71. Narry
Harrys POV
Es ist unglaublich still hier, obwohl um mich herum geschäftiges Treiben herrscht. Das leise Piepen der Maschinen höre ich schon lange nicht mehr. Seit Tagen sitze ich von früh bis spät in diesem Zimmer, beobachte die Linie des Herzschlags auf dem Monitor und halte die warme, aber leblose Hand meines Freundes. Wenn er mir nur ein kleines Zeichen geben würde, dass er noch da ist, dass ich ihn nicht verloren habe. Dieser verdammte Unfall hat beinahe unser Leben zerstört. Ich höre ein leises Klopfen, dann legt mir jemand die Hand auf die Schulter.
"Immer noch keine Veränderung?" Liam. Er ist jeden Tag da, Louis und Zayn lassen sich eher selten blicken.
"Nein, nichts. Niall reagiert weder auf meine Stimme, noch auf etwas anderes. Was soll ich denn machen, wenn er nie wieder aufwacht und ich ihm nicht mehr sagen kann, dass es mir leid tut und ich ihn über alles liebe? Nur weil ich so ein Idiot bin, liegt er jetzt hier."
"Das wird nicht passieren, Hazza. Er kommt ganz sicher zu uns zurück. Außerdem ist es nicht deine Schuld. Niall war aufgebracht und ist kopflos auf die Straße gelaufen."
Bei Liams Worten habe ich sofort wieder die schrecklichen Bilder im Kopf. Den lautstarken Streit, wie ich meinen Freund am Arm gepackt habe, wie er sich losgerissen hat und aus dem Haus gestürmt ist. Keine Minute später hörte ich Bremsen quietschen, einen Aufprall und dann Totenstille. Ich sehe Niall blutüberströmt auf der Straße liegen, höre mich seinen Namen schreien. Sirenengeheul, geschäftiges Treiben um uns herum. Ich werde von ihm weggezogen, damit sie ihn versorgen können. Wie im Nebel nehme ich wahr, wohin sie ihn bringen werden und verspreche nachzukommen. Mitfahren darf ich leider nicht. Meine Finger wählen wie von selber Liams Nummer und als er meine Stimme hört, die sich gespenstisch anhört, kommt er sofort vorbei. Er bringt mich dazu, mich zu duschen und umzuziehen, weil ich Nialls Blut an Händen und Kleidern habe. Sollte er sterben, wird es dort den Rest meines Leben kleben.
Ein sanftes Rütteln an der Schulter holt mich zurück in die Gegenwart. Erst jetzt merke ich, dass Liam mich in seine Arme gezogen hat, dass ich weine und am ganzen Leib zittere.
"Du kommst jetzt mit zu mir", bestimmt er mit fester Stimme.
Eilig schüttle ich den Kopf. "Ich kann hier nicht weg. Niall braucht mich."
"Denkst du es nützt ihm, wenn du zusammenbrichst? Harry, du bist nur ein Mensch und ich sehe, wie schlecht es dir geht. Ich bin dein bester Freund und werde jetzt dafür sorgen, dass du dich endlich ausruhst."
Liam lässt keine Widerworte gelten. Ich küsse Niall auf die Stirn und sage ihm, dass ich ihn liebe. Danach folge ich meinem besten Freund hinaus. Bei ihm angekommen, drückt er mich aufs Sofa, deckt mich zu und legt sich wortlos zu mir. In seinen starken Armen kann ich mich langsam entspannen und meine Augen fallen zu. Tief und traumlos schlafe ich endlich mal ein paar Stunden durch und wache ein wenig erholter auf.
"Danke, Li", flüstere ich.
Er hat die Augen geschlossen, lächelt aber bei meinen Worten. "Nicht dafür. Komm wir machen was zu Essen und dann schauen wir uns einen Film an. Willst du Lou und Zayn dazu bitten?"
"Gute Idee."
Die beiden sagen zu und wir machen uns einen ruhigen Abend. Natürlich sind meine Gedanken bei Niall, aber die Jungs haben recht, ich darf mich nicht kaputt machen. Wenn ich für meinen Freund stark sein will, brauche ich Schlaf und Ablenkung.
Nialls POV
Ich komme mir vor, als würde ich in tiefer Dunkelheit schweben. Es ist so finster, dass ich die Hand vor Augen nicht sehen kann. Langsam drehe ich den Kopf und stöhne leise. Mein ganzer Körper ist ein einziger Schmerz. Was zum Teufel ist passiert? Wo bin ich überhaupt? Und viel wichtiger: Wo ist Harry?
Auf einmal fluten Bilder mein Hirn und durchbrechen die Dunkelheit. Wir hatten Streit, ich bin aus dem Haus gerannt und dann war da dieses Auto. Ich hatte einen Unfall und wie es aussieht, habe ich überlebt. Wie lange ist das jetzt her? Ein leises Geräusch dringt an mein Ohr. Es ist ein unregelmäßigiges Piepen. Wahrscheinlich hänge ich an jeder Menge Maschinen. Vorsichtig taste ich mit den Fingern das Bett neben mir ab und bekomme ein kleines Kästchen zu fassen. Wild drücke ich darauf herum und höre Sekunden später Schritte näher kommen.
"Mr Horan, können Sie mich hören?", fragt eine weibliche Stimme.
"Ja", krächze ich und erschrecke, beim Klang meiner Stimme. "Können Sie bitte Licht machen, es ist so dunkel hier drin."
Die Schwester schweigt einen Moment und mein Herz beginnt zu Rasen. Hier stimmt etwas nicht. "Mr Horan, bitte bleiben Sie ruhig. Ich hole den Arzt dazu, der Sie gründlich untersuchen wird."
Es dauert nicht lange, bis der Arzt kommt und mich begrüßt. "Hallo Mr Horan, da sind Sie ja wieder. Bleiben Sie ganz ruhig, ich werde Sie untersuchen. Schwester Mary deckt Sie kurz ab, damit ich die Beine abtasten kann."
Ich nicke nur, habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Denn seit Schwester Mary so komisch reagiert hat, habe ich einen Gedanken im Kopf, der immer lauter wird.
'Ich bin blind.'
Die Untersuchung dauert nicht sehr lange, dann wird die Decke wieder über mir ausgebreitet. Sanfte Hände tasten meine Arme, den Brustkorb und den Hals ab.
"Haben Sie starke Schmerzen?"
"Nein, nicht sehr stark, aber überall", antworte ich leise.
"Mary wird Ihnen ein stärkeres Schmerzmittel geben. Sie waren ein paar Tage im Koma, da spürt man sie nicht."
"Was ist mit meinen Augen?"
"Ich werde Ihnen jetzt mit einem starken Licht hineinleuchten. Sagen Sie mir, ob Sie das sehen können."
Angestrengt versuche ich, das Licht zu erkennen, aber egal wie sehr ich mich auch anstrenge, es bleibt alles dunkel. "Es ist alles dunkel", presse ich mühsam hervor.
"Sind Sie einverstanden, dass wir ein MRT Ihres Kopfes machen, um Klarheit zu erhalten, warum Sie nichts sehen können? Ohne diese Untersuchung ist es kaum möglich eine Diagnose zu stellen."
"Machen Sie nur. Könnten Sie bitte meinen Freund anrufen und ihn bitten, herzukommen?"
"Ich mache das", vernehme ich Marys Stimme und nicke dankbar.
Doch bevor er kommt, werde ich zur MRT Untersuchung gebracht. Ich liege auf einer schmalen Liege, werde zugedeckt und bekomme Ohrenstöpsel. Verwundert runzle ich die Stirn.
"Die Maschine ist ziemlich laut", kommt auch schon die Erklärung. "Ich spritze Ihnen noch ein Kontrastmittel, dann geht es los. Dauert etwa zehn Minuten, bitte bleiben Sie ganz ruhig liegen. Hier ist ein Rufknopf, für den Fall, dass Sie es gar nicht mehr aushalten."
"Danke." Mehr bringe ich nicht über die Lippen.
Ich denke an Harry, während ich in dieser Höllenmaschine liege. Was wird jetzt aus uns? Gibt es noch ein uns? Bin ich noch böse auf ihn, wegen des Streits? Nein, auf keinen Fall. Jeder streitet mal, das kommt in den besten Familien vor. Allerdings kam nach dem Streit der Unfall und der hat mich wahrscheinlich mein Augenlicht gekostet. Stumme Tränen laufen über mein Gesicht. Werde ich ihm das verzeihen können? Über meinen Grübeleien ist die Zeit schnell vergangen und ich werde wieder auf mein Zimmer gebracht.
Ich kann Harrys Duft riechen, der trotz des Krankenhausgeruchs im Raum hängt. Kaum ist die Tür hinter Schwester Mary zugefallen, greift er nach meiner Hand.
"Niall, ich bin so froh, dass du wach bist. Wie fühlst du dich?"
Erneut drängen sich Tränen unter meinen geschlossenen Lidern hervor. "Ich kann nicht mehr sehen, Harry", flüstere ich.
Harrys POV
Im Zimmer ist es plötzlich so still, das man eine Stecknadel fallen hören könnte. Mir wird eiskalt, Schauer laufen über meinen Rücken. Niall ist blind, er wird nie wieder sehen können und das ist allein meine Schuld.
"Es tut mir so leid, Ni, es tut mir so unendlich leid."
"Kannst du mich in den Arm nehmen?"
"Rutsch ein kleines Stückchen zur Seite."
Vorsichtig rückt er etwas, macht mir Platz und ich lege mich zu meinem Freund aufs Bett. Kaum habe ich die Arme um ihn gelegt, schluchzt er auch schon hemmungslos. Ich halte ihn fest, streiche durch seine Haare und weine mit ihm. Alles wird sich ändern. Unser Leben, unsere Beziehung, wenn wir noch eine haben, einfach alles.
"Ich wünschte, ich könnte dir diese Last abnehmen", murmele ich und drücke einen Kuss auf seinen Kopf.
"Du würdest an meiner Stelle blind sein wollen?", schnieft er und klingt fassungslos.
"Du bist mein Leben, Niall. Für dich würde ich alles tun."
"Bleibst du hier, solange ich ein wenig schlafe? Ich bin so unendlich müde."
"Selbstverständlich, Babe. Ich gehe nicht weg. Schlaf, ich passe auf dich auf."
Zwei Stunden Ruhe werden uns gegönnt, dann kommt der Arzt herein. Zuerst schaut er etwas irritiert, lächelt aber dann.
"Niall, der Arzt ist da. Soll ich draußen warten?"
Seine Hand schließt sich so fest um meine, das es fast wehtut. "Nein, bitte bleib hier."
"Gut, Mr Horan. Das MRT hat Gewissheit gebracht. Ihr Sehnerv wurde bei dem Unfall gequetscht. Das Gute ist, er wurde nicht durchtrennt, was bedeutet, er kann sich eventuell regenerieren. Ob das geschieht und wie lange es dauern wird, kann ich leider nicht sagen. Es tut mir leid, Ihnen keine bessere Diagnose stellen zu können."
"Wie hoch ist die Chance, dass ich eines Tages wieder sehen kann?"
"50/50. Sie müssen Geduld haben, dürfen sich nicht selber unter Druck setzen. Je mehr sie sich stressen, desto weniger wird ihr Körper kooperieren. Sie haben gute Freunde, die Ihnen in der schweren Zeit eine Stütze sein können. Ich lasse Sie allein, sollten Sie mit einem Psychologen reden wollen, lassen Sie es mich wissen."
"Danke."
Nachdem wir wieder alleine sind, tastet Niall nach meinem Gesicht. Ich nehme seine Hand und lege sie an meine Wange. Zärtlich streicht er darüber, dann schiebt er seine Finger in meine langen Locken. Er kommt immer näher und ich warte atemlos ab, ob er mich küssen wird. Sanft legen sich seine weichen Lippen auf meine, streichen zart darüber und verschwinden wieder.
Doch ich habe keine Zeit, um mehr zu fordern, da sind sie auch schon zurück und verschlingen mich schier. Ich spüre Nialls Verzweiflung, seine Angst und Unsicherheit. Vorsichtig ziehe ich mich ein wenig zurück, lasse den Kuss zärtlich und sanft werden. Zeige ihm, dass ich da bin und nicht weggehen werde. Unsere Tränen mischen sich, machen die Liebkosung dadurch bittersüß.
"Lass mich nicht allein", nuschelt er undeutlich, weil er den Kuss nicht wirklich unterbrechen will.
"Niemals, mein Engel. Ich liebe dich, Niall und daran wird sich auch nichts ändern."
Wir kuscheln uns zusammen, seine Finger spielen mit meinen Haaren. "Kannst du den Jungs sagen, dass sie herkommen sollen? Ich möchte ihnen sagen, was los ist."
"Wenn du mich kurz loslässt, schreibe ich ihnen eine Nachricht." Nachdem ich sie abgesendet habe, ziehe ich meinen Freund wieder an mich und er seufzt leise. "Habe ich dir weh getan?"
"Nein. Ich habe nur grade dran gedacht, dass ich lieber einen gebrochenen Arm oder ein kaputtes Bein hätte, als blind zu sein. Wie kann man gleichzeitig solches Glück und solches Unglück haben?"
Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Denn Niall hat recht. Obwohl er Prellungen und Wunden am ganzen Körper hat, ist er eigentlich glimpflich davon gekommen. Warum in Gottes Namen musste er blind werden?
Nialls POV
Schweigend liegen wir da, Harry weiß nicht, was er sagen soll und ich verstehe ihn. Ein leises Klopfen ertönt, dann kommen Schritte näher und ich höre die Stimmen meiner Freunde. Stürmisch umarmen sie mich, Fragen prasseln auf mich ein. Das entlockt mir ein kleines Lächeln.
"Setzt euch, ich muss euch was sagen."
"Das klingt ernst", sagt Liam besorgt.
"Es ist ernst." Wieder diese atemlose Stille, ich kann ihre Blicke auf mir spüren. "Mein Sehnerv wurde gequetscht."
"Was...was heißt das?", stottert Louis.
"Ich bin blind und momentan wissen die Ärzte nicht, ob mein Sehvermögen zurückkommen wird. Die Chancen stehen 50 zu 50."
Auf einmal spüre ich einen Luftzug vor meinem Gesicht. "Lass das, Zee. Ich kann das nicht sehen, auch wenn du dich noch so bemühst."
"Woher weißt du, dass ich das war?", fragt er erstaunt.
"Dein Parfum hat dich verraten."
Er zieht mich in eine dicke Umarmung und küsst mich auf die Wange. "Du weißt, daß wir alle für dich da sind, nicht wahr?"
"Das weiß ich. Danke, Jungs."
Gleich darauf finde ich mich im Zentrum einer Gruppenumarmung wieder und merke, dass ich schon wieder weine. Zumindest dazu sind meine Augen noch zu gebrauchen. Wie soll ich mich Zuhause bloß zurecht finden? Auch wenn alle für mich da sind, können sie nicht rund um die Uhr bei mir bleiben. Außerdem haben wir Termine. Mir wird schlagartig heiß. Wie soll ich denn mit den Jungs auftreten, wenn ich nichts sehen kann? Was ist eigentlich mit den Fans? Weiß die ganze Welt Bescheid, was mit mir passiert ist?
"Was wird aus der Band?", wispere ich.
"Wie meinst du das?", will Harry wissen.
"Ich kann doch so nicht auftreten. Was, wenn ich von der Bühne falle? Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen."
"Red keinen Stuß", sagt Louis energisch. "Wir werden das üben. In nächster Zeit sind sowieso keine Auftritte geplant und bis es wieder soweit ist, hat Doktor Tommo dich wieder auf die Beine gebracht."
Mir klappt bei seinen Worten der Mund auf und damit bringe ich sie alle zum Lachen.
"Mund zu, es zieht."
"Liam", schimpfe ich empört, muss aber dann mitlachen.
Ich bin froh, sie alle zu haben. Ohne die Jungs würde ich diese schwere Zeit nicht schaffen. Sie werden sicher dafür sorgen, dass ich mich nicht hängen lasse.
Trotzdem drängt sich abends, als ich alleine bin, der Gedanke auf, wie ich Zuhause zurecht kommen soll. Ich kann doch nicht von Harry verlangen, mich zu versorgen, wie ein kleines Kind. Harry, mein geliebter Harry. Vielleicht sollte ich einfach gehen, er wäre ohne mich besser dran. Erneut laufen Tränen über mein Gesicht, aber ich habe keine Kraft, sie wegzuwischen. Nur daran zu denken, ihn zu verlassen, tut unglaublich weh.
Nach nur wenigen Stunden Schlaf bringt mir Schwester Mary das Frühstück. Hier zeigt sich zum ersten Mal, wie unfähig ich bin, für mich zu sorgen. Ich kann mir nicht mal Butter auf ein Brötchen schmieren und stoße zudem die halbvolle Tasse Kaffee um. Wütend fege ich das ganze Tablett auf den Boden, der Krach lockt Mary wieder herein.
"Entschuldigen Sie Mr Horan, ich hätte Ihnen helfen sollen."
"Ich bin ein nutzloser Krüppel. Entschuldigen Sie sich nicht, Mary. Sagen Sie, wann kann ich entlassen werden?"
"Sie werden sicher noch ein paar Tage bleiben müssen."
"Nein, das geht nicht. Bitte, ich muss so schnell wie möglich hier raus."
"Ich spreche mit dem Arzt und sage dann Bescheid."
Eine Stunde später sitze ich dank Marys Hilfe in einem Taxi und bin auf dem Weg zu meiner Familie. Die wissen noch gar nicht, dass ich wieder wach bin und nicht mehr sehen kann.
Harrys POV
Ein ungutes Gefühl beschleicht mich, als ich Nialls Zimmer betrete und ein leeres Bett vorfinde. Ich eile zum Schwesternzimmer und treffe dort auf Mary, die gestern schon bei Niall war.
"Schwester Mary, wo ist Niall Horan? Hat er eine Untersuchung?"
"Nein, Mr Horan hat keine Untersuchung. Er hat sich heute Morgen selber entlassen."
"Wissen Sie, wohin er wollte?"
"Leider nicht. Es tut mir leid."
"Schon in Ordnung. Danke für die Hilfe."
Ich eile hinaus, ziehe mein Handy aus der Tasche und wähle Nialls Nummer. Der Anruf wird sofort zur Mailbox geleitet, deshalb lege ich frustriert auf und wähle Liams Nummer.
"Weißt du wo Niall ist?", falle ich gleich mit der Tür ins Haus.
"Hazza, was ist passiert?"
"Niall hat sich selber entlassen und ist verschwunden."
"Ist der Kerl verrückt geworden?", schimpft er lautstark. "Hast du versucht, ihn anzurufen?"
"Mailbox", knurre ich. "Li, ich habe Angst. Er ist blind und da draußen ganz allein. Niall hat nicht mal einen Bodyguard bei sich. Wo kann er hin wollen?"
"Nach Hause", sagt Liam leise.
"Dort ist er nicht, da hätte ich ihn doch gesehen."
"Das meine ich nicht."
"Seine Familie. Natürlich, dass ich da nicht drauf gekommen bin. Ich rufe seine Mutter an."
"Mach das und halt mich auf dem laufenden."
"Auf jeden Fall."
Leider weiß Nialls Mutter auch nicht, wo er ist. Bisher ist er noch nicht dort angekommen. Ich fahre nach Hause und hoffe, ihn doch dort anzutreffen. Wieso haut er denn einfach ab? Gestern wollte er noch, dass ich ihn nicht allein lasse, heute verschwindet er spurlos. Aber auch da ist er nicht. Frustriert lasse ich mich aufs Sofa fallen und raufe mir die Haare.
Plötzlich klingelt mein Handy und ich ziehe es hastig aus der Tasche.
"Hallo?", melde ich mich atemlos.
"Harry", höre ich Niall schniefen.
"Babe, wo bist du?"
"Ich wollte...wollte zu meiner Familie. Kannst du mich abholen?"
"Natürlich. Sag mir, wo du bist."
"Am Bahnhof."
"Bleib, wo du bist. Ich mache mich sofort auf den Weg."
Während ich zum Bahnhof fahre, kreisen meine Gedanken unablässig um Niall. Hoffentlich passiert ihm nichts, bis ich da bin.
Nialls POV
Ich wollte eigentlich zu meiner Familie, aber dann wurde mir klar, dass ich das Harry nicht antun kann und habe mich am Bahnhof absetzen lassen. Es hat ewig gedauert, Harry anzurufen, weil ich zuerst zu stolz war, um Hilfe zu bitten. Erst als eine Frau mich gefragt hat, ob sie mir helfen kann, habe ich eingewilligt. Jetzt ist mein Freund auf dem Weg zu mir und ich hoffe, er ist nicht allzu böse auf mich.
Es dauert gefühlte Stunden bis mir jemand die Hand auf die Schulter legt und mir Harrys Geruch in die Nase steigt. Dann werde ich so fest umarmt, dass ich kaum noch Luft bekomme.
"Mein Gott, Niall. Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Was machst du denn für Sachen? Weißt du, was ich für eine Angst um dich hatte?"
Ich höre, dass er weint und mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. "Es tut mir leid, Hazza. Ich dachte, ich wäre nur eine Belastung für dich."
"Ich liebe dich, Babe. Ob du nun sehen kannst oder nicht. Du bist keine Belastung für mich. Wie kommst du auf so einen Unsinn? Komm, lass uns nach Hause gehen. Du solltest deine Mum anrufen, ich fürchte, ich habe sie aufgeregt mit meinem Anruf."
Ich stehe auf, Harry nimmt meine Hand und scheinbar auch meine Tasche. Langsam gehen wir durch das Gebäude, er sagt mir genau, welche Hindernisse kommen und hilft mir mit der Treppe. Es fühlt sich an, als würde ihm das alles gar nichts ausmachen. Im Auto lehne ich den Kopf ans Fenster und schließe die Augen. Ich bin erschöpft und hätte wohl doch noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben sollen.
"Willst du zuerst zu einem Arzt, um dich untersuchen zu lassen?"
"Nein, ich bin einfach nur erledigt. Ein Nickerchen reicht, dann geht es mir wieder gut." Harry streicht mir sanft übers Bein und ich taste nach seiner Hand. Er verschränkt unsere Finger miteinander und ich kann endlich wieder durchatmen. "Bist du mir sehr böse?"
"Ich bin dir nicht böse, aber mach sowas nie wieder. Du musst erst lernen, dich allein zurecht zu finden."
"Hilfst du mir dabei?"
"Wir alle helfen dir dabei, Babe. Denkst du, wir lassen dich im Stich?"
"Ihr seid die Besten. Harry, ich liebe dich. Danke, dass du für mich da bist."
Zuhause angekommen hilft er mir in die Wohnung und aufs Sofa. "Möchtest du was essen?"
"Nein, jetzt nicht. Kannst du mich in den Arm nehmen und festhalten?"
Ich werde liebevoll in den Arm genommen und lehne mich meinen Freund. Er haucht mir einen sanften Kuss auf die Wange und ich merke, wie ich langsam in den Schlaf gleite.
Harrys POV
Ich gebe den Jungs Bescheid, dass Niall wohlbehalten bei uns Zuhause angekommen ist. Auch seine Mutter rufe ich erneut an und erkläre ihr endlich die ganze Situation. Sie verspricht, in den nächsten Tagen vorbeizukommen. Danach halte ich einfach den schlafenden Niall im Arm und überlege, was wir machen können, um ihm zu helfen. Ich werde seine Kleidung anders einsortieren müssen, damit er sich alleine anziehen kann, ohne wie ein Clown auszusehen. Irgendwann schlafe ich über der ganzen Grübelei ein. Sanfte Finger auf meiner Wange wecken mich auf.
"Hast du gut geschlafen?", frage ich mit rauer Stimme.
"Ja, aber..." Niall senkt den Kopf und wird rot.
"Was ist los, Babe? Rede mit mir, ich kann leider nicht Gedanken lesen."
"Ich müsste mal auf die Toilette", nuschelt er.
Es ist ihm sichtlich peinlich, dass er mich darum bitten muss, ihm dabei zu helfen. Ich nehme einfach seine Hand, führe ihn ins Bad und tue, was getan werden muss.
"Ruf mich, wenn du fertig bist", sage ich und lasse ihm ein wenig Privatsphäre.
Als Niall mich ruft, ist sein Gesicht tränennass. Ich nehme ihn in den Arm und wiege ihn sanft hin und her. Leise murmele ich ihm sanfte, beruhigende Worte ins Ohr.
"Wie soll ich mich denn jemals allein zurecht finden?", schluchzt er.
"Wir schaffen das alles zusammen, Babe."
Ich lotse ihn zurück ins Wohnzimmer, setze mich mit ihm aufs Sofa und küsse ihn zärtlich. Liebevoll wische ich ihm die Tränen von den Wangen und wuschle durch seine zerzausten Haare. Irgendwann klingelt es an der Tür.
"Erwartest du jemanden?", fragt Niall.
"Das sind bestimmt die Jungs."
Damit sollte ich Recht behalten. Kaum habe ich die Tür aufgemacht, werde ich auch schon umarmt. Zayn hält zwei riesige Tüten hoch und grinst übers ganze Gesicht. Wie auf Kommando knurrt mein Magen. Er geht zu Niall ins Wohnzimmer, stellt die Tüten ab und umarmt ihn.
"Wir haben was von Nando's mitgebracht. Ich hoffe, du hast Hunger."
"Ein bisschen", sagt mein Freund fast schüchtern.
Wir setzen uns zusammen, teilen das Essen auf, ich stelle jedem was zu trinken hin und greife nach ein paar Pommes. Niall zögert zuerst, aber dann traut er sich doch, in seinen Burger zu beißen. Louis albert mit ihm herum und ich merke, dass Niall sich langsam entspannt. Zusammen können wir es schaffen, da bin ich mir inzwischen sicher.
Nialls POV
Mittlerweile ist ein halbes Jahr vergangen, seit ich die Diagnose bekommen habe. Inzwischen komme ich sehr gut damit zurecht und brauche nur noch selten Hilfe. Ich habe gelernt Blindenschrift zu lesen, die Jungs und meine Familie kümmern sich rührend um mich und auch die Fans sind Klasse. Jeden Tag bekomme ich viele neue Nachrichten, in denen mir Mut gemacht wird. Wir hatten sogar schon einen Auftritt, den ich ohne Probleme meistern konnte.
Doch heute fühle ich mich überhaupt nicht gut. Mein Kopf schmerzt wie verrückt und mir ist so schlecht, dass ich mich übergeben muss. Harry ist beim Einkaufen, deshalb taste ich mich im Schneckentempo ins Schlafzimmer, um mich ins Bett zu legen, nachdem ich mir den Mund ausgespült und das Gesicht gewaschen habe. Lichtblitze zucken hinter meinen geschlossenen Lidern, wimmernd wälze ich mich hin und her. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis Harry zurückkommt, doch plötzlich spüre ich seine kühlen Hände an meinen Wangen.
"Babe, was ist mit dir?"
Blinzelnd öffne ich die Augen und schließe sie sofort wieder. Das kann nicht sein. Langsam klappe ich die Lider wieder hoch und lasse sie diesmal offen. Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln und laufen schließlich über meine Schläfen.
"Ich...ich kann dich sehen", wispere ich.
"Sag das nochmal."
"Ich sehe dich, Harry. Noch nicht ganz klar, aber ich sehe dich. Ich hatte grässliche Kopfschmerzen, musste mich sogar übergeben. Dann diese Lichtblitze und jetzt sehe ich dich neben mir sitzen."
Er hält mir drei Finger vors Gesicht. "Wie viele Finger siehst du?", fragt er aufgeregt.
"Drei", sage ich und grinse ihn an, während mir immer noch Tränen herunterlaufen.
Vorsichtig setze ich mich auf, aber die Kopfschmerzen sind einem dumpfen Dröhnen gewichen. Meine Sicht ist immer noch verschwommen, aber ich bin sicher, das gibt sich bald.
"Wir müssen ins Krankenhaus fahren, damit sie dich gründlich durchchecken können", sagt Harry und ich nicke langsam.
Noch etwas wackelig auf den Beinen, gehe ich mit ihm zum Auto und wir fahren ins Krankenhaus. Von unterwegs rufe ich Liam an und bitte ihn, mit Zayn und Louis hinzukommen. Ohne eine Erklärung lege ich auf und grinse in mich hinein.
"Li wird sich große Sorgen machen", tadelt mich Harry mit einem Lächeln auf den Lippen.
Im Krankenhaus müssen wir ein wenig warten, bis ich aufgerufen werde. Harry begleitet mich in das Sprechzimmer und ich erkläre dem Arzt, was passiert ist. Er untersucht mich, leuchtet in meine Augen, tastet den Kopf ab und ordnet ein MRT an. Ich habe Glück und kann das gleich noch hinter mich bringen. Danach sieht er sich die Bilder an und zeigt sie auch mir. Daneben sieht man die Bilder von der Verletzung und ich kann deutlich erkennen, wie viel Glück ich gehabt habe.
"Sie müssen in nächster Zeit ihre Augen noch schonen. Gewöhnen Sie sich vorsichtig wieder ans sehen, meiden Sie grelles Sonnenlicht und ruhen Sie sich regelmäßig aus. Dann sollten Sie in ein paar Wochen Ihr komplettes Sehvermögen zurückerlangen."
"Danke."
Wir verlassen das Sprechzimmer und ich sehe meine Freunde im Wartebereich stehen. Liam entdeckt mich als Erster und kommt auf uns zu. Ich fange an zu laufen und falle ihm um den Hals.
"Hallo Li, danke dass ihr gekommen seid."
"Bist du verrückt geworden? Du kannst doch nicht einfach Leute umarmen und hoffen, den richtigen Mann erwischt zu haben", schimpft er los.
"Ich kann wieder sehen", sage ich leise und werde ein Stück zurück geschoben.
Zayn wedelt mal wieder mit der Hand vor meinem Gesicht herum und diesmal greife ich danach. Seine Augen weiten sich überrascht. "Wow, du kannst wirklich sehen", wispert er.
Louis umarmt mich und küsst mich auf die Wange. "Ich bin froh, dass du wieder gesund bist, auch wenn es Spaß gemacht hat, Doctor Tommo zu sein."
Harrys POV
Überglücklich umarmen wir uns schließlich alle und verlassen gemeinsam das Krankenhaus. Niall muss nochmal genau erzählen, wie er gemerkt hat, dass er wieder sehen kann.
Obwohl er sich noch schonen muss, ist er voller Tatendrang und wir müssen ihn mehr als einmal ausbremsen. Das passt ihm gar nicht und vor allem wir beide rasseln immer wieder aneinander. Doch auch wenn wir streiten, weiß Niall doch, dass ich ihn liebe. Da er heute einen Arzttermin zur erneuten Untersuchung hatte, stehe ich in der Küche, um Steaks, Kartoffeln und Salat zu machen. Dann schlingen sich Nialls Arme um mich und er kuschelt sich an meinen Rücken.
"Hallo Babe, ist alles in Ordnung?"
"Hallo Love, ja alles ist gut."
Er sagt, es ist alles gut, aber ich höre, dass seine Stimme zittert. Langsam drehe ich mich zu ihm um und schaue ihn forschend an. Sanft küssen wir uns und Niall drängt sich noch näher an mich. Ich löse den Kuss und streiche über seine Wange.
"Was ist dann los, wenn deine Augen ok sind? Du bist nervös."
"Harry, ich...ich bin dir unglaublich dankbar für alles, was du für mich getan hast und immer noch tust. Ich liebe dich über alles und will dich nicht verlieren. Würdest du...mir die Ehre erweisen, mein Mann zu werden?"
Eine Sekunde schaue ich ihn sprachlos an, bevor ich nicke und sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. "Ja, ja, ja. Natürlich will ich dich heiraten. Ich liebe dich, Niall."
Mit einem liebevollen Kuss besiegeln wir unsere Verlobung. Wir haben viel durchgemacht in den letzten Monaten und sind noch enger zusammengewachsen. Auch unsere Familien haben seitdem noch engeren Kontakt und unsere Mütter werden bestimmt mit Freuden eine große Hochzeit planen.
"Du weißt, dass die Jungs ausflippen werden, wenn sie das erfahren."
"Ich weiß, aber bis dahin..."
"Bis dahin?"
Ich ziehe ihn an mich und lege meine Lippen auf seine. Er seufzt leise in den süßen Kuss und außer uns beiden ist gerade niemand wichtig. Jetzt zählt nur die Liebe und die liebevollen Küsse, die wir teilen.
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