15. Nouis
"Nein, Mister Miller, tut mir leid, wir haben Ihren kleinen Mogli nicht gesehen.", sagte Louis' Mama zu dem alten Mann am Telefon, während sie ihren Sohn mit der anderen Hand wegdrückte.
Sie legte den Hörer auf die Brust und fragte seufzend: "Was ist denn?" Die Antwort ihres quengelnden Sohnes wartete sie erst gar nicht ab und hörte weiter Mister Millers jammernder Stimme zu. "Ich verspreche Ihnen, dass wir uns sofort melden, solten wir Ihren Kater irgendwo sehen. Ich gebe auch Louis bescheid. In Ordnung, auf wiedersehen."
Johannah legte auf und wandte sich gleich an Louis, der wie eine Klette an ihrem Beim hing. "Wenn ich telefoniere, sollst du mich nicht stören.", sagte sie und sah leicht verärgert ihren Sohn an. "Aber ich will doch mit Niall draußen spielen.", mit großen Kulleraugen guckte er seine Mama an. "Wieso fragst du dann nicht deinen Vater?", erwiderte sie unbeeindruckt. "Weil der sagt, ich soll dich fragen.", gab Louis trotzig zurück.
"Wer war das?", rief plötzlich Louis' Papa aus dem Wohnzimmer. "Ach, nur Mister Miller wegen seiner Katze. Wieso schickst du Louis zu mir, wenn ich telefoniere?" "Was?", hallte es aus dem Wohnzimmer. "Ich sagte, wieso...", fing seine Mama erneut an und lief in das geräumige Wohnzimmer.
Louis blieb allein im großen, lichtdurchflutenden Flur stehen und starrte seiner Mama hinterher. Niall war bestimmt schon auf dem Schulhof und wartete auf ihn. Er wollte keine unnötige Zeit mehr verlieren. "Ich geh' raus!", rief er noch in Richtung Wohnzimmer, hielt kurz inne, um die Reaktion seiner Eltern abzuwarten und lief dann zur Tür. Gerade als er seine heißgeliebten Schuhe anzog, hörte er seine Mama rufen: "Sei aber zum Abendessen wieder hier!"
Louis nickte, als könnte ihn seine Mama durch die dicken Wände sehen, zog die Tür auf, die fast doppelt so groß war wie er selbst und verschwand in einen perfekten sonnigen Nachmittag. Es war mitten im Hochsommer und ein müder, träger Tag hier in Doncaster. Die meisten Leute waren weggefahren oder lagen hinter ihren großen, hohen Hecken im Schatten. Nur Louis war unterwegs, mit seiner geliebten alten, zerissenen Hose und einem alten Shirt.
Er und Niall wollten heute in den Wald gehen, um Dinosaurierknochen auzubuddeln. Stan, ein Junge aus ihrer Parallelklasse, hatte behauptet, welche gesehen zu haben. Natürlich hatte er keine Beweise vorzeigen können, aber sein Wort zählte. Unter kleinen Jungs ist das nun mal so.
Louis kickte einen kleinen grauen Stein vor sich her, balancierte dann auf dem hellen, schmalen Rand des Bordsteins und bog rechts zu ihrer kleinen, aber modernen Schule ab.
Dort saß beteits Niall auf den breiten Treppenstufen vor dem großen Eingang, das Gesicht in die Hände gestützt und wartete ungeduldig auf ihn.
"Hallo Niall!", begrüßte er seinen kleinen irischen Freund. "Hi Louis. Es ist so scheiße heiß.", wurde er von diesem, leicht jammernd, ebenfalls begrüßt. "Hast du Geld dabei?", fragte Louis an Niall gewandt. "Nein, und du?" Sein bester Freund sah ihn fragend an. "Fünf Pfund. Wir können doch zum Bäcker und uns Eis kaufen."
Niall, Louis und heiße Sommertage, natürlich brauchten sie da auch Eis. Niall erhob sich wie ein alter, fetter Kater, der kurz vorm sterben war, von den Treppenstufen, riss anschließend den Mund weit auf und gähnte, nur um sich im nächsten Moment der knallenden, heißen Sonne entgegenzustrecken.
"Man gähnt nicht mit offenem Mund.", wies ihn Louis zurecht. "Wie gähnt man denn mit geschlossenem Mind?", wollte Niall erstaunt wissen. "Man hebt die Hand davor, wenn man gähnt. So..." Louis demonstrierte Niall, wie man richtig gähnte, indem er den Mund öffnete und seine kleine, geballte Faust, mit der Stirnseite zuerst, davor hielt.
Für Niall war das keine Offenbarung, er wusste schließlich, wie Erwachsene gähnten, aber er war nun mal viel zu faul, um sich darum zu kümmern. Außerdem war weit und breit kein einziger Erwachsener zu sehen. Die andauernde Hitze hatte sie alle in die Flucht geschlagen.
Die beiden machten sich dann doch mal auf zum Bäcker.
Auf dem Weg dorthin, wurde Niall plötzlich wieder munterer und fing mit seinen Witzen an. "Es ist so heiß, weil deine Mama unter dem Arm schwitzt.", begann Niall und Louis freute sich über die Einladung, auch etwas fieses über Nialls Mama zu sagen. Trotzdem verstand er nicht, inwiefern Nialls Aussage eine Beleidigung sein sollte, geschweige denn überhaupt einen Sinn machte. Louis wollte unbedingt etwas noch gemeineres sagen. "Deine Mama lässt beim Kacken die Tür offen.", konterte er. Niall erwiderte daraufhin lachend: "Deine Mama ist so dick, mit einem gelben T-Shirt sieht sie aus wie die Sonne." "Deine Mama steht nachts vor der Sonne, deshalb ist es dunkel.", kicherte Louis.
Irgendwie gelangten ihnen die Mutterwitze heute nicht sonderlich gut. Erst letzte Woche hatte Niall so schlimme Dinge über Liams Mama gesagt, dass er den Rest der Woche nachsitzen musste. Louis hatte daraufhin so gelacht, dass auch er einen Tag nachsitzen musste. Doch heute war nichts von Nialls Wortakrobatik vorhanden, denn die Witze verpufften in der heißen Sommerluft, noch bevor sie seinen Mund verließen.
Niall wischte sich immer wieder den Schweiß unter seiner roten Mütze eweg und rieb ihn sich unter die Nase.
Als sie endlich beim Bäcker ankamen, sahen sie aus, als wären sie gerade aus dem Pool gestiegen. Louis drúckte die Tür auf, Niall trat hinter ihm ein und machte die Tür wieder zu.
"Hallo.", riefen die beiden fast synchron der alten Verkäuferin zu, die gerade aus dem Hinterzimmer getreten kam. "Heiß heute, oder?", sagte sie zu den beiden, die jetzt über der Eistruhe hingen und gierig hineinstarrten. "Ja.", erwiderte Niall, gefolgt von einem "Mhm" von Louis.
Die Wahl fiel ihnen wirklich schwer. Am liebsten hätten sie die ganze Eistruhe nach draußen geschleift.
"Was nimmst du?", fragte Niall. "Ein Wassereis.", antwortete Louis, der im Kopf bereits ausrechnete, wie viel Eis er für fünf Pfund kaufen könnte. "Nur eins?", unterbrach ihn Niall ungläubig. "Wie viele willst du denn kaufen?", verwirrt schaute Louis seinen besten Freund an. "Mindestens zwei für jeden...", gab Niall schulterzuckend die Antwort auf Louis' Frage. "Das sind 1,20 £ mal zwei...", begann Louis zu rechnen. "2,40 £. Dann könnten wir nochmal vier kaufen.", kam ihm Niall zuvor. "Ich darf aber nicht alles ausgeben.", gab Louis von sich. "Dann noch eine Flasche Wasser.", seufzte Niall unzufrieden. "Ist gut. Du nimmst das Eis und ich hole das Wasser.", gab sich Louis geschlagen. "Welche Sorte?", fragte ihn Niall. "Cola und Waldmeister.", antwortete Louis. Niall angelte sich vier Wassereis aus dem Kühlfach und Louis schleppte unter größter Anstrengung eine 1,5 Liter Flasche Wasser zur Kasse.
"War's das?", fragte die Verkäuferin freundlich und musterte die beiden durchgeschwitzten Jungen grinsend. "Das war's.", sagte Louis und legte einen zerknüllten 5£-Schein auf die Theke. "Das macht genau 3,40 £. Dankeschön." Sie faltete den zerknüllten, leicht feuchten Schein auseinander, tippte den Betrag in die Kasse und zog unter Beobachtung neugieriger Kinderaugen das Wechselgeld aus den jeweiligen Fächern. Sie legte es auf den Wechselteller und lächelte die beiden an.
Louis nahm das Geld vom Tresen ohne sie anzusehen und lief zum Ausgang. Niall folgte mit dem Eis. Sie zogen die Tür auf, drehten sich um und riefen: "Tschüss! Schönen Tag." Die Verkäuferin winkte ihnen hinterher und verschwand wieder im Hinterzimmer.
Niall und Louis konnten es kaum noch erwarten, sich über ihre Beute herzumachen. Ein Eis nahmen sie direkt in ihre kleinen Hände, das andere steckten sie in ihre Hosentaschen. Dann gingen sie zurück in Richtung Schule, um zu den Feldern, zum Wald zu gelangen. Sie liefen den Hügel, gegenüber vom Bäcker, die Straße hinauf, wobei ihr Blick direkt auf den glasklaren Himmel fiel.
"Wenn man die Welt umdreht, fällt man direkt in den Himmel.", stellte Louis fest, das Eis halb im Mund. Niall kniff die Augen zusammen und sah ebenfalls nach oben. "Wie ein großes Meer.", meinte er. Tatsächlich sah der Himmel so aus, als könnte man sich eine dringend benötigte Abkühlung darin verschaffen.
Nachdem das entschieden war, schwiegen sie für eine Weile und sahen ihrem Eis beim Schmelzen zu. Den Rest tranken sie und warfen den Abfall in den Papierkorb auf dem Schulhof.
Die Hitze zwang sie dazu, eine Pause im Schatten des Vordachs zu machen. Auf der Bank neben dem Eingang wischten sie sich den Schweiß aus dem Gesicht und fielen über ihr zweites Eis her, welches mittlerweile nur noch aus kaltem Zuckerwasser bestand. Sie quetschten und drückten die Plastikverpackung solange, bis auch der letzte Tropfen auf ihre Zunge gefallen war. Dann nahmen sie jeder einen großen Schluck aus der Wasserflasche und machten sich wieder auf den Weg.
Die gingen über den großen, leeren Schulhof und direkt über die Wiese am alten Kindergarten, dann vorbei an den Baustellen der drei Häuser, die hier gerade gebaut wurden. Auf dem Feldweg angekommen, legten sie einen kurzen Sprint zur alten, verfallenen Bank an der Wegkreuzung, etwa fünfzig Meter voraus, hin. Niall war schneller, aber nur weil Louis die Wasserflasche in der Hand hielt. Sie setzten sich auf die Bank und atmeten erstmal durch.
"Wohin?", wollte Louis wissen, der nicht über die genauen Standortkoordinaten des angeblichen Fundortes der Dinosaurierknochen verfügte.
Niall hielt seine billige Armbanduhr gegen die Sonne, maß dann irgendeinen Abstand zwischen dem Stundenzeiger und der 12, fuchtelte mit ausgestrecktem Arm in der Luft herum und sagte schließlich: "Da lang." Er zeigte geradeaus, auf den Weg, den sie ohnehin gegangen wären.
Aber die Vorstellung mit der Uhr machte großen Eindruck auf Louis, der sich nun wie auf einer richtigen Abenteuerreise fühlte. Er war sogar so fasziniert, dass er gar nicht daran dachte, wie der geheimnisvolle Trick mit der Uhr funktionierte.
Sie stapften den unebenen Feldweg entlang und kickten kleinere und größere Steine vor sich her. Plötzlich kam Louis ein Gedanke: "Wie graben wir die Knochen eigentlich aus?" Niall sah ihn verwundert, aus großen Augen an, kratzte sich am Kopf und starrte dann auf die großen Dreckklumpen auf den umliegenden Äckern. "Mit den Händen.", antwortete er schließlich sehr selbstsicher. Das reichte Louis, um nicht an der nichtvorhandenen Vorbereitung ihres Abenteuers zu zweifeln.
An der nächsten Weggabelung bogen sie rechts ab, den Hügel hinauf und dann hinunter, bis sie zu einem Grasweg kamen, der unter einem Strommast direkt in den Wald führte.
Es ging kein Wind, die Sonne brannte unerlässlich vom Himmel und trieb sie trotz ihrer natürlichen Angst weiter. Keiner der beiden Jungen wollte zugeben, dass er Angst hatte.
Das Gras war so hoch, dass sie beim Gehen immer wieder einzelne Grashalme herausrissen und wie Speere in die Luft warfen.
Niall pfiff eine Melodie, die er seit Wochen im Kopf hatte. Louis hatte sie in der Schule schon so oft gehört, dass er gleich einsteigen konnte. Und so liefen sie pfeifend unter den tiefhängenden Ästen der Bäume in den etwas kühleren Wald hinein. Der Weg fiel mäßig steil ab und wandte sich am Hang entlang, links und rechts von Buchen, Fichten und Kiefern umgeben.
Niall hatte in Wirklichkeit keinen Plan, wohin er gehen sollte. Die Beschreibung von Stan, der die Dinosaurierknochen gefunden haben wollte, war sehr vage gewesen und hätte so vermutlich auf jedes Waldstück im Umkreis von 20 Kilometern zutreffen können. Aber er entschied, dass gerade dieses Stück nach verborgenen Abenteuern und riesigen Dinoknochen schrie.
Sie folgten dem Weg bis zu einer Stelle, an der der Wald von einer Schneise unterbrochen wurde. Sie sahen nach oben zu den hochhängenden Stromseilen, die der Grund für diese Schneise waren. Statt hoher Bäume, war der Hang von dichtem Gestrüpp und kleineren Bäumen gesäumt. Sie blieben stehen und sahen sich um. Etwas weiter vorne war ein Durchgang im Gebüsch zu sehen. "Da müssen wir rein!", rief Niall auf einmal ganz aufgeregt. Stan hatte tatsächlich so etwas in seiner Erzählung erwähnt.
Er rannte voraus und inspizierte die Stelle. Es war eine Art Wildwechsel, ein Durchgang, gerade groß genug, dass ein Junge hindurchpasste. "Ich gehe zu erst. Dann sag' ich dir bescheid, ob die Luft rein ist.", meinte Niall. "Okay.", stimmte Louis ihm zu, der sich plötzlich nach der Sicherheit des Schulhofs sehnte. Aber als Niall im Unterholz verschwand, hüpfte er schnell hinterher, um nicht alleine auf dem Waldweg zurückbleiben zu müssen.
Sie standen nun etwas tiefer als auf dem Weg. Der Wildwechsel verlief schräg zum Abhang, einige Meter unter einigen hohen Kiefern hindurch und fiel dann sehr steil ab. Von hier aus konnte man bis ins nächste Dorf auf der anderen Talseite sehen. Unten im Tal, auf der anderen Seite des Flusses, sausten einige Autos entlang.
Niall nahm einen Stein, zielte und warf ihn mit aller Kraft den Hang hinunter. "Hey, lass das!", ermahnte ihn Louis. "Was, wenn da unten jemand läuft?", meinte er unsicher. "Ich wollte nur sehen, ob ich es bis zur anderen Seite schaffe.", brachte Niall zu seiner Verteidigung hervor. "Keiner kann so weit werfen. Wo gehen wir jetzt lang?", wollte Louis wissen. "Den Hang runter. Aber pass auf, dass du nicht fällst.", antwortete Niall.
Vorsichtig ging Niall einen Schritt voraus, stemmte die Füße in die trockene Erde und suchte nach einem Weg. Einige Meter links von ihm, ein paar Meter den Hang hinunter, stand ein Baum, den er jetzt anvisierte. Die Füße schräg gestellt, ging er langsam auf diesen zu. Plötzlich gab die bröselige, trockene Erde nach und rutschte unter seinen kleinen Füßen weg, er fiel auf seinen Hintern und rutschte unkontrolliert hinunter. Zum Glück war er schon so weit gekommen, dass der Baum ihn, wenn auch etwas unsanft, aufhielt.
Louis sah erschrocken zu seinem Freund hinunter. "Alles gut?", rief er leicht panisch, als sich Niall mit lachendem Gesicht umdrehte, ihm zuwinkte und rief: "Das hat Spaß gemacht!" Louis atmete erleichtert auf. "Kannst du die Flasche fangen? Dann komme ich."
Niall stellte sich hin und streckte die Arme aus, um sie zu fangen. Doch Louis schwang jedes Mal zurück. Als die Flasche ausreichend Schwung hatte, rief er "Jetzt!", brachte sie mit aller Kraft nach vorne und ließ am höchsten Punkt los.
Die Wasserflasche schoss mit voller Wucht aus seiner Hand, schien im ersten Moment direkt auf Niall zuzufliegen, verfehlte diesen aber um gut einen Meter und landete mitten im dichten Gebüsch, wo sie mit einem lauten Knall aufschlug.
Niall drehte sich nach der Flasche um, wandte such dann zu seinem Freund hoch und lachte. "Du wirfst ja wie ein Mädchen!", verspottete Niall Louis. Louis verschränkte beleidigt seine Arme, sah ihn herausfordernd an und sagte: "Kein Mädchen wirft so weit." Niall lachte immer noch. "Dem zeige ich's.", dachte sich Louis, lief einige Schritte nach links, bis er den Baum, bei dem Niall stand, direkt unter sich hatte und setzte sich dann auf den Boden. Mit den Händen stieß er sich ab und rutschte direkt auf Niall zu. Der, immer noch in großem Gelächter, merkte gar nicht, was sein Freund vorhatte und als er ihn auf sich zukommen sah, war es schon zu spät.
Ihm wurden die Füße weggerissen und er landete seitwärts im Dreck, konnte aber im letzten Moment noch die Hände schützend vor sein Gesicht bringen. Am Boden liegend hörte er Louis' gemeine Lache, der mit den Füßen auf dem Baum gestützt dasaß und sich den Bauch hob.
Niall sprang auf und verpasste Louis einen Schlag auf die Schulter. "Au!", rief Louis so laut, dass es durch den Wald hallte. "Du Arschloch!", beschimpfte ihn Niall. "Selber!", verteidigte sich Louis. "Warum hast du das gemacht?", wollte Niall wütend wissen. "Weil du gesagt hast, dass ich ein Mädchen bin...", gab Louis beleidigt von sich. "Ich habe gesagt, du wirfst wie ein Mädchen.", erwiderte Niall. "Das ist das gleiche.", meinte Louis. "Nein, ist es nicht." "Doch." "Nein." "Doch."
So ging das eine ganze Weile, so dass sie ganz vergaßen, wo sie waren. Da ließ sie ein Geräusch im Gebüsch plötzlich aufschrecken.
"Was war das?", rief Louis mit ängstlicher Stimme und pochendem Herz, dessen Schlafen jetzt alle anderen Geräusche übertönte. Niall wurde kreidebleich und ganz still. "Ich weiß nicht.", flüsterte er.
Louis spürte, wie sich die Haare in seinen Ohren aufstellten. Sie horchten hin, dann hörten sie es wieder. Im Gebüsch raschelte es. Irgendetwas war dort.
Beide waren wie erstarrt und so gerne sie auch davongelaufen wären, so unvorstellbar war der Gedanke, sich jetzt zu bewegen. Niall hob den Zeigefinger vor seinen Mund und gab Louis zu verstehen, er solle ruhig sein. Doch der wusste sowieso nicht mehr, wie sprechen ging. Mit der anderen Hand suchte Niall den Boden um sich herum ab. Louis blaue Augen folgten seinen Fingern, die sich durch den Dreck wühlten.
Endlich hatten sie gefunden, wonach sie suchten und Niall hob einen Stein auf. Er zeigte ihn Louis, deutete auf das Gebüsch und ahmte eine werfende Bewegung nach. Louis verstand und suchte ebenfalls nach einem Stein. Er fand einen, der seine ganze, kleine Handfläche ausfüllte, zeigte ihn Niall, hob alle fünf Finger der anderen Hand in die Luft und gab seinem Freund zu verstehen, dass sie auf fünf warfen.
Das Geräusch war immer noch zu hören, irgendwas wühlte dort den Boden auf. Niall drehte sich um, nahm die rechte, zur Faust geballten Hand hoch und fing an, einen Finger nach dem anderen zu heben. Als er schließlich den kleinen Finger aufstellte, holten sie mit aller Wucht aus und schleuderten die Steine ins Gebüsch, dorthin, wo sie das Geräusch vermuteten.
Die Steine krachten durch das Geäst und übertönten für eine Sekunde das Rascheln. Dann war ein lautes, aufgeregtes Zwitschern zu hören und etwas flog unter panischem Flügelschlagen auf. Niall und Louis duckten sich reflexartig weg.
Als es wieder still war, sahen sie auf und realisierten so langsam, was eben passiert war. Immer noch voller Adrenalin fassten sie wieder Mut.
"Das war ein Vogel.", stellte Niall mit erleichtertem Staunen fest. "Ein blöder Vogel.", stimmte ihm Louis zu, dem gerade ein Stein vom Herzen fiel. Sein Herzschlag normalisierte sich langsam wieder. Auf einmal überkam beiden ein ungemeiner Stolz, da sie nicht feige gewesen waren und sich dem Monster gestellt hatten. Der Streit von vorhin war gleich vergessen und die beiden verloren sich in Selbstlob und Freundschaftsbekundungen.
Doch als ihnen die Wasserflasche wieder einfiel, da wurden sie ganz still. Immerhin lag die Flasche genau dort, wo eben das Unbekannte gelauert hatte. Insgeheim wollten sie sich aus der Sache rausstehlen, doch das Problem war, dass sie zu zweit waren. Und unter kleinen Jungs ist es ein ungeschriebenes Gesetz, niemals einem anderen Jungen gegenüber Schwäche zu zeigen.
Sie machten sich diese irrationale Vorstellung von Mut zunutze und schoben ihre Ängste beiseite.
"Ich bin doch kein Feigling.", verkündete Louis, um nicht in die Rolle des Schwächeren zu geraten und machte einen Schritt auf das Gebüsch zu. Dann blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und tat so, als würde er versuchen, die Flasche im dichten Unterholz zu erkennen.
Niall, der wusste, dass er jetzt als der Schwächere dastand, konnte die Schande nur wieder gutmachen, indem er als Erster ins Gebüsch ging. Er sah einen kleinen Durchgang, gerade groß genug für einen großen Hasen. Zielstrebig, unter Einsatz all eines Muts, ging er darauf zu und sagte heroisch zu Louis: "Ich gehe rein." Dann kniete er nieder, legte sich flach hin und kroch hinein.
Louis, der zugleich verblüfft und angepisst war, da er nicht selbst auf die Idee gekommen war, folgte ihm ohne eine Sekunde zu verschwenden. Nialls Füße vor seiner Nase kroch er ebenfalls den Durchgang entlang. Ein intensiver, erdiger Moschusduft stieg ihnen in die Nase. "Boah, stinkt das!", rief Niall seinem Freund zu.
Zum Glück kamen die beiden nicht darauf, den Geruch mit Wildschweinen in Verbindung zu bringen, sonst hätten sie sich vermutlich in die Hosen gemacht.
Nach etwa zwei Metern erreichten sie eine kahle Stelle im Gestrüpp. Niall kroch raus und half Louis, indem er an seinen Armen zog. Sie hatten einige Kratzer abbekommen, von den Dornen im Gestrüpp. Doch das störte sie nicht weiter.
Die offene Stelle war vielleicht eineinhalb Meter breit und gut einen Meter lang. Sie standen in einer Art Kuhle, in der vielleicht einige Stunden zuvor noch ein Tier gelegen hatte. Der Geruch war jetzt noch stärker als vorhin, doch da lag noch etwas anderes in der Luft. Ein Hauch von... sie konnten es gar nicht richtig zuordnen. "Riechst du das?", fragte Niall. "Ja, riecht wie Kacke.", meinte Louis. "Nein, nicht das.", erwiderte Niall. Louis schnüffelte, atmete tief ein. Da roch er es auch. Er kannte den Geruch von irgendwo. Er war sich sicher, das schon mal gerochen zu haben.
Die beiden sahen sich an und schnüffelten gemeinsam. "Ist das ein Tier?", fragte Niall, der gerade einen Schwung abbekommen hatte. Louis ordnete das Wort "Tier" in seine Gedanken ein. Es machte Sinn, der Geruch war auf irgendeine Art und Weise in Verbindung mit einem Tier in seiner Erinnerung abgespeichert. Da wurde er plötzlich blass. Niall sah ihn panisch an: "Was ist? Was ist los?" "Mein toter Hamster hat so gerochen.", gab Louis leise von sich.
Niall überlegte, was das zu bedeuten hatte. Als er die Bedeutung dahinter erfasste, wurde er schlagartig ganz ruhig. "Meinst du, da ist...", flüsterte er und schaute Louis aus großen Augen an. "Ja.", hauchte Louis. "Und was..." "Weiß nicht..."
Ein Junge kann seine Ängste mit zwei Dingen besiegen.
Erstens, indem er einen anderen Jungen beweisen muss, wie mutig er ist.
Zweitens, indem er von einer unstillbaren Neugierde gepackt wird.
Hier war es wohl eine Mischung aus beidem, die Louis dazu bewegte, die Äste der Büsche beiseite zu schieben und nach der Quelle des Geruchs zu suchen. Niall verstand und half ihm dabei. Sie schoben das Gestrüpp zur Seite, rochen, gingen zu einer anderen Stelle und wiederholten das ganze. Dabei merkten sie, dass unterhalb ihres Standortes eine zweite Kuhle war, die sogar noch größer als die erste war.
Sie krochen durch einen Durchgang, der durch den Wildwechsel entstanden war, hinunter. Der Geruch war hier viel intensiver als oben. Sie folgten ihm mit ihren feinen Nasen. Als Niall schließlich die grünen Blätter eines Busches auf die Seite schob, da packte ihn die pure Faszination.
"Da!", rief er seinem Freund zu. "Was?", rief dieser fast etwas erschrocken und drehte sich um. Niall hielt die Äste für ihn zur Seite und deutete etwas, das dort am Boden lag.
Louis konnte es nicht fassen. Adrenalin schoss in seinen Körper und ein Gefühl von Angst und überschwänglicher Anziehungskraft machte sich in ihm breit.
Was er sah, was dort lag, hatte Fell, weißes Fell mit schwarzen Punkten darin.
Ein Haufen Fell, regungslos, leblos, tot, allein, versteckt zwischen einem kleinen Baum und Sträuchern in den verottenden Blättern des letzten Jahres.
Das war es, die Quelle des Geruchs. Es war Verwesung, das Ende.
Die beiden sahen sich mit großen Augen an. Sie standen dem Tod unmittelbar gegenüber, waren ihm so nahe wie noch nie zuvor in ihren kurzen Leben.
Niall ließ die Äste los und setzte sich auf den Boden. Louis setzte sich neben ihn. "Das ist eine Katze.", sagte er mit ehrfurchtsvoller, leiser Stimme. "Das ist der Kater von Mister Miller.", bestätigte Niall Louis Gedanken, die ihm gleich eingefallen waren, als er das weiße Fell gesehen hatte.
Hier war er also die ganze Zeit gewesen und der arme Mister Miller saß daheim in seiner Küche am Fenster und wartete auf die Rückkehr des kleinen Moglis, der tot im Wald lag.
Louis und Niall spürten eine unheimliche Faszination, die das alles bei ihnen auslöste. Sie stocherten mit den Fingern in der Erde herum und schwiegen für eine Weile, um die Ruhe des toten Katers nicht zu stören.
"Was machen wir jetzt?", fragte Niall schließlich, als er sich einen Schweißtropfen aus den Augen wischte. Louis sah ihn an, irgendwie in seinen Gedanken verloren. "Wir beerdigen ihn.", antwortete er dann mit bedeutender Miene. "Du hast recht. Tote beerdigt man.", bestätigte Niall.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, begannen sie eine Grube auszuheben. Sie benutzten Steine, Stöcke und ihre Finger. Die Erde war so trocken, dass sie sie leicht beiseite schaffen konnten. Doch Mogli, das Ersatzkind von Mister Miller, war ein verwöhnter, dicker Kater gewesen. Die Grube musste wirklich groß werden. Die beiden Freunde kamen sehr ins schwitzen, aber sie wollten tief genug graben, damit kein Tier an seinen Leichnam gelangen konnte.
Nach einer gefühlten halben Stunde hatten sie eine etwa 30 cm tiefe und 50 cm breite Grube ausgehoben, die sie für groß genug für den Kater hielten.
Ihre Hände waren schmutzig und auch ihre Gesichter waren total verschmiert, da sie sich die ganze Zeit den Schweiß aus dem Gesicht gewischt hatten.
Nun saßen sie vor ihrer Grube, stolz und erschöpft.
Die wichtigste Frage war aber noch zu klären. "Wie bekommen wir Mogli in die Grube?", es war Niall, der diese unangenehme Frage stellte. Keiner von beiden wollte eine Leiche anfassen.
"Sieh dich nach einem Stück Rinde um.", befahl Louis seinem Freund. "Es muss ein großes Stück sein."
Sie machten sich sofort auf die Suche. Niall kroch sogar den ganzen Weg zurück, um unter den Kiefern nachzusehen. "Ich habe was!", rief er Louis von der anderen Seite des Gestrüpps zu. Einige Minuten später stand er mit einem Holzbrett da. "Das habe ich oben bei dem Jägerstand gefunden, an dem wir vorhin vorbei sind."
Das würde klappen, beschlossen die beiden und schlugen sich mit dem Brett eine Schneise bis zum toten Kater.
Als sie direkt vor ihm standen, wurde ihnen erst so richtig bewusst, dass er tot war.
"Er sieht aus, als würde er schlafen.", stellte Louis fest. "Ein langer Schlaf.", erwiderte Niall in hochachtungsvoller Ehrfurcht vor dem toten Mogli.
Sie legten das Brett neben den leblosen Körper und versuchten ihn mit zwei Stöcken darauf zu schieben. "Der ist ja ganz steif.", sagte Niall, etwas überrascht, wie leicht sie Mogli auf die improvisierte Bahre schieben konnten. "Totenstarre.", antwortete Louis.
Dann nahmen sie das Brett, jeder ein Ende und trugen es in respektvoller Andacht zum Grab. Vorsichtig ließen sie den starren Körper vom Brett in die Grube gleiten, so dass er die gleiche Position einnahm wie vorhin.
Der Leichnam war völlig unversehrt und zeigte keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung. Vielleicht war der alte Mogli einem uralten Instinkt gefolgt und absichtlich hierher zum Sterben gekommen. Er war seit einigen Tagen verschwunden gewesen. Schwer zu sagen, seit wann er dort gelegen hatte.
Aber die Jungs stellten sich diese Frage gar nicht, ihnen ging es vielmehr darum, den Kater angemessen zu beerdigen. Als er in der Grube lag, sahen die beiden andächtig zu ihm hinunter.
"Bei Beerdigungen wird doch immer gebetet, oder?", wollte Louis von Niall wissen. "Keine Ahnung, ich glaube schon. Kannst du beten?", meinte er unsicher und sah Louis fragend an. "Meine Mama macht das immer für mich. Kannst du?", erwiderte Louis. "Meine Mama geht manchmal mit mir in die Kirche, aber ich kann mir nie merken, was der Pfarrer sagt.", gab Niall zu. "Dann versuche ich es."
Die beiden legten die Hände zum Gebet ineinander und schlossen die Augen.
"Bitte, Herr Jesus und Gott", fing Louis an, "nehmt Mogli in den Katzenhimmel auf. Er war ein netter Kater. Wir haben ihn immer gestreichelt. Er braucht viel zu essen. Mister Miller hat ihn sehr geliebt. Bitte macht, dass Mister Miller nicht so traurig ist. Amen."
"Amen.", kam es auch von Niall.
Sie öffneten die Augen, sahen noch einmal zu Mogli hinunter und begannen dann, behutsam die Erdhaufen mit ihren Unterarmen auf seinen Körper zu schieben. Als dieser ganz mit Erde bedeckt war, sagte Niall: "Das war ein gutes Gebet." Louis nickte und schob noch mehr Erde auf die Grube, bis diese wieder ganz eben war. Dann klopften sie die Oberfläche mit den Händen fest.
"Wir brauchen noch einen Grabstein."
Sie sahen sich um, Niall zog einen flachen, etwa 10 cm breiten Stein aus dem Unterholz, zückte sein Taschenmesser und ritzte "Mogli" hinein.
Diesen pressten sie oberhalb des Grabes in die Erde und legten einige Blüten darum, die sie von den Ästen der Büsche zupften. Zum Schluss legten sie kleine Steine um das Grab herum, um es einzurahmen.
Sie standen auf und nickten sich zu. Es war ein schönes Grab, hier auf dieser kleinen Lichtung mitten im Wald, auf der tagsüber die Sonne herabschien.
Die beiden blieben noch einige Minuten wortlos über dem Grab stehen, bevor sie sich auf den Rückweg machten.
Sie krochen zurück durch den Durchgang, kletterten den Hang hinauf und spazierten den Waldweg zurück zu der Wiese, über die sie gekommen waren. Sie sagten kein Wort, trauten sich nicht einmal laut zu atmen, um die Würde des Moments nicht zu stören.
Alles um sie herum war auf einmal so lebendig.
Die Vögel in den Bäumen. Ein Schmetterling, der ihren Weg kreuzte. Der Waldboden, den Ameisen und Käfer säumten. Alles wollte leben und es fühlte sich unglaublich gut an, am Leben zu sein.
In stiller Einkunft hatten sie schon vorhin beschlossen, niemanden von diesem Erlebnis zu erzählen.
Es würde dem alten Mister Miller das Herz brechen. Solange er noch die Hoffnung hatte, dass Mogli irgendwann durch die Katzenklappe springt, hatte er einen Grund zu leben.
Jeder war für sich mit seinen Gedanken beschäftigt. Am Schulhof trennten sich ihre Wege. Niall ging geradeaus. Louis ging nach links.
"Tschüss Niall."
"Tschau Louis, bis morgen."
"Bis morgen."
Zuhause angekommen, drückte Louis mit schmutzigen Fingern auf die Klingel. Seine Mama machte ihm auf und bekam fast einen Anfall, als sie sah, wie dreckig er war.
"Wo warst du?", wollte sie wissen. "Im Wald.", antwortete er seiner Mama. "Was habt ihr gemacht?", fragte sie weiter nach. "Nichts.", gab Louis von sich. "Du gehst jetzt hinten rum in den Garten und ziehst dich bis auf die Unterhose aus. So gehst du mir nicht durchs Haus."
Louis ging am Haus vorbei, durch das Gartentor nach hinten in den Garten und setzte sich auf die Schaukel.
Was für ein merkwürdiger Tag das war.
Er begann zu schaukeln.
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