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Wie so oft in den letzten Stunden herrschte Chaos in Lucys Kopf. Hinzu kam das ständige Bedürfnis, mehr Energie zu sammeln, doch damit würde sie nur das Gespenst nähren. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wo sie mit ihrer Erzählung anfangen sollte, denn wann immer sie an Kasimir dachte, wurde sie wütend und traurig zugleich, und das wollte sie vermeiden. Damit Olivia ihr jedoch helfen konnte, sollte sie doch so viel wie möglich wissen, oder? Es blieb Lucy also keine andere Wahl, als Liv alles mitzuteilen, wenn sie ihr eigenes Leben retten wollte. Vorausgesetzt, sie konnte ihr überhaupt helfen. Aber bis auf Theresa und Liv war ihr nun mal keine andere Person eingefallen, die Lucy potenziell helfen konnte.
Außer Kasimir.
Aber Kasimir war weg. Ihretwegen. Und sie hatte keine Ahnung, ob er wieder zurückkam oder ob sie ihn getötet hatte.
Und so erzählte sie Liv alles. Angefangen damit, wie sie Kasimir kennengelernt, wie er sie in die Zwischenwelt gebracht und wie das Gespenst sie attackiert hatte. Sie fuhr mit dem Ereignis im Wagen ihres Vaters fort und beichtete die Geschichte im Wald. Als sie endete, starrte Liv sie nur ungläubig an.
Lucy biss auf ihrer Unterlippe herum und wartete. Darauf, dass Liv irgendetwas sagte. Diese hatte eine geflochtene Strähne in ihrem sonst welligen Haar, mit der sie jetzt spielte, während sie überlegend die Stirn krauszog.
„Liv, was meinst du?"
„So ein stinkendes Mistvieh ist also in deinem Kopf?", hakte Olivia nach, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. Lucy nickte.
„Heilige Ziegenkacke. Das ist ja echt beschissen."
Lucy nickte erneut. So konnte man das auch ausdrücken.
„Sollte sich dein kleiner Geisterfreund wieder blicken lassen, werde ich ihn für dich erledigen."
„Was? Nein!", entfuhr es Lucy. Keine Ahnung, warum sie das Bedürfnis hatte, Kasimir zu verteidigen, immerhin war sie selbst wütend auf ihn, dennoch verstand sie allmählich seine Beweggründe. Er hatte es nur getan, um seine Familie zu beschützen. Dennoch hätte er sie zumindest einweihen sollen, bevor er sie in Gefahr gebracht hatte. „Er hatte seine Gründe und ich habe ihn schon genug bestraft."
Skeptisch betrachtete Olivia sie. „Wie du meinst. Aber auch wenn ich dir gerne helfen würde, als ich das letzte Mal jemanden von einem Gespenst befreien wollte, ist die Person dabei gestorben."
Lucy wollte nachhaken, doch die Trauer, die Liv umgab und in Lucys Herz eisige Nadeln bohrte, hielt sie davon ab.
„Gibt es keinen anderen Weg? Ich will dieses Ding in meinem Kopf loswerden, bevor es mich kontrolliert. Es darf nicht, darf auf keinen Fall die Kontrolle übernehmen! Kannst du das nicht verstehen? Ich kämpfe ständig gegen diesen Drang, all deine Gefühle zu stehlen, damit es stärker wird. Ich will das nicht, ich will, dass es vorbei ist. Bitte, du musst-"
„Lucy, stopp. Es tut mir leid, wirklich, das musst du mir glauben. Aber das Gespenst zu entfernen, wird dich nur umbringen." Bei Olivias mitleiderregendem Blick wurde Lucy schlecht.
„Du willst mir also sagen, wenn ich nichts unternehme, sterbe ich und wenn ich versuche, etwas dagegen zu unternehmen, sterbe ich auch? Du machst wohl Witze." Lucy schnaubte und stand abrupt auf. Das konnte doch nicht wahr sein! War es ihr vorgesehen, zu sterben? Sollte sie ihrer Freundin in den Tod folgen und ihr Schicksal einfach hinnehmen? Sie war nicht hierhergekommen, um ihr Todesurteil zu hören, verdammt noch mal! Die Situation konnte doch nicht auswegslos sein!
In ihrem Kopf hämmerte und pochte es. Der Sturm riss jegliche rationalen Gedanken zu Boden, ein feuerroter Schrei echote in ihrem ganzen Körper wider.
Sie hasste das Ding in ihr. Sie hasste es, dass es so schnell so stark werden konnte. Wie lange hatte es gebraucht? Zwei Tage? In kürzester Zeit hatte es die Kontrolle beinahe vollständig übernommen. Lucy wollte sich nicht schwach fühlen. Sie hatte zwei Jahre in Trauer überlebt, dieses beschissene Gespenst konnte sie mal kreuzweise.
Liv stand ebenfalls auf und ging zu ihr. Sanft, aber bestimmt hielt Liv sie an den Oberarmen fest und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. Olivias Iriden glichen einer saftigen, weiten Wiese nach einem starkem Sommerregen. Lucy versuchte, sich auf die grüne Augenfarbe zu konzentrieren, sich damit abzulenken. Doch es gelang ihr nicht.
„Lucy, was ist los?" Schwarze Sorge verdrängte fast alle anderen Farben und Lucy lechzte danach, alles in sich aufzunehmen. Ihre Nervenenden vibrierten schmerzvoll, ihr Kopf dröhnte, weil das Gespenst nicht das bekam, was es wollte. Lucy weigerte sich, nachzugeben. Dem Drang zu widerstehen wurde einfacher, als Liv sie losließ und den Raum verließ. Wo wollte sie hin? Nur wenige Augenblicke später stieg Salbeiduft in ihre Nase. Der feuerrote Schrei wurde kurz aggressiver, ebbte dann jedoch zu Lucys Überraschung etwas ab.
Liv stand nun wieder vor ihr und hielt eine Schale mit brennenden Kräutern in der Hand. Rauch stieg davon auf. Endlich hatte Lucy das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Wenn auch das Pochen in ihrem Kopf blieb, war der Schrei verschwunden.
„Was ist das?"
„Hauptsächlich Salbei, aber auch ein wenig Lavendel, Rosmarin und Beifuß", beantwortete Liv ihre Frage. „Geht es dir besser?" Lucy nickte zögerlich.
„Das ist nicht normal", meinte Olivia schließlich, als sie sich wieder hingesetzt hatten.
„Ach was?", zischte Lucy sarkastisch hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich meine damit, dass ein Gespenst eigentlich nicht die Gefühle anderer stiehlt, wenn er einen Körper besetzt hat. Du sagtest ja, du kämpfst gegen den Drang an, meine zu stehlen, oder? War es das, was gerade passiert ist?"
Lucy betrachtete die noch immer rauchende Schale in der Mitte des Tisches. Der Salbeiduft beruhigte sie, auch wenn sie am liebsten das ganze Dorf zusammenschreien würde. Der Sturm in ihrem Kopf war geblieben und sie hatte Angst, dass das Gespenst jederzeit wieder die Kontrolle an sich reißen könnte. Erneut nickte Lucy. Ihr fehlte die Kraft, etwas darauf zu erwidern.
„Jedenfalls tun das Gespenster nicht. Ich hab es bei meiner Mutter gesehen. Sie ernähren sich wie ein Parasit vom Wirten und nicht von anderen."
„Ich hab dir ja gesagt, dass Kasimir meinte, ein Gespenst sei durch meine Trauer hervorgerufen worden, blieb aber, keine Ahnung, in meinem Kopf stecken. Wahrscheinlich verhält sich das Gespenst deswegen anders", probierte es Lucy mit einer Erklärung dafür.
„Möglich", murmelte Liv nach einer Weile. „Aber ich habe zuerst viel recherchiert, nachdem ich bemerkt habe, was mit meiner Mutter nicht stimmte, und danach hat mir Theresa alles erzählt, was sie wusste und für mich ergibt das keinen Sinn. Es würde trotzdem dich als Wirten betrachten."
„Und was willst du damit sagen?"
„Keine Ahnung, ich-"
„Sie will damit sagen, dass du das Gespenst bereits kontrollierst."
Erschrocken wandten sich beide zu der Geräuschquelle. Ein kleiner Geist mit Lucys Augen und Mund schwebte ein paar Zentimeter über den Boden, ein saphirblauer Schimmer umgab ihn.
„Kasimir." Lucy wollte aufstehen und ihn umarmen, ihm zugleich jedoch den Kopf umdrehen. Ihn zu sehen, war, als würde ein eiserner Griff ihr Herz endlich freilassen, und der Muskel begann wieder im gewohnten Rhythmus zu schlagen. Sie hatte Kasimir also nicht umgebracht. So glücklich sie auch darüber war und so schuldig sie sich für ihre Tat fühlte, sie brachte es nicht über sich, ihn um Entschuldigung zu bitten.
„Ich hatte die Vermutung schon, als du die Wut deines Vaters in dich aufgenommen hast, aber es hatte mich verwundert, dass du das Gespenst schon nach so kurzer Zeit kontrollierst, weswegen ich den Gedanken wieder verworfen habe. Aber Liv hat recht, wäre es umgekehrt, wärst du nur ein Wirt und dir würden die Gefühle genommen werden", redete Kasimir weiter, ohne auf die geschockten Blicke der anderen beiden zu achten.
„Wo warst du?", fragte Lucy mit einem Hauch von schlechtem Gewissen in der Stimme.
„In der Zwischenwelt. Meine Freunde haben mir etwas Energie geliehen." Kasimir schien Lucys schuldzerfressenen Blick zu merken, denn hastig fügt er noch ein „Es geht mir gut" hinzu. „Ich hätte sensibler mit dir umgehen sollen, immerhin wusste ich, was du gerade durchmachst."
„Nein, ich hätte nicht so überreagieren sollen", widersprach sie. Eine Entschuldigung lag ihr schon auf den Lippen, doch sie schwieg. Warum es ihr so schwerfiel, wusste sie selbst nicht.
„Rührend, wirklich. Aber können wir uns wieder auf das Wesentliche konzentrieren? In Lucys Kopf tickt eine Zeitbombe", unterbrach Liv das Schweigen zwischen den beiden.
„Ich soll das Gespenst also schon kontrollieren? Bist du dir sicher? Denn so fühlt es sich definitiv nicht an", begann Lucy zögerlich das Gespräch von vorhin.
„Ja. Also zumindest zu, sagen wir, 80%."
„Besser als nichts", erwiderte die Rothaarige. Lucy zog eine Augenbraue hoch.
„Besser als nichts? Müsste das Gespenst in mir nicht Ruhe geben, wenn ich es kontrollieren könnte?", entgegnete Lucy leicht aufgebracht. Kasimirs Auftauchen hatte sie wieder aus der Ruhe gebracht. Sie spielte mit ihrem blauen Haar und versuchte, sich auf den Salbeiduft zu konzentrieren. Ihr Herz raste dennoch. Kasimir und Liv mussten sich täuschen. Sie kontrollierte das Gespenst nicht, es kontrollierte sie. Es lechzte ständig nach den Gefühlen anderer, es massakrierte ihr Gehirn. „Wie kann es mich so kaputt machen und dennoch nicht die Kontrolle über mich haben?"
„Weil es damit versucht, die Kontrolle zurückzugewinnen. Es versucht, an mehr Energie zu kommen, damit es dir die Kontrolle wieder entreißen kann. Es kann nicht weg von dir und es will sich auch nicht bestimmen lassen", probierte Liv es mit einer Erklärung.
„Da habe ich wohl den Jackpot gezogen", seufzte Lucy auf. „Ich habe dich noch gar nicht gefragt, woher du eigentlich so viel über Gespenster weißt", wandte sich Lucy an Liv. Diese zuckte mit den Schultern.
„Ich konnte Geister und Gespenster schon seit meiner Kindheit sehen. Nachdem meine Mutter von einem Gespenst besessen war, hab ich mich mehr damit auseinander gesetzt. Ich habe versucht, das Gespenst zu vertreiben, aber", Liv stockte und Lucy bemerkte den dominanten Trauerschleier auf ihrer Haut, „aber es hat nicht geklappt. Nach Mutters Tod hat mich Theresa aufgenommen. Sie hat mir daraufhin alles über diese Wesen erzählt."
„Woher weiß Theresa das alles?", hakte Lucy nach.
„Sie hatte sich mit einen Geist angefreundet." Olivias Stimme war brüchig und Lucy vermutete, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Unwillkürlich dachte sie an das Gespräch mit Theresa vor dem Polizeirevier. Sie solle mit einem Geist keine gemeinsame Sache machen, andernfalls würde es für sie nicht gut ausgehen. Was war zwischen Theresa und dem Geist vorgefallen? Jetzt war aber nicht der richtige Zeitpunkt, mit Liv darüber zu diskutieren. Nein, zuerst musste sie das Problem mit Kasimir lösen, bevor das Gespenst wieder die Kontrolle an sich reißen wollte.
„Theresa?", fragte der blau leuchtende Geist.
„Die alte Frau, in deren Schaufenster ich gefallen bin", erwiderte Lucy und stellte gleich darauf Kasimir eine Frage: „Und wie werde ich das Gespenst wieder los?"
„Das ist leider nicht möglich", erwiderte dieser kleinlaut.
„Du willst mich wohl verarschen!" Als der Satz draußen war, realisierte sie erst das Gesagte. Sie hasste es, dass sie in letzter Zeit so schnell wütend wurde. Sofort konzentrierte sie sich wieder auf den Salbeiduft.
„Wenn unser Plan jedoch aufgeht, dann könnte es dir nachher allerdings besser gehen", meinte Kasimir zögerlich.
„Welcher Plan? Meinst du den, bei dem ich die anderen Gespenster kontrollieren soll, damit ihr Geister wieder in Ruhe leben könnt?", gab Lucy leicht verachtend von sich.
„Er wird auch zugunsten für euch Menschen sein!", verteidigte sich Kasimir.
„Und wie lautet der Plan?", mischte sich nun Liv ein. „Wenn er einen Flammenwerfer beinhaltet, könnt ihr mit meiner Hilfe rechnen." Vorsichtig lächelte das Feuermädchen Lucy an. Vermutlich wollte sie sie nur beruhigen, doch Lucy fürchtete sich viel zu sehr vor dem, was jetzt noch alles kommen würde.
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