Cold Water
Kaltes Wasser.
Sie hatte den Kopf nun seit mittlerweile gut 5 Minuten unter den mit kaltem Wasser laufenden Wasserhahn gehalten.
Es half ein wenig.
Doch die rasenden Kopfschmerzen waren nichtsdestotrotz nicht wirklich besser geworden. Jamie hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib gebraten zu werden. Oder die ganze Nacht durchgesoffen zu haben. Das richtig süße Zeug, dank dem man am nächsten Tag glaubt, ein Samurai hätte sich in der Nacht ins Zimmer geschlichen und einem den Schädel gespalten. So ungefähr.
Jamie wollte den Hahn noch kälter drehen, musste aber feststellen, dass sie die Höchsteinstellung bereits erreicht hatte. Merkwürdig, es fühlte sich lediglich lauwarm an.
„Was zur Hölle war das denn eben?", fauchte Lindsey sie unerwartet von der Seite an. Erschrocken riss sie den Kopf hoch und stieß ihn sich am Wasserhahn.
Lindseys Stimme erreichte eine Frequenz, die Jamie die Augen zusammenkneifen und zurückzucken ließ. Hatte sie schon immer so gequietscht?
„Au! Was?", grummelte sie und rieb sich die Stelle auf ihrem Kopf.
Lindsey hielt ihr das Kühlpack, welches sie besorgt hatte, hin und lehnte sich dann an die Toilettentür in ihrem Rücken.
Nachdem Billy sie verdattert und aufgebracht stehen gelassen hatte, hatte Jamie das erste getan, was ihr als nächstes in den Sinn kam. Sie war aufs Mädchenklo geflohen.
Dort hatte sie sich selbst im Spiegel angestarrt. Sie sah scheiße aus. So richtig krank und am Ende mit den Nerven. Ihr ganzes Gesicht war kaltschweißig, ihre Haare klebten strähnig an ihr, und ihre Augen waren rot unterlaufen, als hätte sie gekifft oder die Nacht nicht geschlafen. Was sie ja genau genommen auch tatsächlich nicht hatte.
Scheiß Billy.
Sie hatte begonnen, ihr Gesicht zu waschen, um wenigstens ein kleines bisschen vorzeigbar auszusehen und endlich nach Hause fahren zu können, wobei ihr das Wasser so gut getan hatte, dass sie schlussendlich den ganzen Kopf unter den Wasserhahn gesteckt hatte, wie Lindsey sie dann gefunden hatte.
Dankbar nahm sie das Kühlpack entgegen und legte es sich in den Nacken. Dabei sah sie Lindsey an, die ganz offensichtlich mit verschränkten Armen und wippendem Fuß auf eine Erklärung wartete. Gott, da hatte sie jetzt wirklich keinen Nerv für.
„Lins-„, fing sie an, wobei sie bereits schon wieder unterbrochen wurde.
„Oh, komm mir nicht mit Lins!", knurrte sie fast und machte einen Schritt nach vorne, die Augen wütend funkelnd. „Ich weiß nicht, wie oft du mir gesagt hast, du könntest Billy nicht ausstehen und er wäre dir ja ach so ein Dorn im Auge, und dann" sie ließ die Arme durch die Luft fliegen und fuchtelte stark gestikulierend erst Richtung Tür und dann gen Himmel. „Dann überreichst du Mr. Groß-und-Gutaussehend sein Shirt?"
Ach Mist, dass hatte sie aus der Entfernung gesehen? Sie hätte ihn wirklich einfach verbrennen sollen... Aber mit der Menge an Parfum, die darin verteilt war, hätte das bestimmt irgendwelche Müllverbrennungsgesetze gebrochen und giftige Gase freigesetzt...
Sie war in Gedanken abgeschweift und hatte nicht bemerkt, dass Lindsey mit ihrer Schimpftirade aufgehört hatte. Wütend schnippte Lindsey vor ihren Augen.
„Huhu! Jamie! Jemand zu Hause?"
Sie blinzelte ein paar Mal, und Lindsey seufzte schwer.
„Okay, du hast Glück, dass du wirklich aussiehst, als wärst du schon mit einem Fuß im Grab. Das Gespräch wird vorerst verschoben, ich bringe dich nach Hause."
Lindsey hakte sich bei Jamie unter und zog sie hinter sich her.
„Aber glaube ja nicht, dass ich das Gespräch vergessen werde", grummelte sie weiter. Erleichtert atmete Jamie aus. Zum einen konnte sie sich wirklich kaum noch auf den Beinen halten, zum anderen hatte sie so Zeit, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, die nicht klang, als wäre sie nun vollkommen durchgedreht.
„Danke, Lins!"
Lindsey schnaubte. „Ich bin halt eine verdammt gute Freundin. Vergiss das nicht."
Jamie drückte sie von der Seite (soweit sie dazu noch die Kraft hatte) und grinste sie an. „Niemals!"
Es war gut, dass Lindsey sie nach Hause fuhr, stellte Jamie fest. Von Sekunde zu Sekunde und mit jedem Meter, den sie ging, schien es ihr schlechter zu gehen, und alles, was sie noch wollte, war ihr Bett!
Zuhause angekommen, schloss Jamie mit zittrigen Fingern die Tür auf und hatte gerade noch genug Kraft, um ins Haus zu treten. Die brennende Hitze von draußen wurde von den dicken Wänden ihres Hauses ein wenig abgehalten, doch ihre Sicht verschwamm immer noch. Außerdem war ihr selbst ihr eigener Herzschlag zu laut. Schleppend kroch sie in die Küche und schenkte sich ein großes Glas Wasser ein. Sie trank es in drei großen Zügen aus und drehte den Wasserhahn auf für mehr. Jamie trank und trank, doch es half nichts. Sie hatte das Gefühl, von innen heraus auszutrocknen.
Einem Instinkt folgend huschte sie ins Badezimmer, wo sie die Dusche aufdrehte und sich, ohne lange zu überlegen, darunterstellte. Es war, als würde ihre Haut die Feuchtigkeit aufsaugen, wie ein trockener Schwamm. Kalt rann das Wasser ihren Körper entlang, und sie sank auf den Boden ihrer Duschwanne. Endlich hatte sie einen Moment Ruhe.
Sie hielt die Augen geschlossen, während das Wasser um sie herum in der Badewanne anstieg. Es bedeckte ihre Ohren, ihre Augen, ihren Mund. Luft bekam sie durch die Nase. "Ich warte auf dich!", flüsterte Billys Stimme, was Jamie mit einem Stirnrunzeln vernahm und ihre neugewonnene Ruhe störte. Dann wurde alles schwarz.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Es war dunkel, und ihre Lavalampe brannte. Verwirrt blinzelnd brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren. Was war los?
Schläfrig schwang sie die Beine aus dem Bett und schlüpfte in ihre Hausschuhe, um dann hinunter in die Küche zu tappen. Sie hörte gedämpfte Stimmen aus dem Wohnzimmer.
„Nein, das ist verdammt nochmal nicht ‚normal'!", zischte ihre Mutter.
„Mrs. McNeill, ich verstehe Ihre Sorge-", antwortete eine Männerstimme, doch Jamies Mutter unterbrach ihn. „Sie verstehen überhaupt nichts, ‚Doktor'! Meine Tochter bewusstlos in der Badewanne liegend zu finden, ist nichts, was einfach so passiert!", grummelte sie weiter. Jamie konnte gerade noch hören, wie sie ihm gleich an die Gurgel springen würde, und beschloss, die Situation im Wohnzimmer ein wenig zu entspannen, indem sie auftauchte.
„Guten Abend!"
Ihrer Mutter fiel die Kinnlade hinunter, und auch der Mann sah ein wenig aus, als hätte er einen Geist gesehen.
Irritiert schaute Jamie zwischen den beiden hin und her.
„Alles okay?"
In einem Satz war ihre Mutter bei ihr und legte ihre Hände zu beiden Seiten an ihr Gesicht, um sie zu mustern. Jamie schaute ihre Mutter verwirrt an. Wieso verhielt sie sich so merkwürdig, wenn sie Besuch hatten?
"Die Frage sollte ich besser dir stellen!", giftete sie nun Jamie an, woraufhin sie erschrocken zurückwich. Was hatte sie getan?
Der Fremde hinter ihrer Mutter räusperte sich und fügte hinzu: „Was deine Mutter meint ist, bist du in Kontakt gekommen mit irgendwelchen ungewöhnlichen... Inhaltsstoffen?"
Verständnislos sah Jamie zwischen den beiden hin und her.
„Hä?"
„Hast du Drogen genommen!", schrie ihre Mutter beinahe, und Jamie wich zurück, als hätte sie sie geschlagen. „Bitte was?"
Ihre Mutter sah krank vor Sorge aus. Die nächsten Worte kamen ihr beinahe gar nicht über die Lippen. "Schatz, hast du versucht, dir etwas anzutun?"
Jamie entglitt alles aus dem Gesicht. Was war denn nur passiert?
Ihre Mutter musterte sie, dann drehte sie sich zu dem Mann zurück und stemmte ihre Hände aufgebracht in die Hüften. „Sehen Sie, keine Drogen, kein Selbstmordversuch! Und jetzt können Sie und Ihre Schreiben vom CDC mein Haus verlassen. Gehen Sie zur Tür! Das ist eine Familienangelegenheit."
Der Mann sah aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch ihre Mutter lehnte sich noch ein Stückchen weiter vor. Jamie konnte ihren Blick nicht sehen, doch anhand ihrer angespannten Schultern und dem schweren Schlucken des Mannes nahm sie an, dass Mordlust in ihrem Blick zu sehen war.
Schlussendlich nickte der Mann zustimmend und neigte dann den Kopf.
„Ma'am!"
Damit ging er an ihnen vorbei, und ein paar Sekunden später hörte man die Tür ins Schloss fallen. Ihre Mutter stand noch immer mit dem Rücken zu ihr. Sie atmete schwer, ihre Wut war noch nicht verflogen. Oh oh.
Jamie wollte sich zurückziehen, doch sie stieß gegen das Sideboard, und ihre Mutter drehte sich um. „Hierbleiben, Fräulein." Jamie blieb stehen.
„Hast du eine Ahnung, was für einen Schrecken du mir eingejagt hast?", flüsterte sie. Jamie schluckte. Sie war leise und ruhig. Noch schlimmer als schreiend und tobend.
„Es war keine Absicht!", erklärte sie sich.
„Was um Himmels Willen ist passiert?", fragte ihre Mutter weiter und nahm ihre Hände in ihre. Das war eine verdammt gute Frage. Sie beide wussten, dass Jamie niemand war, der einfach ohnmächtig wurde. Nie. Selbst nicht, als sie sich vor 3 Jahren beim Kochen übel geschnitten hatte und mit enormen Blutverlust ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Jamie zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich nicht gut gefühlt und wollte einfach nur ein Bad nehmen. Vielleicht bin ich einfach das Wetter nicht gewöhnt?"
„Ja, ja, und morgen bringt mir der Weihnachtsmann Geschenke."
Ihre Mutter seufzte, dann kniff sie sich in die Nasenwurzel.
„Hör zu, Jamie, ich kann sehen, dass du auch keine Ahnung hast, was passiert ist", fing sie an. Und das stimmte. Jamie wusste nicht, was mit ihr los war, und sie hatte das Glück, dass ihre Mutter wie ein menschlicher Lügendetektor wusste, wann jemand log oder die Wahrheit sagte. „Aber bitte, um Himmels Willen, lass es mich doch wissen, wenn es dir so schlecht geht. Und geh dann nicht in voller Montur alleine baden!"
Sie hatte ihre Kleidung angelassen? Jamie zuckte zusammen. Sie konnte sich kaum an das Geschehene erinnern. Es fühlte sich alles eher wie ein langsam verschwindender Traum an.
Jamies Mutter nahm Jamie in den Arm und gab ihr dann einen Kuss auf die Wange.
„Es gibt doch nur noch uns zwei."
Damit wies sie Jamie an, zurück in ihr Bett zu gehen und sich auszuruhen. Jamie widersprach nicht. Es ging ihr zwar soweit wieder gut, aber ihrer Mutter zuliebe würde sie nun wieder ins Bett gehen. Denn sie hatte Recht. Es gab nur noch die beiden, und Jamie war sich nicht sicher, was ihre Mutter tun würde, wenn ihr etwas zustoßen würde. Ihre Gedanken drohten düster zu werden, als sie versuchte, sich an eine Zeit zu erinnern, in der es eben nicht nur die beiden gewesen waren. Doch wie auch sonst fand sie nichts als verschwommene Erinnerungen und Dunkelheit in ihrem Kopf vor. Eine Dunkelheit, die sich von ihren Gedanken auf ihren Körper übertrug, sie lähmte und in Panik versetzte - sodass sie das Thema freiwillig schnell fallen ließ und resigniert seufzend die Augen schloss. Eines Tages! Eines Tages würde sie die Lücken in ihrer Erinnerung schließen können, ohne diesen emotionalen Schmerz zu spüren, versprach sie sich, während eine andere Art von Dunkelheit sich über sie legte. Sie war eingeschlafen, bevor sie den Gedanken zu Ende formuliert hatte.
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