~ Nur eine Chance ~
„Komm schon du schaffst das, das wird super." Aufgeregt hüpfte Livia neben mir auf und ab.
Woher ich das wusste?
Ihre Stimme drang abwechselnd aus verschiedenen Entfernungen an mein Ohr.
Und ihre Schuhe quietschten und knirschten auf dem Teerbelagt des Schulhoffs unter uns. Aber diese neuen Chuck-Tailors waren doch so schick, da war es doch egal ob sie quietschten, das bekam doch keiner mit, wenn jeder damit beschäftigt war sie zu bewundern.
Eine Logik, die mir nie einleuchten würde.
Aber Livia war fantastisch und liebenswert und das wiederrum war sehr einleuchtend.
Der Wind stricht mir über den Kopf, was sich immer noch bizarr anfühlte. Das wurde auch nicht gerade vom Gefühl der Mütze verbessert, die ich heute gegen die Kühle aufgesetzt hatte.
Eine kratzige Wärme, aber besser als nichts definitiv. In der letzten Woche hatte ich mich noch nicht an die Abwesenheit von gedämpfter Wärme auf meiner Kopfhaut gewöhnt, das kommt sicher noch. Abgesehen davon war mein neuer Haarschnitt eine meiner Glanzideen gewesen
Ich war nach wie vor sehr stolz darauf.
Da wir gerade über den geteerten Pausenhof vom Alt- in den Neubau wechselten, stellte Livia ihr hüpfen ein, um ein paar Schülern auszuweichen.
Ich musste das nicht. Mir sprangen alle sowieso aus dem Weg, sobald sie meinen Blindenstock sahen. Mein, leider nützliches, Form gewordenes Stigmata, das geführt von meiner Hand brav vor mir her rollte und mir verriet, dass die Bahn frei war.
Bahn frei, hier komme ich, naja so oder so ähnlich.
Vor uns lag der, wenn Livia nicht log und das tat sie mir gegenüber nie, noch immer glänzende Eingang der neuen Rowling Fachoberschule.
Eine Literatenschule in der benachbarten Großstadt, für die ich sogar den fürchterlichen Schienenersatzverkehr der Straßenbahn in Kauf nahm.
Wahlfächer wie „Kreatives Schreiben" und „Journalismus" waren ein bisschen hilfloses herumgeirre und tägliches Unwissen, wo ich diesmal umsteigen musste, eindeutig wert. Zum Glück sahen meine Eltern das auch so und hatten mich vor einem Jahr von der Thomson wechseln lassen als Livi so viel gutes von ihrer neuen Schule berichtete.
Gerade marschierte ich also mit meiner besten Freundin über den Schulhof meiner Traumschule.
Mitten hinein in meinen Albtraum.
Veränderung.
Ich mochte Veränderung nicht, hielt mich lieber an Altbekanntes, das war einschätzbar und immer gleich. Neues musste ich erst kennenlernen, lernen wie es sich verhielt, anfülle, wie ich es einzuordnen hatte und wie ich damit umging. Sehr viel Aufwand, den ich freiwillig nur ungern betrieb, eher vermied, wenn ich ehrlich war.
Das hier ist es aber wert, du willst dahin, sonst würdest du es nicht tun, redete ich innerlich auf mich selbst ein.
Denn ich war auf dem Weg zur High-Society der Schule, quasi zum Club der VIPs.
Oder aber zu einer Gruppe Schreibernerds, die den Mund sehr voll nahmen und zu denen ich nichts desto trotz gerne gehören wolle, wie man's eben nahm.
Mitherausgeber einer Schülerzeitung an einer renommierten neuen Literatenschule sein, was das zusätzlich für die Uni heißen konnte war mir durchaus klar. Es war eigentlich ein absoluter Glücksfall, dass sie tatsächlich nochmal Leute suchten, die Plätze waren immer sehr fest und langfristig vergeben. Wer einen Platz bei der „OldSchool" hatte gab ihn in der Regel nicht mehr her.
Wer einen Platz dort hatte wollte ihn in der Regel auch wirklich unbedingt haben, sonst bewarb man sich nicht, denn man hatte nur eine Chance.
Die Gründungsmitglieder waren der Meinung einen guten Schreibstil direkt zu erkennen und in so kurzer Zeit, wie der Oberstufe auch keine große Änderungsmöglichkeit zu sehen, um aus einem mittelmäßigen einen guten Schreibstil zu machen.
Meiner Meinung nach war das völlig überzogen, aber die Schülerzeitung war tatsächlich recht hochwertig und hatte bereits einige Preise gewonnen, somit schien das Konzept aufzugehen.
Nur einmal in seiner gesamten Schullaufbahn durfte man sich bewerben und dieser Tag würde für mich heute sein.
Ich hatte schon immer geschrieben, ich liebte es. Manchmal war ich der Meinung in meinem Schreiben besser mit der Welt kommunizieren zu können als es mir verbal möglich war.
Das war wahrscheinlich sogar wahr. Ich war kein Mensch für Smalltalk und somit in den meisten Fällen nicht mal für „Talk". Die wenigsten Menschen führten Gespräche, die mir tatsächlich würdig genug erschienen um überhaupt geführt zu werden.
„Danke Liv. Meine Nerven spielen langsam echt ein bisschen verrückt. Kannst du mich nochmal darin briefen was wir über diesen Benjamin wissen, der mich interviewen wird?"
Sie hatte mir bereits alles erzählt was ihre Klatsch-und-Tratsch-Recherche ergeben hatte, direkt nachdem wir die Nachricht meines Vorstellungsgespräches erhalten hatten.
Ja, man hatte meine eingereichten Texte und mein Bewerbungsschreiben tatsächlich für gut genug empfunden, um mich analog kennenzulernen, lasst die Sektkorken knallen. Ehrlich, im Grunde konnte ich mir darauf wirklich schon etwas einbilden. Von den diesjährigen Bewerbern waren, soweit ich wusste, nur fünf zu einem Gespräch eingeladen wurden.
Es hatten sich 128 Leute beworben, die Zahlen wurden auf der Internetseite der OldSchool veröffentlicht, zur medialen Transparenz, die sie, wie es immer betont wurde, GROßSCHRIEBEN.
Fünf von 128, das waren fast alle Schüler meines Jahrgangs und des Vorgängerjahrgangs und ich hatte einen Platz für die zweite Runde erhalten, obwohl ich nur eine Wahrscheinlichkeit von 3,91% hatte.
Es war also klar, dass sowohl Livi als auch ich gerade durchdrehten.
Dennoch seufzte meine Frohnatur an bester Freundin nur, pustete kurz Luft aus, wie sie mir auf mein Nachfragen hin einmal erklärt hatte gegen ihre vorderen Haarsträhnen und fing von Neuem an.
„Subjekt Benjamin Zerlicovic. Stellvertretender Leiter der „OldSchool". 18 Jahre alt. Im Abschlussjahrgang", ratterte sie erneut hinunter.
„Vergiss nicht, dass er bereits mit 14 den Costridge-Open gewonnen hat." Was ich persönlich durchaus beeindruckend fand, auch wenn es eine kleine Stadt und somit ein kleiner Preis war.
Der Costridge-Open war als Open-Mike-Night gestaltet und fand einmal alle zwei Jahre statt. Jeder der an diesem Abend in der Gegend war, innerhalb der viertstündigen Veranstaltung die Bühne betrat und einen ca. fünf-minütigen Text vortrug konnte teilnehmen, was eine beachtliche Teilnehmerschafft ermöglichte. Der Gewinner wurde daraufhin anhand eines Publikums- und eines Jury-Votings bestimmt und erhielt eine Veröffentlichung seines Textes in der Lokalpresse.
Es war der größte Preis, den es hier in der Gegend gab und Benjamin war der jüngste Gewinner aller Zeiten. Gerüchte kursierten, er habe seinen Text just an diesem Abend geschrieben und spontan teilgenommen, was seinen Sieg nur noch beeindruckender machte.
„Jaja, fancy fancy, offener Schreiberling Wettstreit, wir knieen alle vor ihm nieder.
Ich habe es dir schon tausendmal gesagt und ich werde es wieder tun. Du könntest diesen Preis genauso gewinnen, wenn du dich mal bewerben würdest." Livia tat das Ganze von jeher ab, was aber damit zusammenhing, dass sie nicht nur meine beste Freundin war, sondern auch mein selbsterklärter größter Fan.
Was nicht schwer war, da sie die Einzige war der ich meine Texte zu lesen gab, naja sie und jetzt vermutlich ungefähr das gesamte Team der OldSchool.
Unverständlich grummelte ich vor mich hin, während sich mein Mundwinkel nach oben zog.
„Also weiter im Text. Besagtem Schreiberling namens Benjamin wird nachgesagt kritisch zu sein, aber direkt. Ergo genau dein Geschmack."
Ich schnaubte.
„Außerdem ist er groß, mit roten Haaren und wahnsinnig dunkelgrünen Augen, leicht muskulös, ein absoluter Augenschmaus...", ich warf Livia meine Version eines „Seitenblicks" zu.
Lachen perlte von ihren Lippen.
WUSCH, beim Klang von Livias Stimme breitete sich dieses Gefühl in mir aus. Schönheit. Livia war der schönste Mensch, den ich kannte.
Seit sie mir im Kindergarten mit Filzstiften die Haare gefärbt hatte, weil es mir völlig egal gewesen war, hatte sich zwischen uns eine platonische Liebe gebildet, die ich in diesem Ausmaß sonst nur für meine Familie empfand.
Meine Eltern hatten das ganze natürlich damals weniger witzig gefunden, aber mit der Zeit hatten auch sie sich an Livias unbeschwerte Art gewöhnt.
Livia war genauso geradeheraus und bedenkenlos im Umgang wie ich mir das wünschte.
Sie hatte mir damals sogar erklärt, warum sie mir die Haare gefärbt hatte.
Die hatte dafür einfach nur meine Hand genommen.
Ganz selbstverständlich hatte sie einen Bogen damit gefahren und gesagt: „das ist ein Bogen. Und jetzt gibt es einen Bogen, in dem sich das Licht bricht und der ist bunt, in allen Farben die es gibt. Das ist total schön. So habe ich deine Haare jetzt angemalt. So wie diesen Bogen, den man Regenbogen nennt, weil er nur dann zusehen ist."
Ein Bogen, der wie ich heute wusste nur entstand, wenn bei Regen die Sonne schien. Ein widersprüchliches fast schon ein Oximoron an Ereignis.
Ziemlich passend ehrlich gesagt.
Bis heute verstand ich nicht warum meine Eltern etwas dagegen gehabt haben konnten, denn ich fühlte mich genau so, wie etwas, dass nicht ganz das eine und nicht ganz das andere war und noch dazu ein bisschen unmöglich.
Die fünf-jährige Livia war ganz eindeutig ein Genie gewesen, mich derartig zu erkennen.
Seit meinen Regenbogenhaaren, die wir als Insider-Witz liebevoll „das Regenbogen-Massaker" getauft hatten wich sie nicht mehr von meiner Seite, es sei denn ich wollte es.
Außerdem erklärte Livia mir die Welt, wann immer es nötig war.
Livia war die Augen und ich war die Ohren. Zusammen waren wir ein perfekter Agent und tatsächlich funktionierten wir nach all den Jahren, wie ein perfekt geöltes Uhrwerk.
„Niemand da, wir können rein."
Mithilfe meiner Schulter öffnete ich die gläserne Tür ins Gebäude. Sie war schwerfälliger als die kleineren Türen drinnen. Auch der Griff verlief anders, nicht parallel zum Boden, wie die kleineren der Innentüren, sondern als dickere kalte Stange senkrecht nach oben.
Mein Lieblingspollover scheuerte leicht quietschend am Glas entlang, als ich Druck aufbaute und anschließend hindurch trat.
Wir wandten uns nach links und unsere Schritte hallten auf dem Flur. Um uns herum herrschte reges Getümmel und mehr als einmal stießen wir mit, den Klassenraum wechselnden, Schülern zusammen. Auch Livi müsste eigentlich gerade mit ihnen hetzen, dennoch begleitete sie mich auf dem längsten Weg meiner Woche.
Die Meter schienen sich zu endlos in die Länge zu ziehen.
Bis sie es schlichtweg nicht mehr taten.
Wir waren angekommen, blieben stehen und ich befühlte, nur um sicherzugehen die Brailleschrift auf dem Türschild. Das war im Grunde nicht nötig, denn ich wusste ganz genau, wo wir waren.
Hätte den Weg im Schlaf gefunden, so oft war ich ihn schon gehuscht, nur um immer wieder am Raum vorbeizugehen, jedes Mal mit einer leichten Gänsehaut auf den Armen.
Wir standen vor der richtigen Tür. Zimmer E.06.
Eine entscheidende Tür, wenn ich dort hindurchtrat, gab es kein Zurück mehr.
Mein erster und einziger Versuch würde anbrechen.
„Mhmm, lass uns umkehren Livi, ich hab meine Unterlagen vergessen." Das war glatt gelogen, ein schlechter Versuch der Flucht.
„Hast du nicht, eine Ecke schaut noch aus dem Rucksack, weil du ihn vorhin nicht ganz zu gemacht hast."
Mist.
„Außerdem stand ich daneben als du sie eingesteckt hast."
Obermist, das hätte ich noch wissen müssen.
Defacto, war mein Kopf jedoch gerade absolut leergefegt und glich einer Steppenlandschaft, über die der Obligatorische Steppenläufer gepustet wurde und dieser Steppenläufer war ich.
„Ich glaube das war wirklich keine gute Idee, ich hätte mich mehr vorbereiten sollen. Wir hätten mehr über diesen Benjamin recherchieren sollen. Ich weiß nämlich immer noch nicht, wie ich mich ihm gegenüber jetzt genau verhalten soll. Mache ich ihm ein Kompliment auf seine Auszeichnung, sage ich ihm, wie toll ich seine Texte finde? Findet er das seltsam?" Ich verlor mich halb in Ausschweifungen, wie ich es nur tat, wenn mir die Dinge wirklich deutlich zu viel wurden. Sonst war ich eher der klar-auf-den-Punkt-Typ und Livia mein sich verzettelndes Gegenteil.
Doch wenn es nötig wurde tauschte Livia auch die Rollen.
„Na los Champion rein da. Sei einfach du selbst", langsam aber sicher akzeptierte sie mein Drückebergertum nicht mehr.
„Willst du mir nicht lieber raten mein liebenswürdigeres und netteres Selbst zu sein?", sarkastisch zog ich meine Augenbraue hoch. Ich mochte das Gefühl, wie sich meine Stirn dabei anspannte.
Ein bisschen Zeit schinden konnte ich noch.
„Nein, das funktioniert doch eh nie und außerdem bist du fantastisch und jetzt geh da rein und tritt ihm in den Hintern, also verbal", ich schmunzelte, wohlwissend, dass Livia bewusst war, dass ich die Dinge auch gerne mal wörtlich nahm, „Du weißt, wie ich das meine.
Die von der Schülerzeitung werden dich lieben, sie müssen einfach."
Ob sie mussten, da war ich mir nicht so sicher. Derzeit bestand jedoch noch eine 50:50 Chance, dass sie es tun würden. 50:50 erschien mir ausreichend viel.
2:100, die Chance, die meine Augen gehabt hatten als man nach meiner Geburt von ihrem Krebsbefall erfuhr, das waren schlechte Chancen. 50:50 war im Vergleich schon fast gewonnen.
Bedachte man die anderen Bewerber war es eine Chance von 20% für mich, bereits weniger aber immer noch groß. Ich ignorierte den Fakt dieser geschmälerten Chance jedoch und betrachte Meine Chancen lieber individuell, mit mir als Gesamtwert.
Amüsiert salutierte ich Livia zackig, meine Fingerspitzen touchierten die Seite meiner kalten Stirn nur kurz, dann legte ich meine Hand auf die Klinke. Einmal noch tief durchatmen. Ich konnte das und ich wollte das.
Ein letztes Mal drehte ich mich Beistand suchend zu Livia um und hielt ihr meine Faust hin. Sie tippte, ohne zu zögern mit ihren drei mittleren Fingern darauf und legte dann ihre Knöchel an meine. Ich tat es ihr gleich.
Unser Handschlag seit Kindertagen. Ein letzter Mutmacher.
Wird schon schiefgehen.
Mit diesem Gedanken drückte ich das kalte Metall hinunter und zog die Tür auf.
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