2 | Silence
Larry
,,Guten Morgen, Lewis." Louis beißt sich auf die Lippe. Er heißt nicht Lewis.
,,Wie geht es dir?" Louis dreht sich weg.
,,Lewis?" Louis fragt sich, ob er das mit Absicht macht. Will er ihn provozieren?
,,Lewis, antworte mir." Fast hätte Louis gelacht.
Aber nur fast.
So lange wie er jetzt schon hier ist, sollte der Typ wissen, dass soetwas bei ihm nicht zieht.
,,Lewis."
,,Hörst du mir zu?" Erwartet er eine Antwort?
,,Tust du es?" Louis starrt stur auf den Boden.
,,Ich habe jemanden gefunden." Louis blickt nicht auf. Was interessieren ihn die Affären dieses Kerls?
,,Er ist nett." Louis blickt immernoch nicht auf.
,,Und groß. Er hat starke Arme." Louis kaut auf seiner Lippe. Was wird das Ganze, wenn es fertig ist?
,,Er kann dich auffangen, Louis." Jetzt blickt Louis auf. Zum einen, weil er endlich Louis gesagt hat, und zum anderen, weil er begriffen hat, dass es hier nicht um eine Flamme dieses Sacks geht. Natürlich nicht. Wer würde den schon wollen.
Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte Louis sich geschämt, soetwas auch nur gedacht zu haben. Doch jetzt weiß er, dass es stimmt. Der Typ ist ein Dreckssack. Niemand würde ihn lieben wollen.
Louis hat Mitleid mit der Frau. Louis hat auch Mitleid mit dem Sohn. Er hasst ihn dafür, dass er ein Kind in die Welt gesetzt hat. Denn Louis will nicht, dass er noch jemandem das antut, was er ihm angetan hat. Er macht ihn kaputt. Noch mehr, als Louis sowieso schon ist.
Deshalb hasst er ihn.
Abgrundtief.
,,Er kommt in zehn Minuten. Du bleibst hier, er kommt rein", sagt er an Louis gewandt, der seinen Blick wieder abgewandt hat. Dann steht er auf. Louis schaut ihm durch den Spiegel hinterher. Schaut auf seine grauen Haare, die ihn jedes Mal in den Wahnsinn treiben. Und es liegt nicht an den Haaren. Alles an ihm. Louis hasst alles an ihm.
Als die Tür zu gefallen ist und der Schlüssel im Schloss umgedreht atmet Louis aus.
Er macht das immer. Er schließt Louis ein. Louis weiß, dass er das nicht darf, aber er beschwert sich nicht. Nie.
Louis steht auf, geht mit kleinen, wackeligen Schritten auf den Spiegel zu und schaut sich an. Schaut sich einfach in die Augen. Er sieht es. Er sieht den Schmerz. Den Schmerz, den niemand anderes zu sehen scheint. Den Schmerz, den niemand anderen zu interessieren scheint.
Louis schluchzt leise auf. Es tut weh. Es tut so verdammt weh. Und da ist niemand, der den Schmerz lindert. Und das schmerzt Louis noch viel mehr. Dass er alleine ist. Dass sich niemand auch nur einen Dreck darum schert, wie es ihm geht. Wie es ihm wirklich geht.
Louis schließt die Augen. Schluckt das Schluchzen herunter. Schließt alles wieder in sein Herz ein.
Dann öffnet sich die Tür. Louis hört, wie jemand eintritt und die Tür wieder schließt. Er steht immernoch zittrig und mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel. Er mag sich nicht umdrehen. Er mag dem Neuen nicht in die Augen gucken und er mag auch nicht mit ihm reden. Oder sonst wie mit ihm kommunizieren. Er möchte nicht mit ihm in Kontakt treten. Er mag keinen Kontakt. Keinen körperlichen und auch keinen verbalen.
Aber er dreht sich trotzdem um.
Einen kurzen Moment lang ist er aus der Bahn geworfen, da er nicht mit so einem Anblick gerechnet hat.
Grüne Augen. Grüne Augen, die mindestens genauso viel Schmerz wiederspiegeln wie seine eigenen.
Braune Haare. Louis mag sie berühren. Auch, wenn das Körperkontakt bedeuten würde.
Der Mann vor Louis ist hübsch. Schlicht und ergreifend. Louis weiß nicht, wie er ihn sonst hätte beschreiben sollen. Hübsch trifft es einfach.
Er ist anders als die Männer, die Louis sonst zum reden zwingen wollen. Dieser hier sieht nicht aus wie einer, der jemals schon mal irgendwen zu irgendwas gezwungen hat. Und auch nicht wie einer, der es jemals tun wird. Und das beruhigt Louis.
Der Mann kommt näher, nur einen Schritt. Doch Louis weicht nicht zurück, wie er es sonst immer tut. Er bleibt einfach stehen und wartet ab, was passiert.
Er wartet ab, ob der Mann etwas sagt.
Er wartet ab, ob der Mann etwas tut.
Er wartet ab, ob der Mann weint.
Denn Louis sieht, wie sehr er das braucht. Aber Louis sieht auch, wie sehr er genau das vermeiden will. Zu weinen. Er ist einer dieser Menschen, die stark für andere sein wollen. Die keine Schwäche zeigen, damit andere sich sicher und beschützt fühlen. Sicherich weint er alleine. Nachts. Er weint sich in den Schlaf.
Louis tut das auch. Es hilft ihm manchmal.
Was dann schlussendlich passiert, ist, dass der Mann noch einen Schritt auf Louis zumacht. Diesmal weicht Louis zurück.
Der Mann nickt, senkt den Kopf und schluckt hörbar.
Louis hat ein schlechtes Gewissen. Er weiß ja selbst nicht genau, wieso er diesen Schritt von ihm weg gemacht hat. Aber es scheint den Mann verletzt zu haben.
Louis macht einen Schritt vorwärts. Der Mann blickt wieder auf und beobachtet Louis.
Louis macht noch einen Schritt vorwärts. Jetzt sind sie sich nahe. So nahe, dass Louis seinen Kopf anheben muss, um in die grünen Augen zu sehen. Vorher musste er das nicht. Vorher reichte es noch gerade so, dass er seine Augen nach oben bewegte. Doch jetzt muss er seinen Kopf bewegen. Und das ist Louis unangenehm. Auch die Schritte sind Louis unangenehm.
Louis macht nicht den ersten Schritt. Louis macht keinen Schritt auf jemand neues zu. Sowas tut er einfach nicht. Niemals.
Aber jetzt hat er es getan. Und irgendwie ist es beängstigend.
Louis weicht zurück. Einen Schritt. Und dann noch einen. Und noch einen. Bis er mit seinem Rücken gegen die Stuhllehne prallt.
Louis zuckt zusammen, als der Mann etwas sagt.
,,Ich bin Harry." Beim Klang seiner Stimme wird Louis warm. Sie ist beruhigend. Sie weckt Vertrauen in Louis. Das Vertrauen, welches er niemals jemandem schenken konnte. Hier verspürt er es. Hier und jetzt, bei diesem fremden Mann, den er vor zwei Minuten das erste Mal gesehen hat.
Auch das findet Louis beängstigend. So viel auf einmal. So viel Neues.
Louis mag keine neuen Sachen. Keine neuen Dinge. Keine neuen Menschen. Auch keine neuen Umgebungen oder neue Regeln oder neue Gefühle.
Louis kennt die Sachen die neu sind nicht. Und das macht ihm Angst. Furchtbare Angst.
Louis hat immer feste Zeiten, Regeln, die zu befolgen sind und eine vertraute Umgebung. Er sieht täglich nur zwei Menschen und zwar immer die gleichen und das ist seine Welt.
Louis würde nicht sagen, dass er zufrieden damit ist. Das kann er nicht. Aber es gibt ihm Struktur und Louis mag diese Struktur. Er braucht sie.
Und jetzt kommt Harry durch die Tür und ändert es. Louis' Leben. Und es ströhmen so viele Gefühle durch Louis' Körper. Neue Gefühle. Und das macht Louis Angst.
Louis hat Angst.
Louis hat Angst vor Harry.
Louis hat Angst, dass Harry sein strukturiertes Leben verändert.
Louis hat Angst, dass, wenn sein strukturiertes Leben verändert ist, er nicht mehr mit Dingen klarkommt.
Mit Dingen, die noch nicht alltäglich, aber auch nicht mehr schwierig und neu und angsteinflößend für ihn sind.
Aber andererseits hat Louis Angst, dass Harry geht.
Denn er mag Harry.
Louis verabscheut Liebe. Sie macht ihm Angst. Obwohl sie nicht ganz neu für ihn ist.
Louis verabscheut auch viele der Menschen.
Doch Harry nicht.
Er mag Harry.
Er mag Harry, auf eine schräge Art und Weise wie nur er es kann. Aber er tut es.
Louis mag Harry.
Obwohl sie sich nicht kennen.
,,Setzen wir uns", beschließt Harry dann und geht um den Schreibtisch herum zu dem großen Stuhl, um sich elegant darauf fallen zu lassen. Louis beobachtet verstohlen die graziösen Bewegungen. Wie gerne er Harry kurz berühren würde.
Louis schämt sich. Harry ist doch kein exotisches Tier. Er verwirft diesen Gedanken wieder und starrt auf den Boden.
,,Magst du dich nicht setzen?" Louis blickt auf. Harry schaut ihn fragend an, keinesfalls abschätzig, aber fragend. Sein Blick ist ganz sanft. Und da setzt Louis sich hin. Er setzt sich Harry gegenüber und beginnt leise zu weinen. Er sagt kein Wort, er schluchzt auch nicht, er weint einfach leise vor sich hin. Dir Tränen laufen ihm über die Wangen und das Salz klebt an seiner Haut.
Harry schaut zu. Auch er sagt kein Wort. Doch er greift nach Louis' Hand. Er nimmt sie in seine und hält sie. Louis zuckt zusammen, zieht seine Hand jedoch nicht weg. Er lässt Harry sie halten. Denn, auch wenn er es nicht zugeben würde, es fühlt sich gut an.
,,Ist okay", sagt Harry, als Louis nach vier Minuten leise schnieft. Louis nickt nur und befreit seine Hand aus Harrys Griff, um sich mit kleinen Fäusten über die Augen zu reiben.
,,Nicht Liebling, das ist bestimmt nicht gut für deine Augen." Harry steht auf, geht um den Schreibtisch herum und kniet sich vor Louis. Dann hebt er die Arme, zieht Louis' Fäuste von seinen Augen und wischt sanft mit den Daumen die Tränen weg. ,,Nicht doch, Bärchen. Deine Augen sind viel zu schön, als dass du sie zum weinen benutzt. Ist okay, lass es raus, aber lächeln musst du auch, okay? Ich möchte deine Augen strahlen sehen, ja? Einmal? Wirklich glücklich sein?" Louis schaut ihn nur verheult an. ,,Ich helfe dir." Und da nickt Louis und legt seine Hände auf Harrys, welche noch immer an seinen Wangen verweilen.
*****
Louis ist mittlerweile seit ein paar Wochen bei Harry. Er ist froh, dass Simon weg ist, denn der hat ihm nun wirklich nicht geholfen. Aber Harry tut es. Harry hilft ihm. Hilft ihm, Hürden zu überwinden. Neues auszuprobieren. Alte Gewohnheiten abzulegen. Schlechte Gewohnheiten. Zum Beispiel nicht essen. Harry hat ihm auch eine Menge guter Dinge beigebracht.
Harry hat ihm beigebracht, dass Kontakt nicht immer schlecht ist. Louis umarmt ihn manchmal.
Harry hat ihm beigebracht, dass weinen okay ist. Louis weint jedesmal.
Harry hat ihm beigebracht, dass man auch lächeln muss. Louis tut es trotzdem nicht.
Louis hat Harry auch was beigebracht. Und zwar, dass er Schokolade mag. Seitdem er das weiß bringt Harry jedes Mal eine Tafel Schokolade für Louis mit, doch Louis ist zu nett, als dass er sie alleine aufisst. Er teilt sie mit Harry.
Louis hat Harry auch beigebracht, dass er nicht spricht. Niemals. Harry wollte nicht fragen wieso, Louis hätte es ihn klargemacht, wenn er gewollt hätte, dass Harry es weiß. Was scheinbar nicht der Fall ist.
Louis hat wiederum von Harry gelernt, was eine Lieblingsfarbe ist. Tatsächlich wusste er es nicht und hat sofort rot als die seine erklärt.
Louis hat auch von Harry gelernt, dass dieser gerne Spitznamen benutzt. Louis bekommt meistens Liebling, Bärchen und sämtliche Verniedlichungen von Louis ab, was ihn jedoch wenig stört. Louis freut sich sogar, wenn Harry ihn mit einem Kosenamen anspricht. Da wird ihm immer ganz warm, und er würde beinahe behaupten, dass er Gefühle für Harry entwickelt. Doch das verrät er nicht. Er mag schließlich keine Liebe.
Es ist Samstag, das heißt Harry nimmt sich zwei Stunden mehr Zeit für Louis als sonst. Heute möchte er Louis mitnehmen. Louis rausholen. Raus aus der Psychiatrie und raus aus der schrecklichen Umgebung in der Louis leben soll. In seinem alten Pick Up hat er bereits alles, was sie für ihre Reise in ein besseres Leben brauchen, verstaut, nun muss er nur noch das aller wichtigste abholen; Louis.
Als er in den Raum kommt, sitzt Louis schon brav und still wie immer auf seinem Stuhl, doch als er Harry durch die Tür kommen hört hüpft er auf und hoppelt auf ihn zu. Harry kann gerade noch seine Tasche fallen lassen um Louis aufzufangen, als sich dieser in Harrys Arme schmeißt.
,,Hey, guten Morgen, Liebling!", lacht Harry sanft und setzt Louis wieder vorsichtig auf dem Boden ab. ,,Haben wir heute einen guten Tag? Ja?" Louis nickt wild und Harry kann ein ganz kleines Lächeln auf den wohlgeformten roten Lippen erkennen, was unfassbar niedlich aussieht und ihn schrecklich glücklich macht. ,,Das ist gut", sagt Harry und stupst Louis' Nase an, ,,denn wir wollen einen Ausflug machen, ja?"
Keine zehn Minuten später sitzen sie beide in Harrys orangenem, altem und dementsprechend auch furchtbar demoliertem Wagen, der noch fährt, aber nicht mehr über 90 kmh kommt und bei jedem Schlagloch auseinander zu fallen droht, und zuckeln in Richtung Küste.
,,Aaaaachhhhhh es ist so schön grün hier, schau mal, da sind Rehe", sagt Harry entspannt und deutet aus dem Fenster, doch Louis denkt nicht dran seinen Blick auch nur eine Sekunde auf die Rehe zu richten, wieso auch, wenn er doch eine viel schönere Aussicht hat? Harry könnte es mit hunderten von niedlichen Rehkitzen aufnehmen, Louis würde trotzdem nur Augen für ihn haben.
Ja, Louis muss zugeben, er ist glücklich. Harry macht ihn glücklich. Obwohl Louis das doch gar nicht wollte!
Louis legt sanft eine Hand auf Harrys Oberschenkel. Harry schaut ihn erschrocken an, doch als er Louis' verliebten Blick auf sich liegen sieht wird ihm so warm ums Herz, dass er mit seiner Hand Louis' umschließt.
Louis schweigt weiterhin und Harry macht es ihm nach. So sitzen sie da und fahren Richtung Horizont, in einer alten Rostlaube, sich an den Händen haltend und bis über beide Ohren verliebt.
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