Sweet Dreams
Obwohl sie hundemüde war, wollte sie die Augen nicht schließen. Es war die Hölle.
Also nicht, dass sie nicht schlafen konnte. Das natürlich auch. Jeder, der schon einmal zwei oder drei Nächte am Stück nicht geschlafen hatte, konnte wahrscheinlich nachvollziehen, wie Schlafentzug als Hölle empfunden werden konnte. Doch Jamie meinte es wortwörtlich.
Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, befand sie sich in einem schwarzen Raum. Sozusagen.
Es war weniger ein Raum und viel mehr ein Nichts. Keine Geräusche, keine Menschen, kein Licht, keine Farben. Einfach nur Dunkelheit umgab sie.
Es machte ihr furchtbare Angst.
Nachdem sie das erste Mal nach Luft schnappend wieder aufgewacht war, hatte sie jedes Mal, wenn sie ihre Augen schloss, wieder das Gefühl, in dem tiefen Sumpf des Nichts zu verschwinden. Es kroch kalt über sie hinweg und drückte sie immer schwerer in die Kissen, lähmte sie. Daher bevorzugte sie es für den Moment, einfach gar nicht zu schlafen.
Ein Blick auf ihren Wecker verriet ihr, dass es 04:21 Uhr war. Mit jeder vergehenden Minute wurde es schwerer, dem Schlaf zu widerstehen. Ein Kratzen an ihrem Fenster schreckte sie auf, und sie suchte auf ihrem Nachttisch nach dem Lichtschalter für ihre Nachttischlampe.
Als sie sich wieder zum Fenster drehte, blieb ihr ein Schrei im Hals stecken, so sehr erschrak sie.
Billy lehnte lässig an den Fensterrahmen gelehnt in ihrem Zimmer und zündete sich eine Zigarette an.
Anders als in Filmen fängt man, wenn man sich wirklich stark erschrickt, nicht an zu schreien, stellte sie fest. Dafür war das Gehirn viel zu sehr damit beschäftigt, Sauerstoff zu fordern. Stattdessen gab man ein komisches, gurgelndes, schnappendes Geräusch von sich. Eine Mischung aus Schreien, tief Luft holen und sich dabei an der Luft verschlucken.
Dementsprechend grunzte Jamie wie ein erstickendes Schwein.
Billy hob eine Augenbraue und blies den Rauch ihr zunickend durch die Nase aus. Es dauerte einen Moment, bis Jamie überhaupt ihr Gehirn wieder dazu animiert hatte, normal weiter zu atmen, sodass sie sprechen konnte.
„Du-"
Jamie wirbelte aus dem Bett und versuchte sich dabei nicht in ihren Laken zu verheddern. Sie stolperte auf Billy zu und öffnete das Fenster.
„Um Himmels Willen, du kannst hier drin nicht rauchen. Meine Mutter bringt mich um, wenn sie das riecht!", war der erste vollständige Satz, den sie herausbrachte. Eigentlich wollte sie etwas in der Art von „Du geistesgestörter Vollidiot, wie bist du in mein Zimmer gekommen?!" sagen, doch irgendwo auf dem Weg zwischen ihrem Gehirn und ihrem Mund wurden die Prioritäten wohl anders geordnet, und sie wedelte den stinkenden Rauch nach draußen. Wütend deutete sie auf seine Zigarette. „Mach das aus!"
Billy nahm einen letzten sehr tiefen Zug und schnippte den Stängel dann nach draußen.
Mit großen Augen sah sie dem Glimmstängel hinterher und betete, dass er nicht auf dem ausgetrockneten Gras landen würde. Dass ihr Haus in Flammen stand, hatte ihr gerade noch gefehlt.
Sie drehte sich fassungslos zu Billy um, der ihr in der Sekunde den Rauch ins Gesicht blies und sie mit gehobenem Mundwinkel angrinste.
„Danke, dass du mir das Shirt vorbeigebracht hast!", sagte er vollkommen unerwartet sowie kontextlos und ließ Jamie ratlos stehen.
Sicher, sie brach auch immer nachts in fremde Häuser ein, um sich für solche Dinge zu bedanken. Das war ja etwas, was man regelmäßig tat - ganz normal.
„Nicht der Rede wert!", setzte ihre antrainierte Höflichkeit ein, während sie sich noch sammeln musste. Billys Grinsen wurde breiter, während er an ihr vorbeiging und sich auf ihr Bett fallen ließ, als wäre es das Natürlichste der Welt und sie die besten Freunde.
Sie musste aussehen wie ein Reh, das die Scheinwerfer eines Autos erblickte.
Selbstgefällig sah Billy sich in ihrem Zimmer um, und sie folgte seinem Blick. Es war komisch, wie man sein eigenes Zimmer auf einmal ganz anders wahrnahm, wenn jemand es betrat, den man beeindrucken wollte.
Nicht, dass dies hier der Fall gewesen wäre. Jamie wollte Billy natürlich nicht beeindrucken. Warum auch? Sie mochte ihn ja nicht einmal. Und deswegen würde sie ihn jetzt auch rausschmeißen. So.
Sie ging auf ihr Bett zu, den Arm hebend und auf das Fenster zeigend. „Billy, verlass sofort mein Ha-," doch er unterbrach sie.
„Oh, die Lavalampe habe ich auch!"
Und damit nahm er ihr den Wind aus den Segeln. Perplex blieb sie stehen und sah ihre Lampe an, die noch immer leuchtete.
Es war merkwürdig, sich Billy in seinem Zimmer liegend und eine Lavalampe beobachtend vorzustellen. Es war generell merkwürdig, sich Billy in einer menschlichen, alltäglichen Situation vorzustellen. Punkt.
Jamie legte ratlos den Kopf schief. Das war alles so surreal. Hatte sie vielleicht doch schon Halluzinationen aufgrund des Schlafentzugs? Sie war so verdammt müde.
„Billy, ich will schlafen!", jammerte sie und rieb sich wie ein Kleinkind die Augen. Sie deutete auf ihr Bett, auf dem er sich ausgebreitet und zufrieden in ihre Kissen gekuschelt hatte. Er zuckte mit den Schultern.
„Ich halte dich nicht auf.", sagte er nur und grinste weiter frech.
„Ähm, doch Billy, das tust du.", grummelte Jamie und versuchte, sich nicht durch seine nächste Handlung durcheinanderbringen zu lassen.
Billy rutschte ein Stück zur Seite und klopfte auf den freien Platz neben sich, als würde er sie ins Bett einladen. Ihr Bett, wohlgemerkt. Herausfordernd schaute er zu ihr hoch, seine Augen blitzten.
„Du denkst, dass ich mich nicht neben dich legen würde und du einfach weiter bräsig da liegen bleiben kannst.", schlussfolgerte Jamie. Billy schaute unschuldig zu ihr hoch.
„Ms. McNeill, was trauen Sie mir für ein Verhalten zu?"
„Das Schlimmste!", murmelte Jamie und fixierte ihn weiter.
Er lag noch immer mit seinem dämlichen Grinsen da. Gott, wie gerne würde sie ihm das aus dem Gesicht wischen. Hätte sie neben ihrem Bett ein Glas Wasser stehen gehabt, hätte sie es nun über ihm ausgekippt, aber so...
Je länger sie nachdenklich vor dem Bett stand, desto mehr nervte sie dieses Grinsen. Billy hatte mittlerweile seine Arme hinter seinem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Jamie rang mit sich.
Würde sie sich tatsächlich neben ihn legen, bekäme er, was er wollte. Sie konnte ihn schlecht aus dem Bett schleifen und aus dem Fenster werfen (-da war wieder dieses Kräfteungleichgewicht), und ihre Mutter wecken wollte sie nach den letzten 24 Stunden auch nicht. Und er tat ja auch nichts Schlimmes. Er nervte sie nur.
Nervte sie, wie er da in seiner ganzen Länge lag, sich zufrieden zwischen ihren Kissen räkelte und beinahe unanständig zu seufzen begann.
„Okay, jetzt reicht's!"
Sie schnappte sich ihren blau-grauen Überwurf von ihrem Hocker in der Ecke und krabbelte zurück in ihr Bett, wobei sie kurzerhand Billy mit der geringen Kraft, die sie besaß, noch weiter an den Rand schob und die Bettdecke unter ihm hervorzog. Billy schlug die Augen auf und begann zu lachen.
„Ich wusste es doch, du kommst noch zum Kuscheln!", gluckste er und machte Anstalten, sich an sie heranrobben zu wollen. Sie schleuderte ihm den Überwurf ins Gesicht.
„Komm noch näher, und das Körperteil, das mich berührt, wird abgehakt", knurrte sie. Billy lachte wieder, blieb dann aber, wo er war.
„Keine Sorge, dich krieg ich auch noch."
Jamie schnaubte schläfrig.
„Träum weiter."
Eine ganze Weile war es still. Jamie musste zugeben (-obwohl sie es ganz sicher nicht wollte), dass gleichmäßiges Atmen in ihrem Rücken sie beruhigte.
Träge zogen ihre Gedanken durch ihr Hirn. Zum ersten Mal an diesem Abend waren sie nicht zerfressen von dunklen Erinnerungen und der Angst vor dem Nichts. Langsam aber sicher fiel sie in den Schlaf. Als sie kurz davor war, komplett in die Traumwelt zu gleiten, meinte sie noch zu hören „Vielleicht tue ich das wirklich.", dann war sie weg.
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