seitdem nie wieder jemandem. Er kam mit nach Cambridge. Er hat gelernt; die verschiedenen Arten von Triggern, die Anzeichen für Flashbacks, die Jahrestage, Maßnahmen im Notfall. Er hat mich mit nach Irland genommen. Niall ist so sehr meine Familie wie Eve es ist, Louis. Er war immer für mich da und er wird es immer sein. Die Dinge haben sich gebessert, als ich zwölf war. Ich lebte immer noch in einer Schule, aber genauso taten es meine Mitschüler. Ich ging auf ein Internat. Ich hatte Freunde. Ich hatte Niall. Mit den Jahren habe ich riesige Fortschritte gemacht. Wir haben mehr über mein T- über mich gelernt. Alles verlor an Anspannung. Ich verlor an Anfälligkeit.«
Er richtete seinen stechenden Blick auf den schmalen Punkt Nasenrücken zwischen meinen Augen. Ich wusste, was er sagen würde.
»Und dann kam ich?«, fragte ich, ohne, dass mir diese Wendung Erleichterung beschaffen konnte.
»Und dann kamst du«, sagte er leise. »Ich habe nie über dich in Verbindung zu...all dem nachgedacht. Du warst ein weiterer Mensch in meinem Leben. Gewöhnlich, es hatte mit nichts etwas zu tun. Bis zu der Nacht im Herbst.«
Er senkte den Kopf und ich unterdrückte das Bedürfnis, mich zu räuspern. »Über die du mich mehrere Male angelogen hast.«
Harry nickte. »Ja.« Er sah mich nicht an. »Ich hatte vorher nicht bedacht, dass das Zimmerteilen bedeuten würde, dass du Zeuge von meinen Albträumen werden könntest. Natürlich bist du aufgewacht. Doch im Nachhinein hatten wir einfach nur Glück, dass du Niall geweckt hast. Ich habe keine Ahnung, wie du es für Schauspiel halten konntest. Aber ich war so unendlich froh darüber. Ich habe mich nicht dazu bereit gefühlt, es wieder jemandem zu erzählen, und erst recht nicht dem Jungen, der mich mehr hasst als jeden anderen.«
Die Schuld kehrte zurück und trocknete meinen Mund aus. Ich hätte nichts erwidern können, wenn ich es gewollt hätte.
»Unwissenheit ist nicht erbarmungslos, Louis. Du hast mir das bewiesen. Du hast mir bei dem größten Fortschritt in einer langen Zeit geholfen.«
Ich runzelte die Stirn. »Was?«, krächzte ich überfordert.
»Ich habe nie aufgehört, Filme zu sehen.«, begann Harry, ohne meine Frage zu beantworten. »Aber nur, nachdem Eve oder Niall sie geschaut hatten. In kritischen Momenten habe ich das Zimmer verlassen. Es ist okay. Aber dann waren da unsere Ferien. Du hast mit mir Donnie Darko gesehen, Louis. Und ich bin sitzen geblieben. Ich habe geatmet. Donnie Darko.«
Zu lange sah ich ihn mit leerem Gehirn an. Bis es klickte. Donnie Darko. Ich hatte Harry vor Donnie Darko gesetzt. Donnie setzte ein verdammtes Haus in Brand. Er brannte es komplett nieder. ›Burn it to the ground.‹
»Harry, Hilfe, es tut mir so leid, hätte ich gewusst-«
Er schüttelte den Kopf. »Louis, es war alles gut. Zum allerersten Mal. Flammen sind effektive Trigger. Ganze Häuser in Flammen sind...« Sein Blick verschwamm kurz, aber dann blinzelte er, bis er sich wieder klärte. Seine Tränen schimmerten. »Ich habe einfach die Augen geschlossen. An etwas anderes gedacht. Ich war ruhig. Und dass ging nur, weil du ruhig warst. Du wusstest nichts. Du warst nicht alarmiert. Also war ich es nicht. Deine Unwissenheit hat mich glauben lassen, dass alles normal sein kann. Und es war normal.«
Normal. Harry war einer der klügsten Menschen, die ich kannte. Und doch glaubte er an Normalität.
»Das war der letzte Albtraum für Monate.«, sagte Harry mit einer tiefen Emotion, die ich nicht benennen konnte. »Der letzte Anfall. Dann kam der Winter. Ich habe mich verliebt; langsam, Schritt für Schritt, unbewusst. Du hast mich glücklich gemacht, Louis. Du machst mich glücklich. Glücklich sein hilft besser als alles andere. Es ist so einfach. Mit dir konnte ich mich wie der Junge fühlen, der ich sein wollte. Der Junge, dessen Leben in einem Internat im Nirgendwo nur sein zweites Leben ist. Der den Gartendienst als Pflicht und nicht als Hobby sieht und sich nachts zu heimlichen Dates auf den Balkon schmuggelt – den Schlüssel hatte Niall sich übrigens von Eve erfragt.«
Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. »Harry, du bist der Junge, der du sein willst. Mein Wissen oder Unwissen über deine Vergangenheit ändert nicht, wer du bist.« Wir wussten beide, dass es seine Worte waren, die unsere gemeinsame Zeit mir in den Mund gelegt hatte. Aber sie waren wahr.
Sein Gesicht spiegelte sich rund in seiner Teetasse, in der noch immer der vollgesogene Beutel schwamm. Der Tee wäre ungenießbar.
»Du hast mir geholfen, Louis. Indem du es nicht wusstest und indem du mich glücklich gemacht hast. Ich hatte seit Ewigkeiten keinen Anfall mehr. So lange wie noch nie.«
Frustriert biss ich mir auf die Innenseite meiner Wange. Wie hätte sein Fortschritt mich aufmuntern können? »Bis ich dich heute in einen Raum voller brennenden Kerzen gebracht habe.«
Es dauerte lange, bis Harry antwortete. Wieder schien er in eine Dimension entwichen zu sein, die ich niemals verstehen könnte. »Ich bin seit Jahren keinem echten Feuer mehr ausgesetzt gewesen. Eine einzelne Kerze, oder zwei...ich denke, das hätte ich geschafft. Wenn du sie sofort ausgepustet hättest. Aber all diese Flammen...der Geruch.« Er atmete plötzlich und zu tief ein. Ich war bereit, wieder von meinem Stuhl aufzuspringen, aber Harry hob leicht das Kinn und blinzelte ein paar Mal, was seine Wangen mit frischen Tränen bedeckte.
Dann schüttelte er den Kopf. »Schon okay.«, versicherte er mir, ohne dass es ansatzweise okay klang. »Ich hätte es dir sagen sollen. Niall hatte recht. Er wollte mich nicht nach London gehen lassen, ohne dich vorbereitet zu haben. Aber ich war zu...ich wollte es nicht. Es ändert Dinge. Es ändert dich. Angst ist etwas, das sich schwer kontrollieren lässt. Und doch hatte ich damit Unrecht. Es geht nicht nur um mich. Ich hätte nicht verantworten dürfen, dass du ohne Vorwarnung eine intrusive Episode miterlebst. Es kann nicht nur mir schaden.«
Ich wollte etwas erwidern. Ihm versichern, dass es mir gut ging. Dass er sich um mich keine Sorgen machen sollte. Aber meine Zunge weigerte sich. Natürlich hatte Harry recht. Ich hätte es wissen müssen. Aber gleichzeitig war das ebenso falsch. Er war nicht bereit gewesen. Und jetzt wusste ich auch, wieso. Die posttraumatische Störung stand in direkter Verbindung zu dem Brand, in dem Harrys Eltern gestorben waren. Wenn er darüber redete, verlor er nicht nur die Kontrolle über seinen Körper und die mächtigen Emotionen; er verlor seine Eltern, wieder und wieder. Wie könnte man ihm jemals vorwerfen, das nicht durchmachen zu wollen?
Dieses Mal rutschte ich von meiner Sitzfläche auf die Fliesen, deren Kälte meine Füße kribbeln ließ.
»Louis.« Sofort blieb ich stehen, als Harry aufblickte. »Danke. Für alles. Für vorhin. Danke, dass du bei mir warst. Dass du Niall vertraut hast. Und«, seine von der verstopften Nase raue Stimme machte eine kurze Pause, »dass du dir so viel Mühe gegeben hast. Es wäre wunderbar gewesen. In einer anderen Welt hätte ich die Kerzen geliebt.«
Die verbliebenen Schritte waren zu einfach dafür, dass Schwindel in meinem Kopf und Bauch seine Runden tanzte. Ich schloss Harry in meine Arme. Die Tränen und verquollene Haut hüllten ihn in eine Wolke seines eigenen Geruchs. Er erwiderte die Umarmung nicht, stumm hielt ich ihn. Sein Körper war noch immer klein und fremd – dabei hatte er recht. Mittlerweile war er größer als ich.
Dieses Mal spürte ich die Minuten verstreichen. In mir tickten die Sekunden wie der Schlag eines zweiten Herzens. Harry hatte mir erzählt, was ich seit Monaten hatte wissen wollen. Diese Monate waren zu einem abrupten Ende gekommen und durch Sekunden ersetzt worden. Sekunden von Harrys Leben, die er ohne seine Eltern verbringen musste.
Hatte Harry sein Leben seit elf Jahren in Sekunden gelebt?
Ich konnte es nicht wissen. Niemand außer ihm selbst konnte das. Er lebte in seiner Blase, in seinem Schicksal, seiner Geschichte.
»Es tut mir so leid, Harry.«, murmelte ich in seine Haare. Die richtigen Worte existierten nicht, aber ich suchte sie trotzdem. Ich konnte mich so wenig für den Verlauf des Lebens wie den erbarmungslosen Tod entschuldigen. Harrys Vergangenheit war seine Zukunft, seine Eltern würden niemals zurückkehren. Kein Wort aus meinem Mund könnte jemals etwas daran ändern.
Er verdiente es, für immer glücklich zu sein.
Aber niemand war für immer glücklich.
Also schwieg ich. Und ließ mich von der wabernden Hilflosigkeit erfassen. Es war okay. Tränen waren da, um vergossen zu werden. Harry verdiente nichts von all dem hier. Aber das Leben spielte nicht nach Regeln. Es schrieb sie.
Eine einzige Sache gab es, die ich wissen konnte. Ich wollte nie wieder der Grund dafür sein, dass Harry in eine der Gruben fallen musste, die vor Jahren in einem Hausbrand für ihn gegraben worden waren.
Ich könnte ihn niemals retten. Vielleicht nicht einmal beschützen.
Aber ich würde ihn nie wieder in Gefahr bringen.
•••••••••
Sehr wahrscheinlich nicht der beste Zeitpunkt hierfür, aber gleichzeitig der wichtigste.
Die Ergebnisse meines Schreibens sind zurzeit sehr, sehr willkürlich. Dieses Kapitel, welches ganz offensichtlich nicht unbedingt bedeutungslos ist, ist mir komplett misslungen. Ich sage das nicht, um eine bestimmte Reaktion zu bekommen, sondern weil es stimmt. Das letzte Kapitel war gut. Kapitel 101 nicht, 100 schon und 99 auch. 104 wird so lala.
Natürlich gibt es einige Muster, die sich erkennen lassen, aber letztendlich ist es einfach...Glück? Ich weiß es nicht und ich fühle mich unwohl dabei, dass ihr dieses Kapitel in einem Zustand gelesen habt, der den wichtigen Themen darin nicht gerecht wird. Damit meine ich keine aufgelösten Spannungsbögen oder die Dialoge, sondern das Gesamtbild. Ihr solltet es wissen, ihr habt es gerade gelesen.
Ich denke, ich habe häufig das Problem, dass ich beim Schreiben zu visuell denke. Gleichzeitig kann das auch eine meiner größten Stärken sein, aber nur, wenn ich das dann in Worte umgewandelt bekomme, was mir in diesem Kapitel misslungen ist.
Ich weiß, das hört sich wie eine Rechtfertigung an. Ist es auch, schätze ich. Ich wünschte, ihr könntet ganz genau verstehen, was ich meine und diese Geschichte mit meinem Bewusstsein lesen. Aber das ist leider nicht möglich. Also vergesst, dass ich das hier gesagt habe. Stellt euch vor, das Kapitel wäre gut, und habt Geduld mit etwas, über das ich keine Kontrolle habe. Ich bin euch allen sehr dankbar.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro