Here goes nothing
Der Jahrmarkt war voll. Offiziell sollte er wohl als Kampagne des Bürgermeisters zum Unabhängigkeitstag am 4 Juli abends feierlich eröffnet werden, doch die ersten Fahrgeschäfte fuhren bereits vorab. Auch ein paar Buden hatten eröffnet und wie Jamies knurrender Magen erleichtert feststellte, waren ein paar Fressbuden ebenfalls dabei ihre Rollos hoch zu ziehen. Der Geruch von Fett und zuckrigen Churros wehte ihr entgegen.
"Spitze!"
Sie hielt die fettigen gedrehten Gebäckstücke in der Hand, bevor sie überhaupt bemerkte, dass sie alleine vor der kleinen Holzhütte stand.
"Billy?"
Tatsächlich war von ihm weit und breit keine Spur. Verwirrt drehte Jamie sich um. Sie waren zu Fuß zum Jahrmarkt gelaufen, eine Strecke, die eigentlich recht weit und anstrengend hätte sein können und dennoch wie im Fluge vergangen war. Sie war sehr überrascht gewesen, wie einfach es doch gewesen war mit Billy zu sprechen. Oder auch zu schweigen. Mehrmals waren sie in angenehmer Schweigsamkeit nebeneinander hergegangen, hatten sich dann und wann Blick zugeworfen und triumphierend gegrinst wenn sie den Anderen seinerseits beim Beobachten erwischt hatten. Ihr war aufgefallen, dass sie eine ganz andere Seite von Billy kennen gelernt hatte. Eine ruhige, beinahe schon friedliche 'normale' Seite. Die Anspannung, welche er sonst in auf seinen Schultern zu tragen schien, hatte sich geradezu verflüchtigt, seine Sprüche (wenn auch immer noch anzüglich) waren wesentlich wenig...bissig. Er hatte generell um einiges unbeschwerter gewirkt.
Unbeschwerter als der Billy, den sie flüchtig aus der Schule gekannt hatte, unbeschwerter als der aufgeblasene Muskelprotz aus dem Schwimmbad, unbeschwerter als der Billy der gestern auf ihrem Schreibtischstuhl gesessen und um Worte gerungen hatte...
Vielleicht hatte er doch die Wahrheit gesagt, und trug mehr als nur eine Persönlichkeit mit sich herum? Dann auf der anderen Seite, taten sie das nicht alle?
Aktuell schien jedoch keine seiner vielen Persönlichkeiten anwesend zu sein, sodass Jamie sich verwirrt im Kreis drehte. Hatte er sie etwa gerade sitzen lassen? Kurz bevor sie dabei war sich für ihre eigene Blödheit und Naivität zurecht weisen zu wollen, lenkten sie erneut anrollende Kopfschmerzen ab. Wie auch zuvor kamen sie plötzlich und heftig. Nur mit Schwierigkeiten schaffte sie es, das ihr die Churros nicht aus der Hand glitten. In die Knie ging sie trotzdem, waren die Schmerzen für sie doch zu unerträglich.
Sie kniff die Augen zusammen, sah Blitze aufleuchten. Ein Grummeln war zu hören, beinahe ein reißendes Geräusch ähnlich einem Kreischen und ein Gestank wie sie ihn noch nicht erlebt hatte, kroch ihr in die Nase. Sie wusste nicht woher sie den Geruch erkannte, doch sie war sicher so roch frisches menschliches Fleisch. Jamies gesamter Körper überzog sich mit einer Gänsehaut ehe sie in kalten Angstschweiß ausbrach. Ihr Sicht verschwamm, wurde dunkel.
Dann stand sie wieder auf dem Jahrmarkt. Ein Pärchen ging an ihr vorbei und beäugte sie misstrauisch. Sie warf die Churros auf den nächsten Beistelltisch lief an den Buden vorbei und übergab sich, neben den Buden zwischen Müllcontainern und Pappkartons, geräuschvoll.
Es war wieder da gewesen. Das Wesen. Die Tentakeln. Das reißende Geräusch, ein Zerreißen von Fleisch. Allein bei dem Gedanken daran würgte sie noch nach. Eine Hand berührte sie an der Schulter und sie erschrak sich so dermaßen, dass ihr die Knie ein weiteres Mal wegnickten. Billy stützte sie und hielt sie fest, dass sie nicht in ihrem Kleid auf dem schmutzigen Boden landete.
"Das geht vorbei.", raunte er und half ihr dann, dass sie wieder ins Stehen kam. Sie sah ihn entgeistert an. Vorbei, pah. Sie war für immer gebrandmarkt, sie würde sich professionelle Hilfe suchen müssen, wenn das nun häufiger vorkam, sie-.
Sie hielt inne. Wieso wusste er, was sie gerade gesehen hatte? Er konnte nicht davon sprechen, was sie gerade erlebt hatte... oder?
Sein Blick verriet nichts, war seinerseits steinern und beobachtete sie. Seine Augen schienen dunkler zu werden. Nicht dunkler im Sinne von verhangener Leidenschaftlich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes dunkler. Eine dunklere Farbe, die das trübte. Sie stolperte zurück, stieß in ihrem Rücken gegen eine Mülltonne.
"Was war das!", keuchte sie. Billy schritt einen weiteren Schritt auf sie zu während sie versuchte weiter von ihm weg zu kommen.
"Ich kann es dir zeigen.", raunte er. "Es will dich kennenlernen."
Was. Zur. Hölle.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Jamie, wie Billy unaufhaltsam näher und näher an sie heran Schritt.
"Trau ihm nicht!", vielen ihr die Worte von...nun ja, Billy wieder ein. Einem nachsichtigen und weitaus weniger bedrohlich wirkendem Billy. Einem ernsthaften und anderem Billy. Einem, der sie nicht gerade mit einem irren Blick und breiten Schultern in die Enge drängte. So nah am Geschehen und doch im Schutz der Schatten.
"Billy...", versuchte sie es beschwichtigend während sie sich ihrer Umgebung versuchte bewusst zu werden. Es war noch am Tag, es war hell, doch aus irgendeinem Grund schienen die Sonnenstrahlen sie nur zu blenden, sie gegenüber Ausweichmöglichkeiten blind zu machen. Sie kämpfte mit der aufkommenden Panik und Frustration.
Billy lachte. "Jamie du musst keine Angst haben, ich tue dir nichts, versprochen."
Nun, die Worte waren schön, doch die Art wie er es gesagt hatte und wie er dabei ausgesehen hatte waren alles andere als beruhigend. Jamie nickte.
"Dann lass mich bitte an dir vorbei gehen Billy.", bat sie ihn, die Hände ausgestreckt, den Rücken so gerade wie möglich, doch den Kopf zwischen ihren Schultern eingezogen.
Er hatte seine Hände erhoben, wohl als Zeichen seines Wohlwollens oder um zu symbolisieren, dass von ihm keine Gefahr ausging. Er trat zu Seite und lächelte sie schief an. "Klar, kein Problem."
Sie trat auf ihn zu, widerwillig und voller Zweifel, mit dem Ziel schnell wieder auf den überschaubaren und mit Menschen gefüllten Platz zu kommen, als etwas merkwürdiges geschah. Sie stand vor Billy mit dem Ziel, an ihm vorbei zu treten und ihre Beine in die Hand zu nehmen und bei einer weiteren langen, kalten Dusche zu überlegen was eigentlich genau ihr Problem war, als sie stehen blieb.
Da war etwas in seinem Gesicht, seinem Blick!
Es war, als habe sich eine Maske auf Billys Gesicht gelegt, eine Maske durch die sie hindurch sehen konnte. Sein Gesicht war ruhig, ebenmäßig und nicht unfreundlich. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und entspannt doch ... darunter war seine Erscheinung das komplett Gegenteil. Er war verschmutzt. Sein Gesicht war von schwarzen Linien überzogen, sein Blick war panisch und aufgewühlt, um seine Lippen die Anzeichen starker Trauer und Angst. Es war das furchteinflößendste was sie in ihren 18 Jahren je gewesen hatte und dennoch legte sie anstatt davon zu rennen, ihre Hand an seine Wange.
Das Gesicht der Überraschung trugen jetzt beide seiner Gesichter. Seiner zwei Persönlichkeiten vor denen er sie gewarnt hatte und von denen sie noch immer nicht verstand, wie sie da sein konnten, vereint in einer Person. Doch sie sah es. Sie sah die Veränderung in seinen Zügen!
"Ich schätze hier kommt alles oder nichts", murmelte sie seine Worte vom Abend zuvor und stellte sich auf Zehenspitzen ehe ihre Lippen die seinen trafen.
Seine Hände waren beinahe augenblicklich an ihrer Hüfte, zogen sie näher. Seine Zunge streifte ihre Lippe, der Druck mit dem er ihren Kuss erwiderte war geradezu perfekt und sie spürte...nichts.
Oberflächlich nahm sie die Weichheit seiner Lippen war, spürte die angenehme Härte seines trainieren Körpers an ihrem, doch die beinahe schon perfekte Art und Weise wie sie zusammen zu passen schienen, ließen sie (größtenteils) kalt.
Denn es fehlten die Emotionen.
"Oh."
Sie öffnete die Augen und sah in den kalten, klaren Blick von Billy. Seine Haarsträhne, welche sie ihm vorhin noch nach hinten gestrichen hatte, war ihm nach vorne gefallen und verdeckte die verletzte Stelle an seiner Stirn. Sie lehnte sich weiter zurück und betrachtete ihn. Er grinste schmutzig. Doch sämtlicher Charm, der seine Augen sonst zum Leuchten und ihr Herz zum Flattern gebracht hatte, war verschwunden. Als ihr Herz diesmal schneller schlug , tat es das vor Angst.
"Oh", kam es ihr erneut über die Lippen.
Er hatte die Wahrheit gesagt. Mit dem Kuss hat sie bemerkt, mit wem sie es zu tun hat. Denn es gab mehr als nur einen von ihnen. Und die Version von Billy, die vor ihr stand, war kalt und gefühllos. Er war gefährlich!
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