Tag 6726
Pink.
Das erste, was ich sehe, ist Pink. Pinkfarbene Bettdecke, pinkfarbenes Bettlaken, pinkfarbenes Kissen. Ich wage es kaum, meine Augen weiter zu öffnen, in Panik vor einem ganz und gar rosafarbenen Zimmer, doch der Gesang des Handys lässt mir keine Ruhe. Popsongs zum Frühstück. Wie ich es hasse.
Ich öffne die Augen und sehe die bunten Wände - nicht pink, sondern eine in Magenta, eine meeresblau, was seltsam gut zusammen passt - die Fensterfront und die Schränke an der verbliebenen Wand. Regale an der blauen Wand, Poster an der roten. Schreibtisch vor dem Fenster. Überall hängen Bilder und Postkarten, solche, die mein Gastgeber selbst gekauft oder gemacht hat, und solche, die sie von ihren Freunden bekommen hat.
Endlich lasse ich mich dazu herab, das lästige Quäken des Handyweckers abzustellen und stelle mich vor den Spiegel. Gestern war ich Tom, doch Alexandra ist mein Name für heute. Schulterlange dunkle Haare, kurvenreicher Körper, nach dem sich die Jungs sicher die Finger lecken, hübsches Gesicht.
Ich verschaffe mir Zugang zu ihren Erinnerungen und erkenne alle Gesichter auf den Fotos wieder. Freunde, Familie, kleine Schwester, großer Bruder, Mutter, Vater. Ein Mädchen, mit langen, blonden Haaren, ist auf den meisten Bildern zu sehen. Meine beste Freundin Kyra, erfahre ich. Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Ein Jahr lang haben wir nicht miteinander gesprochen, wegen irgendeinem Typen, den Kyra mir weggeschnappt hatte. Nachdem er sich, genau so, wie Alexandra es vorausgesagt hatte, als Arschloch entpuppt hatte, hatten wir uns wieder zusammengerauft und waren seitdem so dicke wie nie zuvor. „Herzallerliebst", sage ich in die Stille des Morgens hinein. Meine Stimme klingt genau so, wie ich es mir dachte. Laut und fröhlich, beinahe etwas nervig.
Ich ziehe Unterwäsche, Jeans und ein Shirt mit tiefem Ausschnitt aus dem Schrank, dusche und schminke mich bis zur Perfektion, nehme meine Tasche und meine Jacke und trete in den kühlen Frühlingsmorgen. Auf dem Weg zur Schule kaufe ich einen Kaffee und einen Muffin bei dem schäbigen Kiosk an der Ecke und eile weiter zur ersten Stunde.
Mathe war nie meine Stärke, weder in meinen vorherigen Leben, noch ist Alexandra das Rechengenie der Schule. So ist es kein Wunder, dass ich und Kyra anfangen zu tuscheln.
Ich rede gerne mit den Freunden meiner Gastgeber. Es gibt mir das Gefühl, doch noch wirklich zu existieren und nicht nur als etwas, das einmal in einem Leben auftaucht und dann wieder spurlos verschwindet. Als wäre ich mehr als nur ein körperloses Etwas.
Normalerweise plaudere ich mit ihnen über belanglose Dinge, über das Fernsehprogramm, über Bücher, über was auch immer meinen Gastgeber interessiert. Aber heute ist etwas anders. Es ist, als ob etwas fehlt. Es ist nicht offensichtlich, und wenn ich nicht ich wäre, sondern Alexandra, wäre es nicht mal aufgefallen. Da ist ein winziges Flimmern über meinen Erinnerungen, als wäre ich betrunken gewesen, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass Alexandra in den letzten Tagen viel Alkohol getrunken hat. Von Drogen ebenfalls keineSpur.
Ich erforsche das Gefühl genauer. Klar, es sind Erinnerungen, reale, richtige Erinnerungen. Ich habe meinen Abend damit verbracht, irgendeinen Unsinn im Fernsehen zu schauen. Und trotzdem liegt da dieses Flimmern über ihnen, wie bei Hitze über einer Straße.
Ich kann mich kaum konzentrieren, was Kyra sagt, so faszinierend finde ich es.
„Noras Kostüm beim Shooting war ja mal so was von hässlich", lästert sie gerade. „Und ihr zickiges Getue, ich könnte kotzen! Hoffentlich fliegt sie bald raus. Ich kann's nicht glauben, dass sie immer noch dabei ist." Erwartungsvoll sieht sie mich an.
In Gespräche einsteigen, die an mir vorbeigegangen sind, ist meine Spezialität. Nach achtzehn Jahren des täglichen Körperspringens kann man alles, um sich perfekt an eine Person anzupassen. „Oh ja, widerlich. Aber Lisa ist noch schlimmer. Wie die sich an die Juroren ranschmeißt! Ich wette, die schläft mit beiden. Und mit der Chefin auch."
Kyra lacht, etwas zu laut, und die Lehrerin ruft uns streng zur Ruhe. Ich sehe Kyra an, und wir kichern beide.
„Bin froh, dass es dir weder gut geht", zischt sie mir zu.
„Was?"
„Gestern warst du so seltsam drauf. Hast kein Wort gesagt. Und du warst auf einmal total gut in Mathe. Ich hab noch gedacht, du wirst krank oder ich muss 'nen Exorzisten rufen oder so." Sie malt ein umgedrehtes Pentagramm in ihr Heft.
„Vollkommen abwegig", murmele ich und versuche, mich daran zu erinnern. Die Erinnerungen fühlen sich fremd an. Nicht wie Alexandras. Ihre sind laut und schillernd und albern. Sie wären so pink wie ihre Bettwäsche. Toms Erinnerungen waren schwammig gelb, die Überreste einer durchfeierten Nacht zusammen mit seinem gelangweilten Wesen. Aber Alexandras Erinnerungen von gestern sind dunkel, schwarzblau und matt wie Samt. Fast falsch. Alexandra wäre der Unterschied nie aufgefallen. Es wäre nur ein schlechter Tag gewesen. Aber ich, die schon tausende Gedankenfarben gesehen hat, bemerke es sofort. Und es lässt mir keine Ruhe.
Ich versuche gar nicht erst, mitzuschreiben. Erstens habe ich keine Lust dazu, zweitens verstehe ich kein Wort und drittens geht mir das schwarzblaue Flimmern nicht mehr aus dem Kopf. Buchstäblich.
Nach der zweiten Stunde beschließe ich, dass ich Kopfschmerzen habe, und fahre wieder nach Hause. Kyra verspreche ich, mich später zu melden.
Zuhause setze ich mich an den Computer und scrolle teilnahmslos durch Alexandras Social-Media-Seiten, während ich das schwarzblaue Flimmern genauer erkunde. Melancholisch. Traurig. Nachdenklich. Ruhig wie das Meer, und dennoch mit einer Unruhe darunter, wie eindräuender Sturm. Dunkel wie der Nachthimmel. Ich versuche, herauszufinden, was das Flimmern hervorgerufen hat, auf eine fremde Anwesenheit... Ja, das muss es gewesen sein. Es gibt noch andere, hat Derek gesagt... Andere wie mich. Ich habe ihm nie geglaubt. Ich bin die Einzige, der Einzige, ich bin One. Eine. Einer. Wie man es sagen will.
Es muss jemand ihren Körper bewohnt haben. Jemand vor mir. Das Schwarzblau ist so sehr nicht Alexandra. Als hätte jemand ihr fröhliches Ich herausgerissen und ein müdes hineingesetzt. Zusammen mit dem, was Kyra mir berichtet hat, macht es fast Sinn. Jemand wie ich. Jemand, der sich nicht einmischt, statt einen Körper auszunutzen, für all das, was man erledigen muss. Diese Sorte, die als echter Mensch ein zockender Bücherfreak wäre, der kaum das Sonnenlicht sieht, dessen einzige Freunde online und in einem Bücherclub sind, bemerke ich nicht ohne Verachtung. Und offensichtlich sein ruhiges Wesen nicht aus dem Leben seiner Körper halten kann.
Ich weiß, dass ich mich darüber kaum beschweren darf. Es ist ungemein schwer, seine eigene Persönlichkeit nicht mit in den Charakter des Menschen zu bringen. Zu viele Erinnerungen habe ich an Momente, indem ich im Körper eines dürren Jungen, eines ganz und gar schwarz gekleideten Mädchens, eines Teenagers mit blauen Haaren, aufsprang und mich wehrte gegen jene, die versuchten, mich kleinzuhalten. Ich habe beleidigt, geschrien, geschlagen, gestohlen und mich gerächt, an all jenen, die meinen Gastkörpern in meiner Anwesenheit zusetzten. Ich weiß nicht, was geschah mit ihnen, nachdem ich sie verließ. Ob das Hänseln aufhörte oder ob es erst recht begann. Es kümmert mich auch nicht. Es war nur ein Tag lang eine Hülle für mich, wie etwas, das ich benutzen und danach arglos wegwerfen darf. Denn all das, was ich in einem Körper tue, wird mich persönlich niemals treffen. Kein Nachspiel. Für meinen armen Gastgeber vielleicht – aber nicht für mich.
Eigentlich habe ich zu tun, viel zu tun, wenn ich meinem Traum näherrücken will, doch das Flimmern hat mich zu sehr in seinen Bann gezogen. Ich stochere nach Namen, nach Handynummern, nach Mailadressen – und entgegen meiner Erwartungen werde ich fündig. Eine Mailadresse. Das schwarze Flimmern kennt sie, sie fühlt sich zu vertraut an, als dass sie eine fremde ist. Mit klopfendem Herzen öffne ich meinen eigenen Mail-Account, lege die Finger auf die Tastatur – und halte inne.
Was soll ich schreiben, an jemandem, der so ist wie ich? Gleich allessagen, was ich weiß? Aber was, wenn es doch ein Fehler ist, und es doch nur ein schlechter Tag für Alexandra war? Ich kann es mir kaum vorstellen. Gedankenfarben ändern sich selten von Tag zu Tag so sehr. Und gestern... Alexandra müsste sich über Nacht von einer gedankenversunkenen Träumerin zu einer lauten, fröhlichen, pinken Lebenstänzerin gewandelt haben, und das kann kaum sein. Ich verschaffe mir Zugang zu ihren Erinnerungen, und finde keinen Tag, an dem sie so still war wie gestern. Natürlich sind ein paar traurige Tage dabei, doch niemals so ruhig.
Es kann nicht anders sein. Eine fremde Seele. Eine zweite Seele wie ich.
Ich nehme meinen Mut zusammen.
Hey,
ichhabe deine Mail-Adresse bei Alexandra gefunden. Wer bist du? Dukommst mir vage bekannt vor.
O
Bevor ich es mir anders überlegen kann, drücke ich auf Senden . Schnell schalte ich den Computer aus, schlüpfe erneut in meine Jackeund verlasse das Haus. Meine Eltern werden erst später nach Hause kommen, erfahre ich, und sie sind es gewohnt, dass ich abends noch öfters bei Kyra bin. Sie werden wohl nicht nach mir suchen.
Gelangweilt streife ich durch die Straßen. Ich weiß, ich müsste etwas tun. Geld verdienen. Auf dem einen oder anderem Weg. Stehlen, von meinem Gastkörper, oder von dem, der mir gerade über den Weg läuft. Doch ich kann mich nicht einmal dazu aufraffen, dem alten Mann mit dem Rollator, der humpelnd über die Straße kriecht, das Portemonnaie aus der Hosentasche zu ziehen, obwohl es sonst so einfach wäre.
Jeden Tag in einem anderen Körper leben. Unerkannt zwischen jenen wandeln, die dich noch gestern verfolgten. All jene Geheimnisse erkunden, die sonst niemand sehen würde. Der Traum eines Verbrechers. Einfach an Geld kommen, Konten leeren, für den eigenen Profit arbeiten. Das ist es, was ich tue. Ein Mann hat mir einen Ausweg versprochen aus meinem ruhelosen, umherhuschenden Wandlerleben. Doch dafür verlangt er viel. So viel, dass nicht einer meiner Gastkörper es auf einmal aufbringen konnte. Deswegen gebe ich in Raten, in der Hoffnung, schließlich meinen Lohn zu erhalten.
Warum ich ihm, dem mysteriösen Derek, traue? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil er mich ernst nimmt. Nicht Alexandra. Nicht Tom. Nicht einen anderen Gastkörper. Nur mich. One. Er sieht mich durch Haut und Knochen und Fleisch hindurch, ob Junge oder Mädchen oder etwas dazwischen.
Schattenhaft waren die Umstände, wie das Schicksal uns zusammenbrachte.
Ich weiß kaum mehr, wie ich in die Zelle kam. Nur noch ein schnelles Aufblitzen von Fäusten im Gewitter des Stroboskops, Knöchel, die auf Kiefer krachen, Glas, das auf Haut splittert, und Blut, bläulich schimmernd im flimmernden Licht. Dann liegt der Mann vor mir, er, der mir Beleidigungen ins Gesicht spuckte. Wer weiß, ob er jemals wieder spucken kann, so zerschnitten ist sein Gesicht. Ich, zwei Köpfe kleiner als er, mit dem muskulösen Körperbau von Ben, stehe über ihm, als plötzlich die Musik versiegt und das helle Licht der Neonröhren mir in die Augen schneidet. Uniformierte Männer reißen mir die Arme auf den Rücken und zerren mich aus dem Club, die Menge formiert sich zu einer ängstlichen Gasse, während mich die Beamten abführen. Draußen heulen Sirenen. Die blauen Lichter auf den Polizeiautos sind wie ein blasses Ebenbild jener im Club. Ich spüre, wie sich mein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen verzieht, verschwommen durch Alkohol und Marihuana und anderes. Was einem seltsame Blondinen in Clubs nun einmal andrehen.
Die Polizisten stellen mir Fragen, doch ich nehme sie kaum wahr, zu sehr pulsiert das Adrenalin zusammen mit dem Rausch durch meine Adern. Schließlich, wie in Trance, nehme ich meinen Geldbeutel aus der Hosentasche und halte ihn ihnen hin. Was sollen sie mir schon antun? Ich weiß nicht, was Ben, der unbescholtene, unschuldige Ben, in seinen billigen Klamotten und der viel zu weiten Jacke tun würde, und es kümmert mich auch nicht. Eine Hülle. Billig wie sein verschwitztes Shirt. Das ist er, und mehr nicht.
Ich schlafe ein, während wir zum Revier fahren, werde ruppig geweckt, und in eine enge, muffige Zelle gesperrt. Ich lasse mich an der Wand nieder und beobachte meine neuen Kameraden. Eine dürre, stinkende Frau, die sich weinend die Beine zerkratzt. Zwei Schränke von Männern, tätowiert und mit rasierten Köpfen, die mich mit einem eindeutig hungrigen Blick streifen. Und ein letzter Mann, gekleidet in einem schwarzen Anzug, der mit gefalteten Händen auf der Liege sitzt und mit seinem Fuß auf den Boden tippt. Leise klackt das edle Leder seiner Stiefel auf dem schlammgrün gestrichenen Beton.
Es ist kühl, also ziehe ich meine Jacke enger um mich und fluche leise vor mich hin. Erschöpft und gleichzeitig hellwach schließe ich die Augen. Ich bin um neun Uhr abends losgezogen, also ist es sicher noch eine lange Stunde bis Mitternacht. Meine Eltern vor zwei Tagen hätten mich grün und blau geschlagen, dafür, dass ich mich in diesen widerwärtigen Club in diesem zweifelhaften Vorstadtviertel geschlichen habe, doch Bens Eltern werden nur sehr, sehr enttäuscht sein. Es ist fast schade, dass ich das nicht miterleben darf. Doch alleine das Hochgefühl, wie Glas und meine Knöchel auf den Kieferknochen des anderen Mannes krachten, wie der Schmerz meine Glieder hinaufschoss, und wie sein Gesichtsausdruck sich von selbstgefälliger Arroganz zu schmerzhafter Überraschung wandelte, genügt mir für diesen Abend.
Fette, kräftige Pranken packen meinen Kragen und hieven mich auf die Füße. Stinkender Atem schlägt mir ins Gesicht, und als ich die Augen aufschlage, entdecke ich Hakenkreuze am Hals des Mannes. Es ist einer der Skinheads, offensichtlich auf der Suche nach etwas Ablenkung, und einem blonden Jungen etwas Angst einjagen ist wohl eine Lösung fürseine Langeweile.
„Deine Jacke gefällt mir", grollt er die klassischen Worte eines jeden gewöhnlichen Gangsters. „Ich will sie haben."
„Frag morgen. Dann bekommst du sie vielleicht", grolle ich mürrisch zurück.
Er presst mich gegen die Wand. „Ich will sie aber jetzt sofort!", faucht er wie ein quengeliges Kind.
„Nein, mir ist kalt. Und du wärst so oder so zu fett dafür", zische ich.
Seine Faust trifft mich so fest in den Rippen, dass meine Zähne klappern. Der Schmerz ist nicht belebend wie meine Faust im Gesicht des Fremden im Club, sondern bricht über mich hinein wie eine Welle aus Dunkelheit, und ich krümme mich in seinen Händen.
„Aufhören."
Die Stimme von der Liege ist nicht laut, doch der Skinhead lässt mich sofort los. Schlaff sacke ich auf dem Boden zusammen und halte mir die Seite. Alles schmerzt, und jeder Atemzug treibt mir die Tränen in die Augen.
„Was hast du gesagt?", knurrt der Skinhead.
„Lasst ihn in Ruhe."
„Als ob du mich davon abhalten könntest."
„Ich werde es kein zweites Mal sagen", sagt der Mann mit dem Anzug warnend.
„Was willst du tun?"
„Ebenfalls zuschlagen", sagt der Mann gutgelaunt, erhebt sich von seiner Liege und schlendert auf uns zu.
Ich sehe zu ihm auf. Er ist schlank und groß, seine Haare und die struppigen Bartstoppeln in seinem Gesicht sind so schwarz wie seine Kleidung, jedoch mit grauen Sternen darin. An seinem kleinen Finger glänzt ein schwerer goldener Siegelring mit filigranen silbernen Verzierungen, an seinem Hals blitzten die Glieder einer goldenen Kette. Es ist ein Wunder, dass sie ihm den Schmuck noch nicht abgenommen haben.
Der Schrank lässt von mir ab, und mit langsamen Bewegungen bauen die Männer sich vor ihm auf. „Was willst du nun tun?", grollt der eine.
So schnell, dass ich kaum seinen Bewegungen folgen kann, schlägt der Schwarzhaarige zu. Seine Handkante trifft die Kehle des einen Mannes, und er torkelt zurück. Bevor der andere reagieren kann, zieht der Mann den Kopf des Skinheads nach unten und bricht ihm mit dem Knie die Nase. Heulend presst der Glatzkopf die Finger in sein Gesicht und wirft dem Dunkelhaarigen einen mörderischen Blick zu. Doch er macht keinerlei Anstalten, mir oder ihm zu nahe zu kommen.
Mit einem letzten warnenden Blick umkurvt der Mann seine Opfer und bleibt vor mir stehen. Ich ergreife die angebotene Hand und nicke ihm zu. „Danke", murmele ich widerwillig. Ich hasse es, wenn man mir hilft. So kurz vor Mitternacht brauche ich keine Hilfe mehr.
Er lächelt. „Gern geschehen. Mein Name ist Derek Aldray. Und du bist?"
Ben? One? „Ben."
„Wie alt bist du?", will er wissen, und misst mich mit skeptischen Blicken.
„Sechzehn", bringe ich hervor. Der Schmerz in meinen Rippen will nicht verfliegen, und im Stehen ist er noch schlimmer als im Sitzen. Schwankend lehne ich mich an die Wand und suche nach den Überresten der betäubenden Wirkung des Alkohols, aber es scheint, als habe die Faust mit meiner gelangweilten Müdigkeit auch den Nebel aus meinem Kopf geschlagen, und ich warte nur noch, dass die Uhren zwölf schlagen.
„Wie kommt es, dass du hier bist?", fragt Derek erneut.
„Wie kommt es, dass du hier bist?", fauche ich zurück.
Er lächelt schicksalsergeben. „Trunkenheit am Steuer. Nach vier Gin mit hundertachtzig durch die Stadt fahren ist wohl auch um diese Uhrzeit verboten." Dennoch klingt er weder bedauernd noch reumütig.
Ich beiße die Zähne zusammen. Mit einer offenen Antwort hätte ich nicht gerechnet. Eher mit einem Gut, ich hab verstanden, ich lass dich in Ruhe. Aber nun, offensichtlich ist Derek Aldray ausdauernder. Und kann sein Maul nicht halten.
„Warum bist du nun hier?", hakt er freundlich nach.
Wenn er eine Antwort will, kann er sie haben. „Habe jemandem mit einem Glas ins Gesicht geschlagen", grummele ich.
„Und wer holt dich hier raus?"
Ich verschränke die Arme. Er hat mich gerettet, aber das ist kein Grund, um mir, betrunken, müde und wütend, wie ich bin, auf die Nerven zu gehen! „Niemand", fauche ich, und weil ich ihn loswerden will, schiebe ich hinterher: „Denn um Mitternacht verlässt mein Geist diese Zelle, ich wache in irgendeinem anderen Körper auf, und Ben kann sehen, wo er bleibt!"
Ich habe alles erwartet, nur nicht Dereks Reaktion.
Interessiert legt er den Kopf schief. Seine Augen sind strahlend grün. „Kannst du es steuern?"
Perplex starre ich ihn an. „Nein", sage ich verwirrt.
„Du wachst jeden Tag in einem anderen Körper auf? Wirklich?" Sein Tonfall ist fasziniert und dennoch mit einem stählernen Unterton.
Ich darf ihn auf keinem Fall anlügen, bemerke ich. Er würde es wissen, bevor ich es wüsste. Zwar habe ich keine Ahnung, warum ich mir so sicher bin, doch allein dieser leichte Unterton jagt mir leise Angst ein. Sofort ärgere ich mich darüber. Nichts und niemand kann mir Angst einjagen! Ich hole Luft für eine patzige Erwiderung, doch plötzlich fällt mir etwas auf.
Er ist der erste, der es mir glaubt.
Der Erste, der mir aufs Wort glaubt, dass ich jeden Tag meinen Körper wechsle.
Vielen habe ich es erzählt, als ich klein war. Gehofft, dass mir jemand glaubt, eine Mutter, ein Lehrer, ein Psychotherapeut, eine Polizistin, irgendjemand. Doch alle lachten nur. Strichen mir durchs Haar. „Wirklich?", fragen sie. „Wer bist du heute?" Ein Spiel, das ist es für sie.
Doch für mich ist es ernst.
Und für Derek Aldray, den Fremden in der Zelle, offensichtlich auch.
Ich nicke langsam. „Ja. Ich lüge nicht."
Derek nickt beinahe anerkennend.
„Warum glaubst du mir?", frage ich, um einen aggressiven Tonfall bemüht. Doch ich höre, wie aufgeregt ich bin. „Ich bin praktisch... ein Geist, der andere befällt. Wie in diesen schlechten Horrorfilmen. Das ist so unrealistisch, wie es nur sein kann. Warum denkst du, dass ich die Wahrheit sage? Es sei denn, du verarschst mich nur. Dann würde ich dir raten, mich einfach in Ruhe zu lassen, bevor ich meine Zeit verschwende."
Derek lächelt mysteriös. „Ich glaube dir tatsächlich. Ein Geist, der seinen Körper wechselt. Es gibt seltsamere Dinge auf dieser Welt als das. Nun, Ben", er steckt die Hände in die Hosentaschen und fördert eine kleine Karte mit einer Telefonnummer zutage, „du kannst sie auswendig lernen. Und mich dann anrufen, falls du etwas brauchst."
Was sollte ich von ihm brauchen, schießt es mir durch den Kopf, doch ich sage nichts. Schweige und nehme die Karte. Ich bedanke mich nicht, sondern starre nur mit aufgepeitschten Gedanken auf das kleine Stück Papier und versuche, mir die Zahlen zu merken. Denn ich weiß, dass es wichtig sein kann.
Schließlich lehne ich mich zurück. Mitternacht ist nicht mehr weit entfernt, und Dereks Telefonnummer schwirrt durch meinen Kopf wie eine Fliege, die immer und immer wieder gegen eine Glasscheibe prallt.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, merke ich kaum, welchen Körper ich bewohne. Panisch grabe ich in meinen Gedanken nach der Nummer, und zu meiner unendlichen Erleichterung finde ich sie. Ich wähle die Nummer und warte auf seine Antwort, so wie ich es danach hunderte Male getan habe. Es dauerte lange, bis ich ihm richtig vertraute. Doch egal wie ruppig ich zu ihm war, er blieb stets ruhig. Hörte mir zu. Glaubte mir und misstraute mir jedes Wort zugleich. Nie habe ich viel über ihn erfahren, doch allein die Tatsache, dass er mir glaubte, dass Ben nicht mein wahrer Körper war, maß ich ihm hoch an.
Schließlich, an einem regnerischen Herbsttag, an dem mir mein Kopf von den Schlägen meines betrunkenen Vaters und der Stimme meiner misshandelten Mutter klingeln, verrate ich ihm, was ich erreichen möchte.
Ich will ein echtes Leben. Kein Halbleben hinter einem Körper, der nicht mir gehört, in einer Welt, die zu oberflächlich ist, um hinter die Fassade und das Aussehen eines Menschen zu blicken, sondern ein Leben in meinem eigenen Körper. Den ich gestalten kann, wie ich es möchte. Nicht nur einen Tag lang, sondern ein ganzes Leben. Ich möchte leben, lieben, reisen, die Welt sehen, doch durch meine eigenen Augen. Nicht durch die eines Fremden. Ich möchte mich nicht jeden Tag mit den Problemen und Leben anderer herumschlagen müssen.
Derek scheint skeptisch, als ich es ihm erzähle. Doch schließlich flüstert er mir sein Geheimnis zu.
Er kann mich in einem Körper festhalten. Kann das ewige Wechseln stoppen. Er behauptet es und ich glaube es ihm. So wie er mir geglaubt hat. Doch er verlangt etwas dafür, und das ist so viel Geld, wie ich es noch nie gesehen habe. Also beginne ich zu sammeln, auf legalen und den Wegen der Schatten, liefere es bei ihm ab, Stückchen für Stückchen, ein Sandkorn nach dem anderen.
Als ich Alexandras Haus wieder betrete und vor dem Schreibtisch mit dem Laptop stehe, überlege ich kurz, ob ich nach meinen Mails sehen sollte... Und gebe schließlich nach.
Keine neuen Nachrichten.
Entmutigt schalte ich den Computer wieder aus und strebe dem Bett entgegen.
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