74. Nouis
20 Jahre vorher
Der sechsjährige Junge dreht eine Pirouette, hat aber zu wenig Schwung, weswegen er stolpert und auf seinem Hintern landet. Die Mädchen kichern, seine Lehrerin schüttelt den Kopf. Sie hält ihm die Hand hin, um ihn wieder auf die Beine zu helfen. Die ältere Dame hat ihre Zweifel, ob der kleine, etwas pummelige Junge in ihrer Ballettklasse richtig ist.
"Bist du dir wirklich sicher, dass du tanzen lernen willst?", fragt sie sanft.
Eifrig nickt der Kleine, die blauen Augen blitzen entschlossen. "Das ist mein größter Traum. Ich schaffe das."
Nialls POV
Ich habe mir meinen Traum erfüllt und wirklich hart dafür gearbeitet. Schule, Ballett, Schule, Ballett. So sah mein Leben aus, bis ich 16 Jahre alt war. Dann wurde ich an einer renommierten Ballettschule angenommen und bekam endlich die Anerkennung, die ich mir gewünscht habe.
Heute bin ich ein gefeierter Tänzer, bekomme die besten Rollen und verdiene gut. Ich bin nicht der schlankste Tänzer der Truppe, auch nicht der Größte oder der Hübscheste. Ich bin einfach ich selbst, damit kann ich das Publikum in meinen Bann ziehen. Gerade habe ich die Hauptrolle in einem neuen Stück bekommen und übe jeden Tag mit Feuereifer. Die erste Aufführung soll in zwei Wochen stattfinden, bis dahin muss alles perfekt sein.
Ich sehe den anderen Tänzern nach, während sie den Probenraum verlassen. Sie gehen nach Hause und legen sich schlafen, ich bleibe hier und übe weiter. Schlafen kann ich auch noch, wenn ich eines Tages nicht mehr tanzen kann. Mit ein paar eleganten Sprüngen durchquere ich den verspiegelten Raum und starte die Musik erneut.
Schon bald bin ich völlig in der Choreographie versunken. Es gibt nur mich und die Musik. Jeder Sprung sitzt, die Pirouetten sind auf den Punkt und ich lächle zufrieden, als die Melodie verstummt. Ich verneige mich vor meinem unsichtbaren Publikum und schüttle über mich selber den Kopf.
An einer der Stangen dehne ich mich noch etwas, wische mir mit einem Handtuch übers Gesicht und mache das Licht im Raum aus. Unter der Dusche beeile ich mich, es ist schon fast Mitternacht und morgen früh muss ich wieder fit sein. Nachdem ich angezogen bin, schultere ich meine Tasche, lösche das Licht im Umkleideraum und betrete das Treppenhaus. Aufzüge sind mir suspekt und ich will nicht allein darin stecken bleiben.
Ich springe die Treppe hinunter, summe leise vor mich hin und gehe in Gedanken noch mal alles durch. Übermütig mache ich eine kleine Drehung auf dem Treppenabsatz und greife nach dem Geländer um mich abzufangen. Meine Fingerspitzen streifen das Holz des Holms, gleiten daran entlang, finden aber keinen Halt. Entsetzt reiße ich die Augen auf, erkenne in Sekundenbruchteilen, dass ich mich nicht abfangen kann und merke, wie die Welt zur Seite kippt. Ich falle, spüre den Aufprall, höre ein grässliches Knirschen, dann rast ein glühender Schmerz durch mein Bein.
Wimmernd bleibe ich liegen, kämpfe dagegen an, ohnmächtig zu werden und taste nach meinem Handy. Hoffentlich ist es nicht zu Bruch gegangen, damit ich Hilfe holen kann. Endlich kann ich es aus der Tasche ziehen und schluchze erleichtert auf, als ich sehe, dass es noch funktioniert. Zitternd wähle ich den Notruf und warte, bis sich jemand meldet.
"Hilfe", hauche ich, dann wird alles dunkel um mich.
Louis' POV
Seit zwei Monaten bin ich jetzt schon in dieser Rehaeinrichtung und langsam geht es wieder aufwärts. Ein Arbeitsunfall hat mich hierher gebracht und ich bin froh, noch am Leben zu sein. Ja, ich habe meinen Unterarm verloren, aber nicht mein Leben. Am Anfang habe ich mit dem Schicksal gehadert, mir gewünscht, ich wäre gestorben. Doch irgendwann hat meine optimistische Seite wieder das Ruder übernommen.
Heute habe ich zum ersten Mal meine Prothese anprobiert und bin wirklich begeistert. Damit kann ich ein fast normales Leben führen, sogar wieder arbeiten. Glücklich lächelnd spaziere ich durch den Park und genieße die Sonne. Mein Blick schweift umher und bleibt an einem jungen Mann hängen, den ich bis jetzt noch nicht gesehen habe.
Er sitzt in einem Rollstuhl, der im Schatten eines Baumes steht. Die Sonne fängt sich in seinen braunen Haaren, zaubert goldene Glanzlichter hinein. Den Kopf hält er gesenkt und erinnert mich damit an mich selber, als ich hier ankam. Langsam gehe ich zu ihm, setze mich neben ihn auf die Bank und schaue in den Himmel.
"Ein schöner Tag heute, nicht wahr?", sage ich zu ihm.
Da er mir keine Antwort gibt, drehe ich den Kopf und mustere ihn aufmerksam. Ich erkenne silbrige Spuren auf seinem Gesicht und halte erschrocken den Atem an. Der Mann weint und ich quatsche übers Wetter. Vorsichtig lege ich ihm die Hand auf den Arm und sein Kopf ruckt hoch. Blaue, unendlich traurige Augen schauen mich an.
"Es wird nie wieder einen schönen Tag geben", antwortet er mir leise.
Mein Blick fällt auf sein ausgestrecktes Bein, dessen Knie dick bandagiert ist. Er wird vielleicht ein kleines Humpeln behalten, aber zumindest hat er sein Bein nicht verloren. Seinen Optimismus aber schon.
"Das sagst du jetzt. Werde doch erstmal gesund, dann kommen bestimmt auch wieder schöne Tage", versuche ich, ihn aufzumuntern.
"Kannst du mich mit diesen weisen Sprüchen verschonen und allein lassen?", blafft er mich an.
Schulterzuckend stehe ich auf und setze meinen Spaziergang durch den Park fort. Ich werde mich sicher niemandem aufdrängen, der keine Gesellschaft will. Hätte ich mich noch einmal umgedreht, wäre mir der Blick aufgefallen, mit dem er meinen Weg verfolgt. Wir werden uns sicher noch öfter begegnen, er ist gerade erst angekommen und ich muss noch ein wenig bleiben. Hier bin ich auf jeden Fall besser aufgehoben, als Zuhause.
Nachmittags bekomme ich Besuch von Zayn und Harry. Meine zwei besten Freunde stehen mir in allen Lebenslagen bei und ich bin glücklich, sie zu haben. Ich erzähle ihnen von dem Neuzugang, während wir im Park auf einer Decke sitzen und den Kuchen essen, den Harry gebacken hat. Dabei schaue ich mich um und entdecke den Neuen, der wieder unter dem Baum sitzt.
Ich lege ein Stück Kuchen auf eine Serviette, stehe auf und gehe zu ihm. Ich lege die Süßigkeit auf der Bank neben ihm ab und er beobachtet mich mit zusammengekniffenen Augen dabei.
"Lass es dir schmecken", sage ich und drehe mich um, um wegzugehen.
"Warum machst du das?", will er wissen.
"Weil du aussiehst, als könntest du einen Freund brauchen", antworte ich ihm und lasse ihn allein.
Nialls POV
Als ich im Krankenhaus wieder zu mir komme, habe ich Schmerzen am ganzen Körper und mein Bein hängt in einer Schlinge. Panisch drücke ich den Klingelknopf und eine Schwester kommt herein.
"Mr Horan, Sie sind wach. Wie fühlen Sie sich?"
"Schrecklich", sage ich. "Was ist mit meinem Bein?"
Mich interessiert nur eine einzige Sache, nämlich, ob ich wieder tanzen kann, wenn ich hier rauskomme. Sie überprüft den Tropf, trägt etwas in ein Krankenblatt ein und schenkt mir ein Lächeln.
"Ich schicke Ihnen gleich den Arzt herein, der wird alles mit Ihnen besprechen."
Sie lässt mich allein und meine Gedanken kreisen wie verrückt um meine Karriere. Wie soll ich denn in zwei Wochen auftreten, wenn mein Bein eingegipst ist? Ein grauhaariger Arzt betritt das Zimmer, kommt zu mir und gibt mir die Hand.
"Guten Tag, Mr Horan. Wie geht es Ihnen?"
"Naja, nicht sehr gut. Sagen Sie mir, was mit meinem Bein ist? Wann kann ich wieder tanzen?"
Er wird ernst und mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken. "Sie haben ein paar geprellte Rippen, eine leichte Gehirnerschütterung, einen Haufen Hämatome und zu guter Letzt, ein zertrümmertes Knie. Wir haben es so gut es geht zusammengeflickt, aber ich fürchte, tanzen können Sie damit nicht mehr."
"Ich kann nicht mehr tanzen?", frage ich ungläubig.
"Es tut mir leid, Mr Horan."
"Ich bin Profitänzer, Doctor. Sie müssen mich wiederherstellen."
"Wir hatten einen Spezialisten bei der Operation dabei und haben alles getan, um Ihr Knie zu richten. Sie werden wieder auf die Beine kommen, aber für eine Tanzkarriere wird es nicht reichen." Nach seinen Worten fange ich an zu schreien und muss schließlich ruhig gestellt werden.
Drei Wochen später finde ich mich in einer Rehaklinik wieder und fange langsam an zu realisieren, dass ich nie wieder auf der Bühne stehen werde. Am ersten Tag sitze ich morgens ziemlich geknickt in meinem Rollstuhl im Park, als sich ein Mann in meinem Alter zu mir setzt und anfängt, mit mir zu reden. Doch ich will alleine sein und blaffe ihn an. Er steht wortlos auf und geht. Mein hilfloser Blick folgt ihm und ich fühle mich schlecht, weil ich ihn verjagt habe.
Nachmittags sehe ich ihn wieder und jetzt erst fällt mir auf, dass ihm der linke Unterarm fehlt. Erneut kommt er zu mir, legt ein Stück Kuchen auf die Bank und will gehen. Seine Antwort auf meine Frage, warum er das macht, verblüfft mich.
"Weil du aussiehst, als könntest du einen Freund brauchen."
Tränen schießen mir in die Augen und er setzt sich zu mir. Seine Freunde scheinen vergessen zu sein. Er legt mir die Hand auf den Arm und lächelt mich sanft an.
"Willst du mir nicht erzählen, warum du so traurig bist?"
"Ich kann nicht", wispere ich. "Wenn ich es ausspreche, wird es wahr."
Louis' POV
Geduldig bleibe ich bei ihm sitzen und warte, ob er nicht doch reden will. Er schnieft leise und wischt sich über die Augen.
"Wie heißt du eigentlich?", fragt er mit rauer Stimme.
"Louis. Und du?"
"Niall."
"Schöner Name. Du kommst aus Irland, nicht wahr?" Fragend legt er den Kopf schief. "Dein Akzent hat dich verraten."
"Vielleicht hätte ich dort bleiben sollen", antwortet er frustriert.
Ich sehe, dass meine Freunde näher kommen und mache Niall darauf aufmerksam. "Darf ich dir Harry und Zayn vorstellen? Meine besten Freunde und Stütze in schweren Zeiten."
Sie schütteln sich die Hand und stellen sich gegenseitig vor. Wir schaffen es, Niall ein wenig abzulenken und er lächelt sogar ein wenig. Nachdem die beiden sich verabschiedet haben, ist es schon fast Zeit fürs Abendessen.
"Kommst du mit dem Rollstuhl klar? Ich würde dir ja helfen, aber ich bekomme meine Prothese erst in ein paar Tagen. Sie muss noch richtig angepasst werden."
Ich halte ihm meinen Arm hin und er reißt überrascht die Augen auf. "Wie kannst du so locker damit umgehen, dass du deinen Arm verloren hast?"
"Ich hätte mein Leben verlieren können, aber es war zum Glück nur der Arm. Dafür bin ich jeden Tag dankbar."
"Was ist passiert?", fragt er und rollt langsam durch das Gras auf den Weg.
"Ich war der Assistent eines Architekten und mit ihm zusammen auf der aktuellen Baustelle. Wir waren auf dem Gerüst, als sich ein Träger löste und mich auf dem Weg nach unten mit sich riss. Ich wurde darunter begraben, mein Unterarm abgequetscht. Ich lag lange auf der Intensivstation und wollte anfangs einfach nur sterben. Aber irgendwann wurde mir klar, dass man den Arm ersetzen kann, mein Leben aber nicht. Ich habe nur dieses Eine und ich habe beschlossen, dass Beste draus zu machen."
"Du bist so stark", sagt er und schaut zu mir auf.
"Du schaffst das auch." Ich dränge ihn nicht, mir zu erzählen, was ihm passiert ist. Er wird es tun, sobald er dazu bereit ist.
"Essen wir zusammen?", will er schüchtern wissen.
Überrascht nicke ich und er schenkt mir ein zaghaftes Lächeln. Zusammen begeben wir uns in den Speisesaal und ich mache am Tisch Platz für Nialls Rollstuhl. Gleich darauf wird das Essen serviert und wir machen uns darüber her. Ich kämpfe mit dem Fleisch und schnaube frustriert. Wortlos zieht Niall meinen Teller zu sich, schneidet das Steak klein und schiebt ihn mir wieder hin.
"Danke, Niall."
"Kein Problem. Ich muss dir danken. Ohne dich hätte ich das Essen wahrscheinlich ausfallen lassen."
Angeregt unterhalten wir uns und sitzen danach noch ein wenig auf der Terrasse. Irgendwann gähnt Niall herzhaft und wischt sich übers Gesicht.
"Ich gehe ins Bett. Morgen früh geht es mit der Therapie los. Mir graut jetzt schon davor."
"Alles wird gut, du wirst sehen. Ich habe jederzeit ein offenes Ohr für dich."
"Gute Nacht, Louis. Bis morgen."
"Gute Nacht, Niall. Wir sehen uns morgen."
Ich schaue ihm nach, als er davonrollt und habe das Gefühl, einen Freund gewonnen zu haben.
Nialls POV
In meinem Zimmer mache ich mich im Bad fertig und hieve mich dann mühevoll aufs Bett. Meine Gedanken schweifen zu Louis. Der wuschelhaarige Wirbelwind hat mich von meinem Schicksal abgelenkt und ich freue mich, ihn morgen wieder zu sehen. Mein Handy klingelt und ich gehe dran, ohne zu schauen, wer anruft. Entweder Liam, mein bester Freund oder jemand aus meiner Familie.
"Hallo?"
"Hallo Ni, wie geht es dir?", ertönt Liams Stimme.
"Wie soll es mir schon gehen?", stelle ich die Gegenfrage und seufze leise. "Entschuldige, ich wollte dich nicht anzicken. Ich habe jemanden kennengelernt."
"Erzähl", fordert er mich auf und ich fange an zu reden.
Erzähle ihm von Louis, vom gemeinsamen Essen und das er mich abgelenkt hat. Erstaunt stelle ich fest, dass ich die ganze Zeit nicht an meine Karriere gedacht habe.
"Dieser Louis scheint ein toller Kerl zu sein, er tut dir gut. Endlich höre ich mal was anderes als tanzen, Bühne und Auftritt. Das ist toll. Vielleicht wird ja mehr daraus. Du brauchst jemanden, der dich liebt und den du lieben kannst."
"Liam", rufe ich entsetzt aus und bringe ihn damit zum Lachen. "Ich bin hier, um gesund zu werden."
"Dabei kann Liebe ganz viel helfen."
"Idiot", sage ich liebevoll, gebe ihm aber insgeheim Recht.
Bis jetzt hatte ich keine Zeit für eine Beziehung. Liebe passte nie in das Konzept, das bisher mein Leben war. Ich muss zugeben, dass mir Louis wirklich gut gefällt. Eine Weile reden wir noch miteinander, dann verabschiedet sich Liam und ich beschließe, noch ein wenig zu lesen.
Am nächsten Morgen reißt mich mein Wecker aus einem süßen Traum. Grummelnd mache ich mich für den Tag fertig und rolle in den Speisesaal. Dort sind noch nicht viele Leute, auch von Louis ist noch nichts zu sehen. Nach einem Brötchen und einer Tasse Kaffee bin ich bereit für die erste Therapiestunde.
Ich rolle durch die Gänge auf der Suche nach dem richtigen Raum. Endlich habe ich ihn gefunden und werde freundlich begrüßt. Der Therapeut hilft mir auf die Liege, nimmt mir die Bandage ab, die den Gips ersetzt. Danach beginnt er, leichte Streck- und Beugeübungen mit meinem Bein zu machen. Stechender Schmerz schießt durch meinen Körper und ich wimmere leise.
"Sie werden sehen, es wird jeden Tag besser", beruhigt er mich. "Die Verletzung ist sehr schwer, Sie werden Geduld haben müssen."
"Ich habe Zeit. Meine Karriere ist vorbei", gebe ich leise zurück.
"Versuchen Sie positiv zu denken. Alles wird gut."
"Das hat Louis auch gesagt", rutscht es mir heraus.
"Sie haben also schon Bekanntschaft mit dem kleinen Wirbelwind gemacht."
"Du, bitte. Ich heiße Niall. Ja, gestern morgen. Er ließ sich von meiner grummeligen Art nicht abschrecken."
"Mein Name ist Nick. So ist Louis, eine echte Frohnatur. Lass dich von ihm anstecken, das tut der Gesundheit gut."
Nach 45 Minuten ist die Behandlung vorbei und ich habe zwei Stunden, bis ich im Hallenbad sein muss. Ich rolle in den Park und halte nach Louis Ausschau. Unter dem Baum von gestern entdecke ich ihn und als er mich sieht, breitet sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus.
Louis' POV
"Guten Morgen, Niall. Wie geht es dir?"
"Guten Morgen, Lou. Geht schon. Die Therapie war echt schmerzhaft."
Er reibt sich das Knie und rollt neben die Bank, auf der ich sitze. Nachdenklich schaut er mich an und atmet tief durch.
"Ich bin Tänzer, naja, ich war Tänzer. Vor etwas mehr als drei Wochen habe ich mir durch eine Dummheit meine Karriere versaut. Nach dem Training habe ich die Treppe genommen, bin gesprungen und habe auf dem Absatz eine Pirouette gedreht. Danach wollte ich mich am Geländer festhalten, aber ich habe es verfehlt und bin gestürzt. Mein Knie wurde bei dem Unfall zertrümmert, das Tanzen muss ich an den Nagel hängen. Das Ballett war mein Leben, jetzt hänge ich in der Luft und weiß nicht, wie es weitergehen soll."
Eine Träne rollt über seine Wange. Ich lege ihm die Hand auf den Arm und spende ihm so ein bisschen Trost. "Es gibt immer einen Weg, Niall. Du wirst deinen finden, da bin ich sicher."
"Wie wird es bei dir weitergehen?"
"Ich muss noch ein paar Wochen bleiben, bis ich mit meiner Prothese umgehen kann. Danach werde ich mir eine Arbeit suchen, die ich damit machen kann und mich vielleicht endlich mal verlieben. Das kam bisher immer zu kurz."
Warum ich Niall das alles erzähle, weiß ich nicht, aber ich habe das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen. Er ist anders, als die Männer, die ich bis jetzt kennengelernt habe. Als er zur Wassertherapie muss, begleite ich ihn. Ich sitze am Beckenrand, lasse die Beine ins Wasser baumeln und beobachte die Übungen, die er machen muss. Er verzieht schmerzlich das Gesicht und ich leide mit ihm.
Instinktiv reibe ich mir über den Stumpf meines linken Arms. Ab und zu habe ich Phantomschmerzen, die mich wahrscheinlich mein restliches Leben begleiten werden. Nachdem Niall fertig ist, sieht er aus, als würde er gleich aus dem Rollstuhl kippen.
"Du solltest dich ein wenig ausruhen. Möchtest du ins Bett gehen?"
"Nein. Können wir in den Park gehen?"
"Sehr gerne. Fahr schon mal vor, ich muss noch was besorgen."
Ohne auf seine Antwort zu warten, eile ich davon. In meinem Zimmer stopfe ich Getränke, Müsliriegel und Schokolade in einen kleinen Rucksack, den ich auf meinen Rücken bugsiere. Dann schnappe ich mir die karierte Decke und mache mich auf den Weg in den Park.
Unter unserem Baum wartet Niall auf mich. Ich breite die Decke aus, stelle den Rucksack ab und helfe Niall aus dem Rollstuhl. Wir legen uns nebeneinander, schauen in den Himmel und hängen unseren Gedanken nach.
"Ein schöner Tag heute, nicht wahr?", wiederholt er meinen Spruch von gestern.
"Ja, es ist ein schöner Tag."
"Danke, dass du für mich da bist. Mein bester Freund hat leider zu wenig Zeit, um mich jeden Tag besuchen zu kommen."
"Harry und Zayn kommen auch nicht jeden Tag. Wir haben ja jetzt uns." Ich rutsche näher zu ihm und lege meinen Kopf an seine Schulter.
Niall seufzt leise, sein Arm schlingt sich von selber um mich. Ich lausche seinem ruhigen Atem und lasse mich davon in den Schlaf lullen.
Nialls POV
Lächelnd schaue ich zu Louis, der an mich gekuschelt eingeschlafen ist. Vorsichtig lege ich mich bequemer hin, schließe ebenfalls die Augen und gleite in einen leichten Schlaf. Die Therapie ist anstrengend und ich brauche ein wenig Erholung.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, als mich eine sanfte Berührung an der Wange aufweckt. Blinzelnd öffne ich die Augen und fange wieder an zu lächeln. Louis hat sich ein bisschen gedreht, seine weichen Haare streichen dabei über mein Gesicht. Nach einem Blick auf die Uhr, stelle ich fest, dass wir seit zwei Stunden hier liegen.
"Aufwachen, Schlafmütze", sage ich leise.
Verschlafen öffnet er die Augen und reibt sie kurz, dann schaut er mich an. "Wie lange habe ich geschlafen?"
"Zwei Stunden."
"Das hat gut getan", sagt er und lächelt mich sanft an.
Mein Herz macht einen kleinen Hopser, bevor es wieder normal weiterschlägt. Es war vielleicht nicht Liebe auf den ersten Blick, aber vermutlich auf den zweiten.
"Hast du...musst du nicht zur Behandlung?", stottere ich.
"Heute nicht. Musst du noch wo hin?"
"Nein", antworte ich und tue etwas, für uns beide, unerwartetes.
Ich ziehe Louis wieder an mich und schlinge die Arme um ihn. Es tut mir gut, dass er da ist und ich genieße jede Sekunde, die wir zusammen verbringen.
In den nächsten Tagen werden wir ein unzertrennliches Gespann. Nur selten sind wir ohne den andern anzutreffen. Da ich mehr Behandlungen habe als Lou, begleitet er mich fast immer. Heute darf ich ihn mal begleiten und bei der finalen Anprobe seiner Prothese dabei sein. Aufgeregt sitze ich daneben und beobachte alles ganz genau. Dann ist es endlich soweit, es ist alles angepasst und Louis soll versuchen, die Finger zu bewegen.
Ängstlich schaut er mich an, deshalb strecke ich ihm die Hand hin. Er versteht, was ich ihm sagen will und hebt vorsichtig den Arm. Dann legt er die Hand in meine und schließt langsam seine Finger um meine. Tränen glitzern in seinen Augen, eine davon rollt über seine Wange. Erst jetzt wird mir klar, unter welchem Druck er gestanden hat.
"Es funktioniert", wispert er.
"Ich bin so stolz auf dich", sage ich leise und muss die Tränen zurückhalten.
Louis hat mir in den letzten Tagen gezeigt, dass es wichtigere Dinge gibt, als Karriere zu machen. Freundschaft, füreinander da sein und vielleicht, ganz vielleicht auch Liebe.
"Darf ich sie anbehalten?", fragt er aufgeregt.
"Selbstverständlich darfst du sie anbehalten. Ab jetzt gehört sie dir. Wir sehen uns morgen zum Training."
Wir verlassen den Behandlungsraum und Louis greift wieder nach meiner Hand. Glücklich lächelnd geht er neben meinem Rollstuhl her und wir finden uns im Park wieder. Dort setzt er sich auf meinen Schoß und kuschelt sich an mich. Liebevoll lege ich die Arme um ihn und genieße unsere Zweisamkeit.
Louis' POV
Zwei Wochen nach seiner Ankunft bekommt Niall zum ersten Mal Krücken in die Hand gedrückt. Zaghaft macht er die ersten Schritte, belastet vorsichtig das verletzte Knie, wie der Therapeut es ihm erklärt. Ich sitze auf der Liege, lasse die Beine baumeln und schaue ihm stolz dabei zu, wie er den Raum durchquert und langsam wieder auf mich zukommt.
Endlich erscheint ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, auch wenn er sich ziemlich anstrengen muss. Als er vor mir steht, hopse ich von der Liege und umarme ihn sanft.
"Das hast du super gemacht. Bald bist du wieder ganz hergestellt."
Wir dürfen die Krücken mitnehmen, Niall soll noch ein wenig alleine üben. Nachmittags wollen unsere besten Freunde zu Besuch kommen. Harry hat schon geschrieben, dass er Kuchen mitbringen wird. Nach dem Mittagessen legen wir uns in meinem Zimmer zusammen aufs Bett. Niall ist schon viel mobiler, als noch vor ein paar Tagen. Seufzend schließt er die Augen.
"Es tut gut, wieder auf den Beinen zu stehen. Nach meinem Unfall habe ich nicht darauf zu hoffen gewagt. Das du dabei an meiner Seite warst, macht das Ganze noch schöner." Er stützt sich auf dem Ellbogen ab und schaut mich liebevoll an. "Louis, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll..."
"Immer frei heraus damit, Ni."
Seine Wangen färben sich rosa und er senkt den Blick. "Ich...ich habe mich in dich verliebt, Lou", flüstert er.
Ich lege ihm die Hand an die Wange und streiche sanft mit dem Daumen über die weiche Haut. "Ich habe mich auch in dich verliebt."
Seine Augen beginnen zu strahlen und wir kommen uns immer näher. Sanft berühren sich unsere Lippen und ich
schwebe auf Wolke 7. Immer wieder küssen wir uns und vergessen dabei völlig die Zeit. Erst als es an der Zimmertür klopft, lösen wir uns voneinander. Ich öffne die Tür und lasse meine Freunde herein. Sie haben einen, mir unbekannten, Mann im Schlepptau.
"Hier bist du", sagt er, eilt zu meinem Bett und umarmt Niall fest.
Eifersucht wallt in mir auf, als ich das sehe. Zayn knufft mich in die Seite und grinst mich wissend an. Da ich im Moment abgemeldet bin, begrüße ich erstmal meine Freunde. Dann höre ich, dass Niall meinen Namen sagt und drehe mich zu ihm um.
"Darf ich dir meinen Freund Louis vorstellen?"
"Dein Freund?", fragen die Jungs gleichzeitig.
Ich setze mich zu Niall, nehme seine Hand und küsse ihn auf die Wange. "Ja, sein Freund. Wir sind seit heute zusammen."
Wir werden beglückwünscht und anschließend in den Park gescheucht. Harry verteilt den Kuchen, dabei fällt mir auf, wie zurückhaltend er Liam gegenüber ist. Trotzdem kann er die Augen nicht von dem braunhaarigrn Mann lassen. Auch Nialls bester Freund schielt immer wieder zu ihm hinüber. Ich amüsiere mich innerlich königlich über die beiden.
Erst als Niall und ich zum Abendessen gehen, verabschieden sich die Jungs. Etwas ungeschickt schneide ich mein Fleisch klein, aber es klappt jeden Tag besser. Ich lächle Niall glücklich an und er erwidert es sofort.
"Hast du gesehen, wie sich Liam und Harry dauernd angesehen haben?", fragt er zwischen zwei Bissen.
"Ja. Ich habe Harry selten so schüchtern erlebt. Denkst du, sie bekommen es alleine auf die Reihe?"
"Wenn nicht, spielen wir Amor."
Nialls POV
Vier Monate später werde ich aus der Reha entlassen. Für weitere Strecken brauche ich die Krücken noch, aber in meiner Wohnung kann ich mich auch ohne ganz gut bewegen. Louis würde schon früher entlassen, kam mich aber jeden zweiten Tag besuchen. Wir sind ein absolut glückliches Paar und ich bin dem Schicksal tatsächlich dankbar dafür, dass ich ihn kennengelernt habe.
Dank psychologischer Unterstützung habe ich mich auch damit arrangiert, nie mehr auf der Bühne zu stehen. Es gibt definitiv wichtigere Dinge, als Karriere und Ballett. Nervös schaue ich auf die Uhr und streiche nochmal durch meine Haare. In fünf Minuten holt Louis mich zu einem Date ab. Er wollte mir nicht verraten, wo es hingehen wird. Endlich klingelt es. Ich nehme die Krücken und gehe langsam hinaus.
Mein Freund wartet am Auto und küsst mich liebevoll zur Begrüßung. Sanft umarme ich ihn und atme seinen Duft ein. Er macht mich unglaublich glücklich und ich grinse schon wieder übers ganze Gesicht.
"Wo fahren wir hin?"
"Das siehst du gleich. Steig ein, dann können wir los."
Ich bin stolz darauf, dass er es geschafft hat, wieder Auto fahren zu können. Am Anfang tat er sich wegen seiner Prothese sehr schwer, aber mittlerweile vergesse ich oft, dass er sie trägt. Nach einer halben Stunde Fahrt kommen wir an einem kleinen Restaurant an. Überrascht schaue ich mich drinnen um. Eine Liveband spielt und es gibt eine kleine Tanzfläche.
Beim Essen unterhalten wir uns angeregt und Louis erzählt mir lachend, wie sehr Harry von Liam schwärmt. Die beiden hatten vor ein paar Tagen ein Date und es lief wohl sehr gut. Nachdem wir das Dessert verspeist haben, steht mein Freund auf und hält mir die Hand hin.
"Darf ich bitten?"
"Aber Lou...ich..."
"Kein aber, Niall. Bitte, tanz mit mir."
Zögernd folge ich ihm auf die Tanzfläche. Seit dem Unfall habe ich nicht mehr getanzt und bin total verunsichert. Liebevoll legt Louis die Arme um mich und lächelt mich an. Damit nimmt er mir ein wenig die Aufregung. Langsam fangen wir an, uns zur Musik zu bewegen. Sofort fühle ich mich besser, tanzen verlernt man nicht einfach.
"Danke für alles, Lou. Ich liebe dich von ganzem Herzen."
"Ich liebe dich auch, Ni."
Obwohl viele Blicke auf uns liegen, küsst er mich zärtlich. Wir befinden uns in unserer eigenen, kleinen Welt, wo niemand sonst Zutritt hat. Dank einem dummen Unfall habe ich den wundervollsten Mann der Welt kennen und lieben gelernt.
Auch er war schwer verletzt und wir haben sicherlich noch einen weiten Weg vor uns bis wir beide ganz gesund sind, aber ich weiß, dass wir es zusammen schaffen können. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, hauche einen sanften Kuss auf seinen Hals und sauge seinen Geruch ein. Gemeinsam tanzen wir in eine glückliche Zukunft.
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