Still a long road ahead
Gleißendes Sonnenlicht erhellt ihr Zimmer, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, um keine Kopfschmerzen zu bekommen. Ein paar Mal atmete sie tief ein und aus, beruhigte ihr rasendes Herz, während ihr Shirt wie eine zweite Haut an ihr klebte, so durchgeschwitzt war es.
„Ein Traum, nur ein Traum", wiederholte sie wieder und wieder und konnte sich trotzdem nicht davon abhalten, dass ihr eine vereinzelte Träne über die Wange lief. Wütend strich sie diese weg und bekam eine Gänsehaut, als sie an das Monster dachte, welches auf sie zugerannt gekommen war.
Sie hatte schon öfters Albträume gehabt, gerade zuletzt auch von Billy geträumt, aber das war anders gewesen. Zu real. Sie konnte geradezu spüren, wie sich die Tentakel der gesichtslosen Monsters auf sie zu bewegten, sie berührten und sich dessen unförmige Hände nach ihr ausstreckten, ihre Enden versehen mit Zähnen wie fleischfressende Pflanzen.
Etwas streifte gegen ihren Fuß, und sie schrie auf, während sie aus dem Bett sprang.
Sie stieß die Lavalampe um, die in tausend Stücke zerbrach. Das lilafarbene Wachs verteilte sich zwischen den Scherben und dem Wasser auf ihrem Fußboden. Sie war gerade dabei, die großen Teile der zerbrochenen Lampe zusammenzusammeln, als ihre Mutter die Tür aufriss.
„Ah! Scheiße!", fluchte Jamie, als sie erschrocken aufsprang und sich vor Schreck an der scharfen Kante des Glases schnitt. Wieder am Fuß. Wieder die Stelle, die noch nicht wirklich verheilt gewesen war. Dunkel mischte sich ihr Blut mit dem Wasser und dem Wachs auf ihrem Boden.
„Oh Schätzchen, was ist passiert?", ihre Mama kam um ihr Bett herumgelaufen und wäre geradezu ihrerseits in eine weitere große Glasscherbe getreten, hätte Jamie sie nicht angeschrien und zum Stehen bleiben aufgefordert. Ihre Mutter gefror an Ort und Stelle und musterte ihr Kind. Unter den fürsorglichen Blicken von Claire McNeill wurde es ihr plötzlich zu viel, und sie brach in Tränen aus.
Anscheinend war es sehr augenscheinlich, dass Jamie alles andere als eine gute Nacht gehabt hatte.
Langsam und mit erhobenen Händen kam sie auf Jamie zu. Ihre Mutter nahm ihr die Scherben vorsichtig ab und legte ihre Hand auf Jamies. „Schätzchen, irgendetwas stimmt nicht mit dir.." Eindringlich sah sie ihr in die Augen, fragend und flehend eine Aufforderung, mit ihr zu reden.
„Mir geht's gut", kam es Jamie automatisiert über die Lippen, ohne dass sie weiter nachdenken musste, doch ihr Schluchzen, das ihrer Kehle entstieg, strafte ihrer Worte Lügen.
Ihre Mutter strich ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht, welche ihr an der Stirn klebte. „Nein, geht es nicht. Du siehst krank aus. Du bist mit den Nerven vollkommen am Ende und du hast du blutest hier den Boden voll. Ich fahre dich zum Arzt", stellte sie entschlossen fest und nahm ihr die Scherben aus der Hand, wobei an der einen noch immer das Blut der frischen Wunde rot leuchtete - passend zu dem noch immer fließenden Blut aus ihrer Wunde.
„Nein, ich bin nur müde. Ich muss nur mal wieder richtig schl-"Ein Blick ihrer Mutter reichte, dass ihr der restliche Protest im Halse stecken blieb, und sie nickte.„Ich zieh mich an."
Jamie stand auf und ging aus dem Zimmer ins rosafarbene Badezimmer, wo sie sich schnell wieder fangen konnte und ihre Wunde zumindest einmal notdürftig ausspülte. Sie musste irgendwie etwas von dem dunklen Wachs an der Verletzung oder ihrer Hand gehabt haben, überlegte sie noch, als sie ihren Fuß unter den Strahl des kalten Wassers hielt. Ihr Blut war ungewöhnlich dunkel und dickflüssig, ehe es in den Tiefen des Abflussrohres verschwand.
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Die Bäume zogen an der kalten Fensterscheibe des Autos vorbei, während Jamie ihren schweren Kopf gegen das Glas fallen ließ. Der Arzt hatte sich ihre Wunde angesehen, den Kopf geschüttelt und mit sexistischen Äußerungen um sich werfend ein wenig geschimpft, dass sie nicht früher gekommen waren.
„Da fehlt ihnen zu Hause wohl der Mann im Haus, der ihnen mal etwas einheizt, dass sie zu Pötte kommen", hatte er gelacht, und Jamie dann verschwörerisch zugezwinkert, als hätte er einen ganz tollen Witz gerissen. Weder Jamie noch ihre Mutter hatten gelacht.
Immerhin hatte er dann eingesehen, dass er bei ihnen beiden mit seinen Witzen an der falschen Adresse war und sich aufs Wesentliche konzentriert. Eine Blutabnahme und ein Blick auf die Wunde, und der Arzt kam zu der grandiosen Diagnose: „Das sieht infiziert aus. Außerdem gefällt mir ihre Gesichtsfarbe nicht, und Sie sind verschwitzt. Sie scheinen Fieber zu haben. Nehmen Sie die nächsten zwei Wochen Antibiotikum, und sehen Sie zu, dass Sie regelmäßig den Verband wechseln."
Jamie hatte ihrer Mutter einen vielsagenden Blick über die Schulter zugeworfen, der sagen sollte „Siehst du, ich habs dir doch gesagt. Alles, was der Arzt zu sagen hat, hätte ich dir auch sagen können. Antibiotikum und Ruhe." Doch ihre Mutter ignorierte sie stoisch und nickte bei allem, was der Arzt zu sagen hatte. Jamie war sicher, ihre Mutter würde sie notfalls an den Haaren wieder zum Kontrolltermin zurückschleifen, egal wie unnötig und teuer der jeztige Termin bereits gewesen war. Unter strengen Blicken des Arztes und ihrer Mutter schluckte sie noch in der Praxis die erste Ibuprofen und die erste Dosis des Antibiotikums, wobei sie eigentlich etwas gegen Tabletten hatte. Doch sie wusste, wann sie geschlagen war.
Dennoch musste Jamie zugeben, dass sie sich auf dem Weg nach Hause bereits besser fühlte. Wahrscheinlich war es nur der Placebo-Effekt und das Wissen, dass ihr verschriebenes Antibiotikum wohl fast jede noch so schlimme, durch Körperflüssigkeiten übertragbare, Krankheit abtöten würde, was sie beruhigte. Doch es war nicht zu leugnen, dass ihr wesentlich leichter um die Brust war.
Eine Tatsache, die ihre Mutter natürlich bemerkte und sie ihrerseits wieder etwas geselliger stimmte. Sie sagte nichts, doch ihr Schweigen und ihr zufriedenes, selbstgerechtes Grinsen von der Fahrerseite aus schrie lauter, als sie es jemals hätte können.
Jamie schnaubte und drehte den Kopf wieder so, dass sie nach draußen sehen konnte.
Es war merkwürdig, wie beruhigend es hier auf dem Land war, beim Fahren aus dem Fenster schauen zu können. Sie erinnerte sich, in Seattle immer das Gefühl gehabt zu haben, von all den Gebäuden und den vollen Straßen erdrückt zu werden, doch hier in Hawkins war sie frei und konnte ihren eigenen Gedanken nachhängen.
Nachdem sie die nächste enge Kurve nahmen, spürte Jamie die Haarwurzeln an ihrem Hinterkopf kribbeln. Tief vergraben bemühte sich eine Erinnerung nach oben zu kommen. Ihr Blickfeld wurde verschwommen, sie übermannte das Gefühl eines Déjà-Vus.
„Mama, könntest du kurz langsamer-"
Ihr Auto erwischte eine Bodenschwelle und machte einen Satz. Jamie rutschte der Magen wie beim Herabrasen einer Achterbahn hinab. Sie hatte das Gefühl, die Anziehungskraft hätte sich verdoppelt und zöge sie unablässig weiter und weiter Richtung Boden. Erneut begann ihre Sicht zu verschwimmen, weshalb sie sich dem, was sie sah, nicht sicher sein konnte. Alles drehte sich. Wurde dunkel, dann wieder hell. Überschlug sich das Auto?
Sie sah erschrocken zu ihrer Mutter, welche ihr einen irritierten Blick zurückwarf und entspannt den Wagen weiter die hell erleuchtete Straße entlangfuhr, als wäre nichts, während sich draußen hinter dem Fenster auf der Fahrerseite ebenfalls im Sekundentakt die Tageszeit von Tag zu Nacht und wieder zurück änderte. Geräuschvoll klappte sie ihren Mund wieder zu und legte sich eine Hand auf ihr rasendes Herz. So viel zu der neu gewonnen Ruhe und der Wirkung ihres Antibiotikums. Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf.
Ihr Gehirn spielte ihr einen Streich, das war alles. Ein Streich!
„Alles in Ordnung, Jam?", harkte ihre Mutter nach und runzelte die Stirn, wobei sie ganz in mütterlicher Manier eine Hand vom Lenkrad auf ihre Stirn legte. „Du bist noch immer ziemlich blass um die Nase...", stellte sie weiter fest, schien aber ein wenig beruhigter. „Aber Fieber scheinst du nicht mehr zu haben. Bist eher fast schon kalt."
Das wunderte sie nicht. Sie fühlte sich, als hätte jemand sämtliche Wärme aus der Atmosphäre gezogen. Sie schlug die Hand ihrer Mutter weg.
„Jetzt reicht es aber, Mama. Ich war doch gerade beim Arzt.", schimpfte sie und fühlte sich augenblicklich schlecht, ihre Mutter so angefahren zu haben. Doch sie brauchte einfach einen Moment für sich, um sich wenigstens einmal sortieren zu können. Sie hatte das Gefühl, langsam aber sicher durchzudrehen.
Um den verletzten Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht länger aus dem Augenwinkel betrachten zu müssen, sah sie wieder stoisch aus dem Fenster, als sie an einer verlassenen alten Fabrik vorbeikamen. Erneut blitzten Bilder, ein Wechsel zwischen Helligkeit und Dunkelheit vor ihren Augen auf, mit Billy in ihrem Zentrum.
„Okay, das reicht!", fauchte sie und kniff sich in die Nasenwurzel.
„Ich hab doch gar nichts mehr gesagt!", verteidigte sich ihre Mutter angesäuert, bekam aber direkt einen freundlicheren Gesichtsausdruck, als Jamie zu erklären begann.
„Nein, nicht du.", schnauzte sie.
Stirnrunzeln ihrer Mama.
Jamie nahm einen tiefen Atemzug. Dann noch einen. Das Flimmern in ihrem Blickfeldrand hörte nicht auf, doch sie konnte ihre Stimme weit genug unter Kontrolle bekommen. "Entschuldige. Ich bin mit dem falschen Fuß heute aufgestanden."
Heute. Letzte Woche... Irgendwann war auf jeden Fall ihr Alltag mächtig auf den Kopf gestellt worden. Aber diese Verwirrung würde sie jetzt angehen. "Sag mal, magst du mich auf dem Weg nach Hause vielleicht noch einmal wo absetzen?"
Ihre Mutter beäugte sie skeptisch über den erneuten plötzlichen Stimmungswechsel, zuckte dann jedoch seufzend die Schultern und warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett.
„Klar. Ich muss dann aber direkt weiter, meine Schicht fängt in 30 Minuten an. Ist das ein Zwischenstopp, und ich soll warten, oder kommst du von da aus nach Hause?", lenkte sie resigniert ein.
„Ich komm von da aus nach Hause.", antwortete Jamie schnell und lotste ihre Mutter von da an den Weg weiter. Sie war geradezu froh, dass ihre Mutter sie nur rauswarf und mit dem Auto direkt wieder weiterfuhr, ohne viele Fragen zu stellen.
Sie war nicht heiß darauf, ihrer Mutter zu erklären, warum sie Jamie vor Billys Haus rausgeschmissen hatte. Und sie hätte auch nicht beantworten wollen, wieso sie überhaupt wusste, wo Billy wohnte. Sie war noch nie in ihrem Leben hier gewesen oder kannte die Adresse, merkte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, als sie die Türklingel über dem Schild mit der Aufschrift „Hargrove" drückte - Aber das war mittlerweile bei weitem nicht mehr das merkwürdigste.
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