Oh, Rats!
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich gerädert.
Sie hatte mitten in der Nacht tatsächlich noch die Bettwäsche gewechselt und war irgendwann in einen unruhigen und wenig erholsamen Schlaf gefallen. Aber das war in Ordnung. Sie hatte ja zum Glück davor schon eine gute Mütze voll Schlaf bekommen...
...in Billys Armen.
Stöhnend rollte sie sich aus dem Bett und schlurfte zum Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel erinnerte sie daran, dass sie noch immer Jakes Pullover trug. Seufzend schälte sie sich aus den alten Klamotten und drehte die Dusche auf. Wasserdampf bildete sich in dem kleinen Badezimmer. Immer wieder wollten die Erinnerungen und die Fragen der letzten Nacht an die Oberfläche kommen. Wieder und wieder unterdrückte Jamie sie und versuchte sich aufs hier und jetzt zu konzentrieren. Während sie in die Dusche stieg schnappte sie sich die nächste herumstehende Shampooflasche und versuchte die Bedienungsanleitung auf Französisch zu lesen wobei sie parallel die Haare wusch. Ihr Gehirn brauchte irgendwas zu tun, um nicht abzuschweifen.
Sie legte den Kopf in den Nacken um das Wasser in ihre Haare fließen zu lassen, als sie einen Satz nach vorne machte.
"Ah. Fuck. Heiß!"
Sie schaute auf das Thermostat. 38 Grad. Körpertemperatur. Irritiert tippte sie dagegen. Hier musste was falsch sein. Schnell drehte sie die Einstellung runter und lehnte sich dann erneut unter den Wasserstrahl. Das Wasser war noch immer heiß, doch es verbrühte sie nicht mehr. Schnell wusch sie das Shampoo raus und krabbelte dann wieder aus der Dusche. Beim Verlassen der Dusche zeigte das Thermostat eine Temperatur von 30 Grad an.
Den Morgen hielt Jamie sich beschäftigt. Sie räumte ihr Zimmer auf, putzte das Bad, machte ein großes Frühstück und als das fertig war, direkt eine Lasagne zum Mittagessen. Bei allem war sie ganz in die Tätigkeit vertieft und sprach ihre Handlungen im Kopf mit, wobei die Geschehnisse der letzten Nacht immer wieder an die fest verschlossene Tür in ihrem Kopf kratzten und versuchten an die Oberfläche zu gelangen. Ein Kribbeln schoss ihr von den Fingerspitzen den Arm hoch als sie die Lasagne in den Ofen schob und sie bekam eine Gänsehaut. Sie schüttelte den Arm aus und starrte auf ihre Fingerspitzen, erinnerte sich, wie diese Finger sich wie ferngesteuert auf Billys Brust gelegt hatten.
"Okay, Schluss jetzt!", fluchte sie und warf sich wütend über die Lehne aufs Sofa. Während die Lasagne im Ofen vor sich hinköchelte, griff sie wieder nach Stephen King. Dabei würden ihre Gedanken bestimmt nicht abschweifen.
Sie sollte recht behalten. Cujo zerfleischte gerade die Reste seines Herrchens, als ein alles zerreißender Schrei durchs Haus ging. Jamie Buch flog im hohen Bogen durch die Luft und landete laut klatschend auf dem Fußboden, während sie bereits dabei war dem Kreischen ihrer Mutter entgegen zu rennen.
Ein Knallen, noch ein Schrei, ein Kreischen und Jamies panische Rufe hallten durchs Haus, ehe sie das Schlafzimmer ihrer Mutter erreicht hatte und zu Tode erschrocken die Tür Aufriss.
Ihre Mutter warf alles was sie zwischen die Finger bekam auf den Boden, wo eine wildgewordene Ratte wiederholt versuchte durchs Zimmer auf ihre Mutter zuzurennen. Die Schreie kamen von ihrer Mutter. Das Kreischen von der Ratte.
„JAMIE!", schrie sie und macht einen Satz nach links, wonach die Ratte, welche auf sie zugesaust war, mit einem üblen Knacken gegen die Wand krachte, schrie, und dann allem Anschein nach mit einem nicht länger funktionstüchtigem Beinchen, auf drei Beinen erneut auf sie zurannte.
„OH MEIN GOTT, WAS IST MIT DER DENN FALSCH!", schrie Jamie.
"KEINE AHNU- AHH" schrie ihre Mutter mindestens ähnlich panisch zurück und rannte auf Jamie zu. Diese schnappte sich das nächste was sie zwischen die Finger bekam, als die Ratte sich zu ihr umdrehte und ihr und ihrer fliehenden Mutter hinterher rannte.
„MACH DIE TÜR ZU!"
Ihre Mutter rannte an ihr vorbei aus ihrem Schlafzimmer und Jamie war dabei die Tür zu schließen, als die Ratte vorbei rauschte und im Hechtsprung an Jamies Hosenbein herauf krabbelte..
Jamie schrie.
Ihre Mutter schrie.
Die Ratte schrie.
In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nicht so geekelt und gleichzeitig so gefürchtet. Sie erstarrte zur Salzsäure und kniff die Augen zusammen, wartete geradezu darauf gebissen zu werden und dann einen qualvollen Tollwut Tod zu erleiden (-wobei ihr die Ironie zu ihrer aktuellen Lektüre nicht entging).
Immerhin müsste sie sich dann nicht mehr mit ihrem komplizierter werdendem Leben auseinandersetzen. Sie hätte dann kein langes Leben mehr.
Adrenalin rauschte in ihren Adern und alles geschah in Zeitlupe, dennoch konnte sie sich nicht bewegen. Und was hätte sie auch tun sollen? Schreien? Hatte sie schon, hatte nichts gebracht. Zappeln? An ihrer kalten, schwitzigen Haut spürte sie die kalten Krallen der Ratte an ihrer Schulter. Sie hätte-
Die Ratte kuschelte sich an ihren Hals ehe sie begann ihn abzulecken.
Jamie brauchte nicht länger überlegen, was sie tun könnte. Ihre Instinkte übernahmen.
Sie riss die Ratte von ihrem Hals und schleuderte sie gegen die nächste Wand. Es krachte, klatschte und dann rutschte ein Haufen glibberiges Fell an der Wand hinunter.
Eine Sekunde war es still.
Dann kreischten Jamie und ihre Mutter wieder um die Wette. Jamie sprang dabei im Kreis, schüttelte sich und wischte sich wieder und wieder über den Hals ehe sie Richtung Badezimmer rannte und kurzerhand den Kopf in die Dusche hielt und sie aufdrehte um jegliche Spuren zu beseitigen.
„Was zur Hölle war das?", schrie sie über das laute Plätschern des Wassers hinweg, nachdem sie nach einer Minute hörte wie ihre Mutter ebenfalls ins Bad kam. Ihre Mutter schüttelte sich noch immer.
„Was auch immer es war, es ist jetzt im Müll. Der Deckel ist drauf und mit großen Steinen beschwert.", sie murmelte noch weitere Sachen, die Jamie nicht hören konnte und eigentlich auch gar nicht hören wollte. Sie steckte den triefnassen Kopf aus der Dusche wieder heraus. Ihr Shirt war ebenfalls durchweicht. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, aus ihrer Kleidung wieder rauszuschlüpfen. Sie würde sie wahrscheinlich eh verbrennen. Außerdem hätte ihr das zu lange gedauert.
„Was?"
Ihre Mutter deutete auf ihr Shirt.
„Das verbrennen wir!", wiederholte sie.
„Keine Widerrede da!", stellte Jamie klar und schälte sich aus ihren rosa Teddybär Shirt.
Erst jetzt fiel ihr auf, was sie überhaupt trug. Sie musste heute morgen echt neben sich gestanden haben um nach so einem alten, dämlichen Shirt zu greifen. Zu ihrem Glück wie es scheint. Sie würde dem Shirt bestimmt nicht hinterher trauern.
Sie gab es ihrer Mutter, die es mit spitzen Fingern entgegennahm und sich schüttelte. Dann sah sie ihre Tochter wieder an.
„Oh nein Schätzchen, ich glaube die Ratte hat dich gebissen. Du hast da was"
Erschrocken sah sie in den Spiegel und betrachtete ihren Hals. Sie lief feuerrot an.
Oh ja. Ganz eindeutig hatte sie was am Hals, aber es war kein Tollwut verseuchter Rattenbiss. Leider.
Es war ein verdammter Knutschfleck. Ein Knutschfleck von Billy. Wer hätte gedacht, dass sie sich einen Rattenbiss herbeisehnte.
Übers Spiegelbild sah sie, wie ihre Mutter ihr Gesicht merkwürdig musterte und sich die gerötete Stelle genauer ansehen wollte. Schnell legte sie ihre Finger über die Stelle und wirbelte herum.
„Herrje, da pack ich mal schnell Jod drauf!", haspelte sie und öffnete die hinter dem Spiegel versteckten Schranktüren um nach dem Jod zu suchen.
Rattenbiss oder nicht, desinfizieren war bestimmt keine so doofe Idee. Beides waren unerwünschte Hausgäste die an ihrem Hals und wer weiß wo sonst noch mit ihren Zähnen gewesen waren. Himmel, wie hatte sie nur so vom Weg abkommen können?
Sie fand das kleine Fläschen und durchtränkte ein kleines Wattebäuschen mit der dunklen Flüssigkeit, ehe sie es über ihren Hals strich.
Zu doof, dass sie keinen Reinigungsalkohol hatten. Einen kräftigen Schluck davon und sie hätte bei der Gelegenheit auch gleich die Erinnerungen mit auslöschen können...
"Was war das?"
Mist. Sie hätte schon wieder laut gesprochen.
"Nichts."
Sie gab sich beschäftigt und klebte die Stelle an ihrem Hals mit einem Pflaster ab. Zwar war das genau genommen nicht notwendig, aber so blieb immerhin die Schandtat von Knutschfleck versteckt (-ihr Gehirn raste und ratterte. Wann zur Hölle hatte er ihr einen Knutschfleck verpasst? Und wieso hatte sie das nicht mitbekommen?!).
Ihr Mutter packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. Dabei nahm sie ihr Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihr in die Augen, Besorgnis im Blick.
"Jamie Schatz, was ist los mit dir?"
"N-"
"Wage es nicht, mich anzulügen. Das schaffst du eh nicht.", funkelte sie. Jamie klappte der Mund wieder zu und sie schwieg.
Ihr Mutter seufzte schwer und musterte sie genauer ehe sie die Arme sinken ließ und einen Schritt zurück trat. Doch ihr Blick blieb weiter wachsam.
"Vielleicht hätte ich doch darauf bestehen sollen, dass du nach der Sache mit deinem Vater zur Therapie gehst...Hast du wieder deine Anfälle?"
Jamie gefror zu Eis. Spürte, wie sämtliche wärme aus ihren Gliedmaßen verschwand, ihre Mimik gefror und Gefühle von Hass, Demütigung Wut und Verzweiflung sich wie scharfkantige Eisklumpen in ihren Venen breit machten und in ihrem Brustkorb schmerzhaft ihr Herz zum Stocken brachten.
Sie atmete flach. Versuchte sich den Schmerz, den alleine die Erwähnung ihrer „Anfälle" in ihr Auslöste, sich nicht anmerken zu lassen. Sie wusste, nein merkte daran, wie sich ihr Hals zugeschnürt hatte, dass jeden Satz den sie nun sagen würde, ihrer Worte Lügen strafen würden. Also machte sie eine wegwischende Handbewegung und drehte sich weg, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie tat als wolle sie ihre Sachen wegräumen, doch in Wahrheit sah sie kaum, was sie tat. Dämlichen Tränen, Tränen der Wut verwischten ihr die Sicht.
Sie räusperte sich leise.
"Mir geht's gut Mama."
Sie durfte nicht wissen, dass sie noch immer von diesen Gefühlen zerfressen wurde. Das ihr noch immer fast die Hälfte ihrer Erinnerungen an ihren Vater fehlten. Weshalb auch immer. Das sie sich nur mit absoluter Klarheit an den Tag erinnerte, an dem er verschwunden war und sie und ihre Mutter ohne ein Wort der Erklärung verlassen hatte. Sie verschloss diese mentale Erinnerung hinter drei Siegeln in ihrem Kopf und atmete tief durch.
Ihre Mutter blieb noch einen Moment im Badezimmer stehen, doch Jamie schaffte es nicht, ihr nochmal in die Augen zu schauen. Wollte ihre Besorgnis und ihr Mitleid nicht sehen.
Schließlich verließ sie unter einem Seufzen das Zimmer.
"Das hoffe ich wirklich mein Schatz. Pass einfach auf dich auf und mach nicht die gleichen Fehler wie ich, ja?"
Jamie nickte und musste trotz all ihrer Bemühungen und allem was los gewesen war, bei diesen Worten direkt wieder an Billy denken. Verdammt.
Hoffentlich war es dafür nicht schon zu spät.
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