♪ Kapitel 1 ♪
Leicht klickend rutschte die Glastür hinter ihm ins Schloss. Sie schabte über die fixierende im Boden eingelassene Metallplatte und war zu.
Beendet.
Abgeschlossen.
Dieser Teil seines Lebens, in den er so viele Hoffnungen gelegt hatte. Der Aufenthalt, der ihn hatte retten und wieder auf Kurs bringen sollen. Die Auszeit hatte ihm wieder Freude schenken sollen, sodass er bereit wäre in sein Leben zurückzukehren. Bereit seine Arbeit wieder aufzunehmen und alles, was die letzten Wochen und Monate liegengeblieben war in alter Manier abzuarbeiten.
Aber er wollte nicht. Konnte nicht.
Fast sofort, kam der altbekannte Kopfschmerz zurück.
Gale Brand war fassungslos.
Die teure Klinik, der Platz auf welchen er ewig gewartet hatte, die ganze Ruhe, die tausend Gespräche, zu denen er sich mehr geschleppt hatte.
Es hatte alles nichts gebracht.
Zugegeben. Er konnte morgens aufstehen, ohne seine Schallplatten aus dem Fenster werfen zu wollen oder den ganzen Tag auf der Couch zu verbringen zu schwach für alles weitere.
Aber gut ging es ihm noch lange nicht.
Er wollte zurück in das Gebäude. Er wollte noch mehr Beratung, mehr Erholung, mehr Verbesserung.
Das hier sollte es sein? Das dieser Zustand des Unwissens sollte die Heilung sein? Zu wissen, dass er es nicht besser wusste als alle anderen und sich einzugestehen, dass er scheitern konnte, das war keine positive Entwicklung, wenn es nach ihm ging.
Es reichte. Es reichte vorne und hinten nicht.
Sosehr er sich auch gewünscht hatte die ewig weißen Wände und zu lichtdurchfluteten Räume, die den leeren Raum, wo seine Seele sitzen sollte ausleuchteten, endlich zu verlassen. In seiner Vorstellung hatte er es nicht in diesem Zustand getan. Nach der ganzen Zeit hatte er der alte sein sollen.
Strenger Blick. Energie und Überzeugung für eine Elefantenherde.
Ein Arbeitstier. Ein Erfolgshai. Süchtig nach den immer steigenden Zahlen, besser als jedes Opium.
Nicht dieses knochige Wrack. Unsicher, was als nächstes zu tun war. Unwillig wieder in sein leeres Büro in der Penthouse-Suite zu gehen.
Ihm wurde schlecht beim Gedanken an seinen Schreibtisch, mit den Türmen an Papier, die auf ihn warteten.
Sein Anzug schlackerte an seine Beine. Er saß seit Wochen zu locker. War immer lockerer geworden. Den Ledergürtel mit der silbernen Schnalle trug er nun nicht mehr nur zur Dekoration. Immer noch passend zu den Schuhen, immer noch abrundend zum Outfit, aber ganz anders als vorher.
Er war darauf angewiesen, hasste es auf etwas angewiesen zu sein. Das bedeutete Schwäche.
Er war nicht ins Niemandsland gekommen, um es schwach wieder zu verlassen.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er hatte sich lange genug gedrückt. Er war Gale Brand, gefeiert, begehrt, hochgradig gut bezahlt.
Er würde sein Leben jetzt wieder in den Griff bekommen.
Doch Gale glaubte sich selbst nicht wirklich, obwohl er auf andere immer so überzeugend wirkte. Zumindest früher war das so gewesen.
Bevor ihm alles zu viel wurde.
Vor dieser Krankheit, die deinen Körper lahmlegte, obwohl sie deinen Geist betraf.
Burn-out.
Es war lächerlich. Er brannte noch immer, blau und heiß leckte es an den Innenseiten seines Geistes. Knisterte Kopfschmerzerregend und machte jegliche konstruktive Planung unmöglich. Er verbrannte von innen nach Außen durch den selbstgemachten Stress und Erfolgsdruck, der nie aufhörte. Nicht in der Nacht, nicht am Tag, nicht bei gutem Essen und Wein.
Dieses Feuer war weit davon entfernt ausgebrannt zu sein oder gelöscht.
Leider.
„Bewahren Sie die Ruhe, um zu ihrer Energie zurück zu finden." Etwas lächerlicheres hatte Gale noch selten gehört, doch es war geradezu der Lieblingssatz seines betreuenden Therapeuten gewesen.
Zu viel Ruhe war sein Problem. Er war so ruhig, dass es Lähmung glich. Äußerlich zumindest.
Innerlich schrie er sich täglich selbst an endlich aufzustehen. Wollen und müssen füllte jede wache Minute. Seine To-Do Listen, selbstgesetzt oder fremdbestimmt, überforderten ihn alle. Ein hilfloser Versuch zu mehr Produktivität war gewesen, sie nach Dringlichkeit zu ordnen, aber derzeit war alles dringend. Dringend mal wieder das Fitnessstudio zu besuchen, neue Sänger unter Vertrag nehmen, das Unternehmen, die Marke BRAND weiter voran zu treiben. Mit den neuen Pop-Schoßhündchen in ihren bunten Kleidern konnte er nichts anfangen, doch seine Assistenten empfahlen sie ständig.
Wo waren die Klassiker hin? Wo waren echte Charaktere und Musikinteressierte? Die Hälfte der untalentierten Poser, deren Kontaktdaten auf seinem Handy lauerten konnten nicht einmal Noten lesen, von einer klassischen Instrumenten- oder Gesangsausbildung ganz zu schweigen. Viel schlimmer noch, die letzte Gruppe hatte Telemann für einen Nachrichtendienst gehalten.
Die Kopfschmerzen wurden schlimmer.
Doch diese Gruppen an unsicheren Kindern brachten Geld und zumindest mangelnde Motivation konnte man ihnen nicht vorwerfen. Ihm hingegen.
Entnervt fischte der Anzugträger sein Döschen mit Kapseln aus der sorgsam vernähten Tasche. Sie rollten klackend darin herum. Er stand mitten im Nirgendwo, wie Google Maps verriet 35km von der nächsten Stadt entfernt und er hatte die letzten Wochen seiner Zeit verschwendet.
Großartig.
Gale war frustriert genug, sein Versprechen sich nicht mehr mit Medikamenten zu betäuben direkt an Tag eins zu brechen.
Es ekelte ihn selbst an, als er die selbstauflösende Hülle der roten Kapseln zwischen den Fingern hielt und leicht zusammendrückte. Derartiges sollte man nicht brauchen, vor allem nicht er. Nicht Gale Brand, Gründer von Brand Tones, der größten Musikagentur des Landes.
Klirrend schmiss er das Schmerzmittel zurück in seinen Behälter, den er extra verwendete um nicht die Packung in der Tasche haben zu müssen. Nicht an Tag eins, das war zu erbärmlich. So tief war er noch nicht gesunken.
Es hatte klein begonnen. Leichte Spuren von Migräne, die er zu ignorieren versuchte, weil er nicht aufhören konnte zu arbeiten. Damals noch freiwillig. Dann immer auffällige, störendere Symptome. Finger, die nicht mehr schreiben wollten, weil alles ein sinnloses Hamsterrad war, ein versteifter Nacken, der aus Schultern aus Stein saß, den kein Fitnessgerät der Welt wieder austrainieren konnte, bis er es ganz aufgab. Und ständig, ständig, dieser Kopfschmerz, der ihn wie Blitze durchzuckte.
Drei dröhnende Presslufthämmer asynchron in seinem Kopf.
Wer sollte denn da bei klarem Verstand bleiben und über Musikmanagement und Marketing nachdenken.
Die Fenster seines Lofts hatten sich nach und nach immer mehr verdunkelt, ähnlich sein Schreibtisch, bis er ihn nicht mehr verwendete und sich nur noch auf die riesige Lederimitatcouch schleppte. Die letzten Wochen vor seinem Aufenthalt nicht einmal mehr das.
Jetzt konnte er wieder aufstehen. Seine Anzüge passend zu den Socken wählen, sein Essen wieder selbst kochen und Tagespläne machen ohne nach Punkt eins wieder aufzugeben. Damit würde er jetzt arbeiten müssen.
Eins stand jedoch fest.
Keine Fertigpizza mehr.
Nicht nur, hatte der Geschmacklose Brei ohne jeglichen Einfallsreichtum nicht seinem sonst eher gehobenen Standard entsprochen, sondern bei jedem Stück, jedem Bissen hatte die Stimme seiner Personal Trainerin in seinem Kopf gehallt.
„Du bist was du isst."
Sie hatte Recht behalten. Er war zur Fertigpizza geworden, tiefgefroren, steif und wabbelig, ohne jegliche Integrität.
Gale Brand wollte keine Fertigpizza mehr sein.
Ausschließlich deshalb, verharrte er nicht weiter unschlüssig vor den geschlossenen Glastüren, welchen er bereits seit einer halben Stunde seinen Rücken präsentierte. Anstatt weiter auf die Heuballen gegenüber des schmalen Teerwegs vor ihm zu starren und anstelle von teuren Parfüms Kuhmist zu riechen, zückte er sein Handy aus der sittlichen Innentasche seiner Aufjacke.
Man konnte über ihn sagen was man wollte, aber der Anzug war für ihn einfach das praktischste Kleidungsstück und das eleganteste.
Snob.
Erinnerte er sich an seine Freunde von der Universität, was würden sie sagen, wenn sie ihn hier sehen würden. Der Kontakt war durch seinen ansteigenden Erfolg schnell abgebrochen, alle hatten unterschiedliche Wege eingeschlagen, aber er hatte am meisten erreicht. Insgeheim verfolgte er die Lebenswege, die er früher mal geteilt hatte weiterhin auf Instagram. Ohne je eine Nachricht zu schreiben, auch keine Weihnachtskarten von ihm im Anzug vor seinem Handgemachten Gastannenbaum.
Diese teuren Fotografenfotos gingen nur an seine Eltern und seine Schwester.
Selbst die bezeichnete ihn manchmal so. Er lächelte müde, vielleicht stimmte es, vielleicht war er wirklich ein Snob.
Denn ganz in seiner Rolle wusste er nicht anders aus diesem kleinen Winkel zwischen Wiesen und Wäldern an dem die Zeit stillgestanden hatte, wieder herauszukommen, als ein Taxi zu rufen.
Zumindest zum nächsten Bahnhof. Von dort aus würde er dann weiter sehen.
Seine Schwester hatte ihn in die Klinik gebracht, sich extra drei Tage frei genommen, auch wenn sie sich sonst kaum sahen. Es war keine Option, diesen Gefallen zu wiederholen. Nicht, wenn es nicht absolut unumgänglich war.
Schnell war die Nummer des, einzigen, lokalen Taxiunternehmens gefunden.
Reumütig drehte der Mann sich noch einmal um.
Vielleicht noch eine Woche verlängern, aus eigener Kasse?, bettelte eine kleine Stimme in seinem Kopf, aber eine Verlängerung war nicht eingeplant und was nicht in den Plan passte wurde nicht umgesetzt. So sehr er die immer gleichen Pastelltöne die letzten Tage auch verflucht hatte. In diesem Moment sehnte er sich ich ihre Sicherheit, ihre Einfachheit zurück. Es war wahnsinnig angenehm, wenn nichts anderes von dir erwartet wurde als das absolute Minimum. Das Minimum war viel leichter umzusetzen als das Maximum, aber das war es, was er jetzt würde geben müssen.
Vollgas.
Er tippte auf den grünen Hörer vor seinem schwarzen Hintergrund. Die Nummer des Unternehmens hatte brav auf ihn gewartet. Im Hintergrund muhte eine Kuh.
Er gehörte hier nicht hin. Kopfschüttelnd lauschte er auf das angenehm gleichmäßige Tuten der Leitung.
„Taxi Costridge, hallo."
Gale seufzte, natürlich hatte man das Unternehmen nach der Stadt benannt, in der es fuhr. Es gab schließlich nur eins. 35km hin und zurück, nur um die Grenze der Zivilisation zu überschreiten, gut, dass die BRAND Aktie noch nicht völlig abgestürzt war.
„Guten Tag. Ich bräuchte ein Taxi, zum Hauptbahnhof, von", er stockte kurz, „von vor dem Haupteingang der Stillen Quellen Gmbh."
Ein erkennendes Schnauben erklang von der anderen Leitung.
„Ah, die Nervenklinik."
Er zuckte zusammen. Gale mochte dieses Wort nicht und seine Schultern zogen sich hoch. Der Anzug verschluckte seinen Hals.
„Das wird nicht billig, nur, dass Sie es wissen."
„Das bekommen wir hin. Kommen sie einfach, bitte." Es war ihm unangenehm, wie sehr er sich zwingen musste, die Höflichkeitsregeln der Gesellschaft zu befolgen und zumindest ein „Bitte" an seinen unfreundlichen Satz anzuhängen. Der Kunde konnte fordern was er wollte und war nicht in Frage zu stellen. Dem Fahrer war das offensichtlich auch klar.
„Ich bin in einer dreiviertel Stunde da."
„Gut." Er legte auf.
Mehr als eine Minute pro Kilometer zu brauchen war er nicht gewöhnt. Es musste entsetzlich mühselig sein auf dem Land zu leben. Für seinen Teil konnte er sich keine Heimat ohne mindestens S- und U-Bahn vorstellen, für denn Fall, dass ein Verkehrsmittel überfüllt war.
Nicht, dass er sich viel außerhalb seines dreistöckigen Bürokomplexes, über welchem seine Wohnung lag, bewegen musste. Nicht, dass er keinen privaten Fahrer für offizielle Anlässe hatte, aber es war immer gut einen Plan C und D zu haben.
Für alle Fälle.
Obwohl, er in der U-Bahn, wäre vermutlich schon ein eher ungewöhnlicher Anblick. Zusätzlich würden ihn tausend Menschen mit mehr Träumen als Talent direkt ansprechen und nicht durch seine Mitarbeiter gefiltert werden.
Besser er blieb bei der teureren Alternative.
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