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Ihr habt lange genug auf Smut warten müssen...
Louis
Auf meinen Füßen vor und zurück wippend, wartete ich ungeduldig darauf, dass Harry die Badezimmertür hinter sich schloss. Erst als das mit einem leisen Klicken geschah, lief ich eilig in mein Zimmer. Unachtsam schmiss ich die Jeansjacke auf mein Bett. Doch schon in der nächsten Sekunde belehrte ich mich eines Besseren. Ich angelte die Jacke von der Matratze und legte sie mit zwei Griffen zu einem halbwegs ordentlichen Stück Stoff zusammen, um sie dann auf einem runden Sitzhocker zu platzieren, der viel zu teuer gewesen war, wenn man bedachte, wie wenig ich ihn in den letzten Jahren benutzt hatte.
»Na dann mal los.«, murmelte ich mir selbst zu und ließ mich vor meinem Schreibtisch auf die Knie fallen. Ich konnte hören, wie Harry die Dusche anstellte.
Ohne mir weiter Zeit zu lassen, öffnete ich alle Fächer des Schreibtisches. Die Schubladen, die früher mal mit vernachlässigtem Schulzeug gefüllt gewesen waren, waren jetzt mit zahlreichen Kerzen vollgestopft. Wahllos griff ich eine Auswahl an dicken Kerzenstümpfen und Teelichtern heraus.
Als ich aus Sardinien zurückgekommen war, hatte ich einen Abend hier in London verbracht, bevor meine Eltern mich am nächsten Tag zurück zum Internat fahren gelassen hatten. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch daran geglaubt hatte, dass Harry und ich nur ein paar Tage später vor der Rückkehr der anderen Schüler zum ersten Mal miteinander schlafen würden, hatte ich natürlich gewusst, dass wir nur wenige Wochen danach zusammen hier sein würden. Und Harry hatte das Okay für Sex gegeben. Also hatte ich den einen Abend hier genutzt, um die nötigen – und unnötigen – Besorgungen zu machen.
Ich begann zu summen, als ich die Kerzen ziemlich willkürlich im ganzen Zimmer verteilte. Es bestand nirgendwo die Gefahr, dass irgendetwas in Brand gesetzt werden könnte. Mein Zimmer war aufgeräumt. Ich lebte seit Monaten nicht mehr hier. Nur auf den Sicherheitsabstand zum Bett achtete ich. Sex und Feuerakrobatik waren doch zwei Dinge, die ich nicht miteinander vereinen wollte. Zumindest noch nicht bei Harrys erstem Mal.
Fand ich das mit den Kerzen etwas albern? Ja. Natürlich. Aber es war Harry. Er würde es lieben.
Ich hatte immerhin ungefähr alle seine Traumprinz-Fantasien mit irgendeiner Art gnadenlosem Kettenfahrzeug überrollt. Da schuldete ich ihm das hier. Meine romantische Ader war nicht besonders kreativ, ich hatte nicht viel mehr als die Idee mit den Kerzen aus ihr abzapfen können. Rosenblätter waren mir zu krass erschienen. Tut mir leid, Harry, selbst für dich nicht.
Aber Kerzenschein war noch halbwegs geschmackvoll, fand ich. Ich konnte verstehen, was romantisch daran war. Außerdem war Licht ein zu oft unter den Teppich gekehrtes Problem, was Sex betraf. Ganz dunkel konnte seltsam sein. Auf keinen Fall gut für Harrys erstes Mal. Aber Deckenlampen fluteten einen Raum künstlich mit Licht – auch nicht gerade die beste Atmosphäre. Vielleicht wären Kerzen wirklich die endgültige Lösung für dieses Problem. Womöglich waren Romantiker am Ende des Tages einfach nur Pragmatiker.
Das Wasser wurde abgedreht. Erschrocken sah ich auf. Eilig schloss ich die Schreibtischschubladen. Einen kurzen Moment später ertönte das gedämpfte Dröhnen des Föhns. Erleichtert seufzte ich. Also blieb mir doch noch Zeit, die Kerzen anzuzünden.
Ich wusste, an welchen Stellen in meinem Zimmer ich nach Feuerzeugen suchen musste. Der eine Gegenstand, den man innerhalb dieser vier Wände garantiert immer finden würde. Gute alte Zeit.
Naja. Schlechte alte Zeit.
Es war ein bisschen wackelig, als ich auf den Schreibtischstuhl kletterte, aber ich schaffte es, den Rauchmelder auszuschalten, ohne den Alarm auszulösen. Sehr gut. Das war mein größtes Bedenken gewesen. Nicht mal Rosenblätter hätten die Atmosphäre retten können, wenn der Feueralarm erstmal losging.
Systematisch zündete ich die Kerzen an, eine nach der anderen. Schnell schmeckte die Luft nach der Art von Geborgenheit, die flüssiges Wachs und flackernde Flammen mit sich brachten. Ja, Harry würde es lieben.
Als alle Kerzen brannten, blieb ich ein wenig fassungslos in der Mitte des Raumes stehen. Plötzlich machte es Sinn. Ich konnte den Charme des Kerzenlichts verstehen, des warmen Waberns an den hellen Wänden. Zufrieden lächelte ich.
So sanft wie möglich schloss ich die Zimmertür hinter mir. Ich wollte schließlich nicht gleich wieder einen Luftzug erzeugen, der all meine Arbeit zunichte machte. Der Föhn blies im Bad noch immer munter vor sich hin.
Ohne in irgendeiner Weise einen bestimmten Plan zu haben, stieg ich die breite Treppe hinab. Aus Gewohnheit ging ich in die Küche. Es war seltsam, dort keine zubereiteten Mahlzeiten vorzufinden. Ich überflog die wenigen Schranktüren, die verglast waren, aber fand nichts, das mich reizte. Ich hatte genügend gegessen vorhin. Harry war eher zurückhaltend gewesen – aus offensichtlichen Gründen.
Es war eine interessante Frage, wie wir beide ganz genau wissen konnten, wie es passieren würde. Waren es unsere Persönlichkeiten? Oder die Dynamik unserer Beziehung? Vielleicht meine Erfahrung? Was hatten Rollen beim Sex mit Intuition zu tun? Woher kam es, dass Harry und ich in dieser Sache übereinstimmten, ohne je ein einziges Wort darüber gewechselt zu haben?
Ich wusste es nicht, das war die Wahrheit.
Ohne Antworten auf diese Fragen schlenderte ich weiter ins Wohnzimmer. Oder eher das, was in meiner Familie aus Normalitätsgründen als Wohnzimmer bezeichnet wurde, auch wenn allein dieser Raum groß genug war, um eine weitere Familie unterzubringen.
Ich ließ mich auf die helle Couch fallen, auf der ich als kleiner Junge nicht hatte essen dürfen, nicht mal trinken. Das Verbot war in den letzten Jahren nur aufgehoben worden, weil meine Eltern sich bewusst gewesen waren, dass es mich nur noch mehr dazu angestiftet hätte, dagegen zu verstoßen. Aus Prinzip. Nicht ein einziger Teil von mir vermisste diese performative Rebellion.
Als die Badtür oben geöffnet wurde, rief ich Harrys Namen. Mir war das Verstummen des Föhns nicht aufgefallen. Seine Schritte auf der Treppe waren so schwach vernehmbar, dass ich wusste, dass er barfuß war.
»Lou?«, fragte er aus der offenen Eingangshalle, ich antwortete ihm mit einem hilfsbereiten ›Hier‹. Wenige Momente später stand er in der Tür. Er sah perfekt aus, wie immer. Der Schein der vom Duschen rosigen Haut verlieh ihm ein unwirkliches Aussehen.
»Hi«, lächelte er so zart, dass seine Wangen grübchenlos blieben. Über einer hellen Jeans trug er das weiße T-Shirt, das ich ihm zum Schlafen gegeben hatte.
»Hi« Ich strich über das freie Polster neben mir und Harry ließ sich fallen. Der Geruch meines Shampoos hing in seinen Haaren. Ich schloss die Augen und ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Seine reine Wärme schien unendlich.
»Ich bin ein bisschen nervös.« Harrys Fingerspitzen strichen über meine Handinnenfläche. »Aber ich will...das alles hier. Dich.«
Ich schloss meine Hände um Harrys Finger und schlug die Augen auf. »Das hört sich perfekt an für mich.«
»Bist du nervös?«, fragte Harry ruhig, nur um mich, anstatt auf meine Antwort zu warten, mit süßem Atem zu küssen.
Es fühlte sich alles zu richtig an, um falsch zu sein. Harrys weiche Locken wickelten sich wie von selbst um meine Finger. Sein Mund schmeckte warm und minzig.
Aber ich lehnte mich leicht zurück. »Ich bin nicht sicher.«, beantwortete ich die offen gebliebene Frage. »Ein bisschen bestimmt.«
Harry küsste meine Unterlippe, dann die weiche Haut zwischen meinem Kiefer und meinem Hals. »Das hört sich perfekt an für mich.«, lächelte er. Ich schloss meine Arme um seine schlanke Taille. Mein Hände schienen die perfekt Größe für seinen Körper zu haben. Ich zog ihn näher zu mir.
Sanft fuhren meine Finger Harrys Seiten entlang, unter dem Shirt war seine Haut weich und empfindlich in meiner Berührung. Ein Zittern öffnete Harrys Lippen gegen meinen Hals, wann immer ich eine sensiblere Stelle fand. Die Küsse, die Harry auf meinem Hals verteilte, brannten sich durch das Gewebe und ließen mich schwer schlucken. Mein Atem setzte für ein paar Sekunden aus, nur um dann umso kräftiger zurückzukehren.
Ich strich mit meinen Daumen über Harrys Hüftknochen, und spürte eine tiefe körperliche Sehnsucht aus genau der gleichen Region meines eigenen Körpers. Sex mit Harry. Wie hatte ich dem so lange widerstehen können?
Mit gieriger werdenden Fingern hob ich Harrys Kinn an. Als ich ihn küsste, war seine Zunge heiß gegen meine. Je mehr sein Geschmack auf meinen Lippen klebte, desto mehr der Nervosität verflog. Die wenigen Überreste intensivierten die prickelnde Aufregung in mir auf die beste Weise.
Während ich Harry noch immer nachlässig küsste, fanden seine Hände den Bund meiner Hose. Er rutschte heiß und schwer auf meinen Schoß und am liebsten hätte ich ihm hier und jetzt gegeben, was wir beide wollten. Aber die in meinem Zimmer brennenden Kerzen hatten mein Bewusstsein zum Glück noch nicht komplett verlassen. Harry würde sie so sehr lieben.
Ich schob ihn behutsam, aber entschlossen von mir herunter. Auf nicht ganz standhaften Beinen drückte ich mich vom Sofa. Harrys fragende Augen glommen groß und grün, aber er ließ sich von mir hochziehen.
»Lass uns lieber nach oben gehen.«, erklärte ich mit etwas fahriger Zunge. Aber es reichte aus. Ich wollte Harrys Hand nehmen, um mit ihm zusammen schnell den Weg in mein Zimmer zu bewältigen, aber wieder küsste er mich. Seine Lippen wurden sorgloser und gleichzeitig fordernder.
Den Kuss erwidernd umfasste ich wieder seine Hüfte und dirigierte ihn so gut es ging rückwärts aus der Tür des Wohnzimmers und über das Parkett der Eingangshalle. Eine von Harrys Händen lag in meinen Haaren, die andere auf meinem ihn umfassenden Oberarm. Elektrisierend füllte Harrys Atem meinen Mund, ich leckte die warme Feuchtigkeit aus seinem.
Unsere Schritte waren torkelnd und überfordert, aber wir wollten beide oben ankommen, also gaben wir es nicht auf. Ich blinzelte mich genügend durch Harrys Berührungen, um den Weg angeben zu können.
Erst als wir die Treppe erreichten, verlor ich ein bisschen die Kontrolle. Harrys nackte Füße stolperten unbeholfen über die unterste Stufe und sein Oberkörper wurde hart gegen meinen gedrückt. Ich stützte mich gegen das Geländer in meinem Rücken ab, während Harry gegen meine Lippen lachte.
»Oops«, grinste er, mit seinen scheinbar dunkler werdenden Wimpern blinzelnd. Ich lachte seicht und ließ dieses Mal die Augen offen, als ich Harry herumdrehte. Noch immer umfasste ich seine Hüfte, aber jetzt sahen wir beide geradeaus und, seinen Rücken gegen meine Brust, schlingerten wir die Treppe hinauf. Harrys Kichern klang unbeschwert und adrenalingeladen in meinen Ohren nach. Das Haus schien so viel größer, jetzt, wo ich ein Ziel hatte.
Ich entschied mich dazu, auch den Rest des Weges am oberen Ende der Treppe so zu bewältigen, wie wir es bis hierhin geschafft hatten. Harrys Füße tapsten gehorsam in die Richtung meines leichten Druckes. Ich küsste seinen Nacken großflächig, sein Körper antwortete mit einer Gänsehaut und taumelndem Atem. Das Kichern hing noch immer tanzend auf seinen Lippen, als fehlte ihm die Kraft, es zu stoppen.
Endlich gelangten wir zu meinem Zimmer. Harry drehte sich in meinen Armen herum und küsste mich jetzt wieder auf den Mund. Er drückte seinen eigenen Rücken gegen die Tür. Ich erwiderte seinen Kuss nur kurz und schlampig, bevor ich schon nach dem Türgriff tastete. Ich wollte Harrys leuchtende Augen beim Anblick des Zimmers sehen. Ich wollte auf den makellosen Zügen seines Gesichtes den Moment erleben, in dem er realisierte, dass sein erstes Mal so perfekt werden würde, wie er es sich immer gewünscht hatte.
Die Tür schwang langsam auf, als ich die Klinke gefunden hatte. Die Spitzen von Harrys glänzenden Locken schienen mit den Kerzen zu flackern. Der wohlige Geruch der Flammen waberte uns entgegen und ließ Harrys Augen überrascht weiter werden.
Zufrieden und plötzlich noch aufgeregter lächelte ich. Sanft umfasste ich seine Schultern und drehte ihn zur offenen Tür um. Geschmeidig schob ich mich neben ihn.
Seine Reaktion fiel noch viel heftiger aus, als ich es erwartet hatte. Harrys Mund öffnete sich leicht, das Gesicht erstarrte und die Wangen wurden blass. Schatten des goldenen Kerzenlichts tanzten über die versteinerte Miene. Volltreffer. Harry zu überraschen war noch leichter, als ich gedacht hatte.
Ich griff wieder nach seiner Taille und wollte ihn lächelnd küssen, aber plötzlich löste sich etwas, das ich als Röcheln betiteln könnte aus seiner Kehle. Erschrocken zuckte ich zurück. Ja, beim Sex gab es seltsame Geräusche. Aber das hier war keines davon gewesen. Kein Gutes jedenfalls.
Besorgt runzelte ich die Stirn. »Haz?« Ich versuchte zu verstehen, welchen Punkt seine Augen fixierten, aber es war unmöglich. Die kleinen Flammen spiegelten sich wie Sterne auf den jadegrünen Sprenkeln. Mir fiel auf, dass seine Nasenflügel bebten, obwohl er laut und stoßhaft durch den Mund atmete. Würde er etwa anfangen zu weinen?
»Harry?«, fragte ich wieder und dieses Mal hörte ich die Beunruhigung in meiner Stimme. Er zeigte keine Reaktion. Für einen kurzen Moment flatterten seine Augenlider, ohne sich ganz zu schließen. Als sich wirklich Tränen in Harrys Augen zu sammeln begannen, verkrampfte sich mein Magen.
»Harry, geht es dir gut?« Ich griff nach seiner Hand und verflocht unsere Finger miteinander. Nur, dass seine Finger den Druck meiner nicht erwiderten. Langsam begann sein weißes Gesicht mir Angst zu machen. »Harry?«
Wieder sah ich mich im Zimmer um, als gäbe es etwas, das ich übersehen hätte. Einen Grund, Harry von einer Sekunde auf die anderen in einen bewegungslosen Block Eis zu verwandeln. Aber es schien alles normal. Keine der Kerzen hatte irgendwelche Vorhänge in Brand gesetzt. Keine Möbel waren unbemerkt gestohlen worden. Kein Axtmörder stand in der Mitte des Raumes.
Ich drehte mich zurück zu Harry. Und dieses Mal war ich es, der fast vor Schreck ein Röcheln ausgestoßen hätte. Harry hatte begonnen zu zittern. Seine Lippen, seine Augenlider, seine Schultern, seine Knie. Als stünden seine Füße nicht auf dem gleichen festen Boden wie meine, bebte sein Körper unkontrolliert. Panisch umfasste ich auch seine zweite Hand.
»Harry?!« Ich schüttelte seine Hände in der verzweifelten Hoffnung, dass das die passende Maßnahme gegen das Zittern war. Aber er zitterte weiter und plötzlich hatte ich Angst, dass seine Beine nachgeben könnten. Ohne groß darüber nachzudenken, ließ ich mich auf meine Knie fallen und zog ihn unbeholfen mit auf den kalten Boden. Ein weiteres, raues Geräusch verließ Harrys Lippen. Ängstlich zuckte mein Blick über Harrys unruhigen Körper. Wieder schnappte er nach Luft.
Das Adrenalin in meinem Körper war plötzlich von einer ganz anderen Art als noch vor ein paar Minuten. Ich fuhr mir, jetzt selber zittrig, durch die Haare und versuchte, einen klaren Gedanken zu formen. »Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein-« Beinahe verschluckte ich mich an meinen eigenen Worten, als sich plötzlich Erinnerungen vor mein inneres Auge schoben.
Harry, Anfang letzten Herbstes, sein schmaler Körper keuchend auf seinem Bett liegend. Niall, wie er aus seinem Zimmer gerannt war, um ihm zu helfen.
Und dann wieder Niall, gestern, mit der Sonne im eindringlichen Gesicht. ›Wenn irgendwas passiert, dann ruf einfach an. Du wirst es dann wissen.‹
War das hier genau dieser Moment?
Ich stolperte zu meinem Schreibtisch, Harrys Kopf sank auf den Boden. Sein Atem pfiff in seinem Rachen. Das Prepaid-Handy steckte noch immer in der Tasche der Jeansjacke. Mit meiner Kontrolle entschwindenden Fingern wählte ich mit einer Taste den einzigen eingespeicherten Kontakt. Das Internat. Ängstlich drückte ich mir das kleine Gerät gegens Ohr. Harrys Zittern hielt an, die Finger seiner rechten Hand waren verkrampft.
Ein dumpfes Tuten drang an mein Ohr. Ich rannte im Kreis und versuchte mich auch an nur eine einzige Maßnahme aus dem Erste-Hilfe-Training für meinen Führerschein zu erinnern. Doch mein Kopf war leer. Harry keuchte. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Lippen sich ganz leicht zu bewegen schienen, wie in Erinnerung an längst vergessene Worte.
Vielleicht war das hier ein Albtraum. Vielleicht lag ich in meinem Bett mitten im Nirgendwo der grenzenlosen, englischen Landschaft. Vielleicht waren wir noch nicht nach London aufgebrochen. Vielleicht schlief Harry ruhig in meinen Armen, anstatt sich hier auf dem Boden meines Kindheitszimmers in ein weißes Zombie zu verwandeln.
Plötzlich realisierte ich, wie komplett irre ich mich benahm. Erschrocken schnappte ich nach Luft, als hätte Harry mich angesteckt. Fast hätte ich das Handy in eine Ecke geworfen. Was tat ich hier? Wieso wählte ich die Nummer des verdammten, nutzlosen Internats? Was hatte Evelyn Carter mit ihrem standhaften Lächeln mit alldem hier zu tun? Harry brauchte einen Krankenwagen!
Ich stürmte aus dem Zimmer. Mein Handy müsste irgendwo unten rumliegen. Wohnzimmer? Küche? Ich würde es finden. 999, so schnell wie möglich. Ich übersprang jede zweite Stufe der breiten Treppe und stand nur wenige Sekunden später in der Küche. Panisch suchte ich alle freien Oberflächen mit den Augen ab.
Doch wieder überkam mich das Verständnis über meine eigene Dummheit wie ein Schlag. Das Prepaid-Handy, das ich mir noch immer gegens Ohr drückte! Damit konnte ich genauso gut den Krankenwagen rufen! Ich riss es mir vom Ohr.
Aber als mein Daumen über der kleinen Taste mit dem roten Hörer schwebte, hörte ich plötzlich eine Stimme, die so laut ins Telefon schrie, dass ich es selbst so hören konnte.
Ein lang gezogenes ›Heeyyy!‹ drang aus dem winzigen Lautsprecher. Ich starrte das Handy an, als hätte es sich in ein lebendiges Tier verwandelt. Hilflos presste ich es wieder gegen meine Wange.
»Hallo?!«
»Hi!« Nialls Stimme war so sorglos, wie meine verzweifelt war. »Na endlich! Ihr ruft an!«
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...da könnt ihr auch noch ein bisschen länger warten :)
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