1| Ural M72
Meine Zuversicht erhält drei Tage nach der Meldung über das Erreichen unseres Sponsorenzieles jedoch einen kleinen Knick. Nichts hat im Russisch-Unterricht darauf hingedeutet, dass ich jetzt, wenige Stunden später, wie ein begossener Pudel vor einem Haufen Schrott stehen würde.
Nachdem Harry sichergestellt hat, dass auch wirklich alles auf unserem Konto ist, was wir brauchen, haben er und ich uns gestern dazu bereit erklärt, die Motorräder, die der Lockenkopf im Internet gefunden hat, heute zu besichtigen. Als wir jedoch nach einem zwanzig-minütigen Lauf im strömenden Regen halb durchnässt bei dem Händler ankommen, den sich mein Uni-Kollege herausgeschrieben hat, möchte ich schon beinahe fragen, ob er sicher sei, dass er nicht die Adresse des Schrottplatzes erwischt hätte. Der Vorplatz ist übersäht mit Müll. Zwei Meter links von mir türmen sich zerbrochene Frontlichter von verschiedenen Motorrädern und über den gesamten Platz sind Reifen und verschiedene Metallteile verteilt.
Wäre ich nicht absolut vor den Kopf gestoßen und ratlos, würde mir wohl auch die Melodie, die die Regentropfen auf den verschiedenen Metallteilen spielen, gefallen. Der Takt meines rasenden Herzens passt jedoch so gar nicht zum Rhythmus des kalten Nass vom Himmel. Mit kalten und zitternden Händen ziehe ich mir die Kapuze noch weiter ins Gesicht und kneife die Augen zusammen, um durch die ungemütlich nassen Fäden etwas auszumachen, das mir entweder zeigt, dass es sich hierbei um einen schlechten Scherz handelt, oder vielleicht doch irgendwo noch fahrbare Fortbewegungsmittel herumstehen. Aber neben den Türmen aus Altmetall und anderen Teilen sehe ich nur die graue Wand eines kleinen Hauses, das in der Mitte dieses Platzes steht.
Mein Schulkollege klatscht in die Hände und ich bereite mich darauf vor, dass er seinen Fehler bemerkt und wir umdrehen, um uns in einem Café erneut auf die Suche nach Motorrädern zu machen. Als ich jedoch seinen amüsierten Blick sehe und sein ganz und gar nicht enttäuschtes "Ha!" vernehme, verlässt mich jegliche Hoffnung.
Harry stapft einige Schritte durch den Matsch und bleibt neben einem moosgrünen Fahrrad mit Seitenwagen stehen. Nach mehr sieht es nämlich tatsächlich nicht aus.
Mit einem meiner Meinung nach vollkommen deplatziertem Grinsen auf seinem Gesicht winkt er mich zu sich und streckt die Arme nach dem Vehikel aus, als würde er mir das Neuste und Beste der Weltgeschichte präsentieren.
„Du veräppelst mich doch", rufe ich ihm über den zunehmend starken Regen zu.
Meine neuen, roten Stoffschuhe kann ich nach diesem Ausflug dann wohl auch wegwerfen. Blöder, unzuverlässiger Wetterbericht.
„Ganz sicher nicht. Günther hat mir einen unschlagbaren Preis gemacht. Dieses Baby ist eins von vier Original Ural M72 aus dem zweiten Weltkrieg", erklärt er mir mit leuchtenden Augen.
Ungläubig sehe ich von Harry zur mehr als desolaten Maschine und dann wieder zu ihm zurück.
„Hier fehlt bloß die Außenverkleidung, dann sieht der bereits wieder aus wie neu, glaub mir."
Ich sehe, wie er mich mit seinem Blick von dem Gefährt überzeugen möchte, aber alles was mir durch den Kopf geht, sind Bilder von mir mitten in der Pampa mit einem defekten Motor oder einem kaputten Keilriemen oder zahlreichen anderen Dingen, die schiefgehen.
Ich suche nach den richtigen Worten, um Harry begreiflich zu machen, dass wir ganz sicher nicht mit solchen Motorrädern eine Weltreise machen werden, da lenkt mich eine Bewegung zu meiner Linken ab.
„Du bist mir vielleicht ein Gentleman. Jagst der jungen Dame einen Schrecken ein und lässt sie im Regen stehen. Sie sieht aus, als würde sie nächstens umkippen. Kommt rein, kommt rein. Hier drin ist es warm und gemütlich", winkt uns der glatzköpfige Herr, der aus der Tür des Häuschens getreten ist, zu sich.
Er spricht schnelles und undeutliches Deutsch, was es mir etwas schwieriger macht, ihn zu verstehen, aber dank seiner Körpersprache ist klar, was er von uns will.
Dankbar über den Unterschlupf, der zu meiner Überraschung auch wirklich warm ist, streife ich mir die Kapuze vom Kopf und streiche mir die nassen Locken aus dem Gesicht.
Während ich mich umsehe, entdecke ich einen kleinen Ofen an der gegenüberliegenden Wand, und anhand der verschiedenen Werkzeuge und Maschinen erkenne ich, dass es sich hierbei wohl um eine Werkstatt handelt.
Der Mann begrüßt den Lockenkopf neben mir mit einem kräftigen Händedruck und sicheren Worten: „Hallo Harry, ich bin froh, dass ihr es durch den Regen geschafft habt. Der hat mich echt überrascht, aber ich hab's geschafft, die Maschinen unters Dach zu bugsieren."
Mit leicht englischem Akzent erwidert Harry: „Hey Günther, das freut mich. Wir wollen ja nicht, dass die Motorräder beginnen zu rosten, ehe wir mit ihnen um die halbe Welt gefahren sind."
Er zwinkert mir zu und dann fällt der Groschen. Beim Klappergestell vor der Werkstatt handelt es sich nicht um eines der zu besichtigenden Stücke. Mein Schulkollege hat mich tatsächlich verarscht. Na warte, wenn ich den in die Finger kriege.
Günthers herzhaftes Lachen reißt mich aus meinen rachesüchtigen Gedanken und der augenscheinliche Werkstattchef gibt nun auch mir die Hand.
„Günther, mein Name. Ich fürchte, bei deinem Freund hier ist noch einiges an Arbeit nötig. Ganz anders sieht es aber bei den Motorrädern aus; die sind bald fertig. Kommt mit, ich zeige sie euch."
Ohne den lauten Regen verstehe ich ihn schon viel besser. Deutsch ist keine einfache Sprache und ich habe mich lange ab mir selber genervt, dass es so lange gedauert hat, bis ich nur die wichtigsten Sätze einigermaßen rausbrachte. Schließlich fließt deutsches Blut durch meine Adern. Das alleine sollte mir doch dabei helfen, diese schöne Sprache schneller zu lernen.
Leider hatte es mein Vater etwas verpasst mit meinen Geschwistern und mir Deutsch zu sprechen und so sind wir nur mit dem Wissen um die einfachsten Worte aufgewachsen.
Als ich mich dann dazu entschieden habe, in Deutschland zu studieren hat er noch versucht, mein Vokabular wenigstens ein bisschen zu erweitern, aber das war nur mit bedingtem Erfolg gekrönt.
Die vergangenen fünf Jahre, in denen ich sozusagen nur Deutsch gesprochen habe – abgesehen von den Zeiten, in denen ich mich mit Harry, Marina oder Liam unterhielt und einen Punkt unbedingt richtig rüberbringen wollte –, haben mein Vokabular jedoch um ein Vielfaches vergrößert. Und so kann ich mich also auch mehr oder weniger problemlos mit den Einheimischen unterhalten. Dass diese dann auch immer meinen Akzent positiv kommentieren, macht es natürlich auch einfacher, selbstbewusster aufzutreten.
Somit ist es mir auch gar nicht unangenehm mich auf Deutsch bei Günther zu bedanken und ihm hinterherzugehen.
Mit großen Schritten geht er mir voran und mit Harry im Schlepptau wechseln wir von der Werkstatt in den Lagerraum dahinter. Überfordert mit dem Anblick der vielen Mofas und Motorrädern bleibe ich kurz stehen, ehe ich mich durch sie hindurchschlängle. Ein schmaler Gang führt durch den Raum, der Rest ist zugestellt – wie mein Kinderzimmer früher.
„Ta-da! Na, was sagt ihr?", möchte Günther von uns mit weiterhin zu den Motorrädern ausgestreckten Armen wissen.
Da stehen zwei moosgrüne Motorräder, sowie ein dunkelbraunes und ein schwarzes, allesamt mit Seitenwagen, deren Zustand mich ein klein bisschen beruhigt. Es sind alle Teile dran – soweit ich das beurteilen kann – und ich sehe kein bisschen abgeblätterte Farbe oder gar Rost.
„Für den Preis, den ihr bezahlen könnt, werdet ihr nirgends so gute motorisierte Kumpanen finden", hängt er noch an.
Noch nicht zu 100 Prozent überzeugt – auch wegen dem kleinen Scherz, den Harry sich erlaubt hat – sehe ich sie mir etwas näher an.
Hier und da ist der Lack nicht mehr ganz so glänzend und ich erkenne nun doch ein paar Stellen, die diese typische rot-braune Farbe zur Schau tragen und so spreche ich die Frage aus, die mir zuvorderst ist: „Und diese Dinger bringen uns bis nach New York?"
Der skeptische Unterton in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen, aber ich muss wissen, womit wir es hier zu tun haben, damit ich alles Nötige planen und organisieren kann.
„Nun, das hängt von einigen Sachen ab. Als erstes kommt es auf die Straßenverhältnisse an, dann spielt auch euer Fahrstil eine Rolle, und zu guter Letzt darf man natürlich das Wetter nicht vergessen. Mit den 2'500 Euro, die ihr mir geben könnt, ist das aber auf jeden Fall ein guter Deal. Außerdem seid ihr ja einen Großteil der Reise in Russland unterwegs. Die Maschinen kommen von dort, da werdet ihr also ganz bestimmt alles Nötige an Ersatzteilen und so weiter günstig bekommen."
Seine Antwort ist nicht wirklich ermutigend und ich blicke noch immer unsicher zu meinem Schulkollegen. Er sieht sich die Motorräder ebenfalls konzentriert an, aber ich sehe seine Augen spitzbübisch aufblitzen.
„Ich denke, ein bisschen Spaß dürfen wir uns noch lassen. Das Unbekannte ist doch genau das, was diese Reise so reizvoll macht. Wir nehmen das, was auf uns zukommt einfach an und kümmern uns dann darum, wenn es soweit ist. Das wird toll!"
Was Harry gerade beschrieben hat, hört sich für mich alles andere als toll und spaßig an und ich merke, wie meine Handflächen feucht werden – und das liegt nicht daran, dass ich unter meiner Regenjacke in diesem kleinen vollgestellten Raum langsam echt warm bekomme. Planlos und ohne Sicherheit was die Motorräder angeht, loszufahren, löst in meinem Magen ein unangenehmes Ziehen aus und ich schaue mit großen Augen vom Lockenkopf zu der schwarzen Maschine und wieder zurück.
„Atmen nicht vergessen, Shay", neckt er mich mit einer Hand auf meiner Schulter. „Wir werden natürlich bereits Ersatzteile mitnehmen und Liam ist echt gut, wenn es um solche handwerklichen Sachen geht. Wir haben das im Griff. Glaub mir."
Mein Herzschlag verlangsamt sich minim und ich befehle mir selber, mich zusammenzureißen. Harry scheint sich bereits viele Gedanken gemacht zu haben, Liam ist scheinbar handwerklich begabt und ich werde nicht umsonst 'Planungskönigin' genannt: Auch eventuelle Defekte können organisiert werden. Ich weiß auf jeden Fall, was ich die verbleibenden Monate bis zum Aufbruch noch zu tun habe.
„Was haben die Farben für eine Bedeutung?", fragt der Grünäugige neugierig.
Ich bin gerade dabei, mein Journal mit den zusätzlichen Aufgaben zu füllen, während wir uns in einem Café in der Nähe des Bahnhofs aufwärmen, als mir Harry's Interesse an meinen Stiften und Notizbüchern auffällt.
„Jede Farbe steht für einen Bereich in meinem Leben. Gelb ist für die Familie, dunkelgrün für die Uni, blau für die Arbeit und so weiter."
„Aha", meint er und zieht das Journal über den kleinen runden Tisch zu sich.
„Hey!", beschwere ich mich lasse ihm aber ein paar Minuten, um die eine Seite zu studieren.
Nach ein paar Sekunden stößt er geräuschvoll die Luft aus und blättert ungläubig einige Seiten vor und zurück.
„Du hast jede Stunde, nein, jede Minute eines jeden Tages geplant. Hast du denn nie Freizeit?"
„Doch natürlich. Siehst du, morgen um fünf Uhr, da habe ich eine halbe Stunde Gitarrespielen drin", antworte ich und deute auf die hellgrüne Linie, die sich von 17 bis 17:30 zieht.
„Aber da machst du ja auch wieder etwas und musst dich dazu aufraffen. Wo sind deine 'Down-Zeiten'?"
„Nun, das sind die violetten Striche", entgegne ich etwas peinlich berührt und der Lockenkopf sieht mit krausgezogener Stirn von mir zum Notizbuch und blättert fünfmal um. „Zugegeben, davon gibt es in letzter Zeit nicht so viele."
„Und die sind auch alle eingeplant. Shay, machst du denn nie etwas Spontanes? Ich meine, ich weiß ja, dass man dir mindestens eine Woche im Voraus sagen muss, wenn man dich zu etwas einladen will, und deine Organisation ist einsame Spitze, wenn ich mal wieder meine Arbeiten durcheinanderbringe; aber, dass du sogar deine freien Zeiten planst ..."
Harry's Augen verraten mir, dass er ernsthaft an meiner geistigen Verfassung zweifelt, und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ein geplantes Leben ist einfach. Strukturiert und organisiert. Da gibt es keinen Platz für böse Überraschungen und man ist auf alles vorbereitet. Dennoch weiß ich genau, wie verklemmt das in den Ohren Anderer klingt. Ich bin überall dabei, solange ich es geplant habe, aber wenn es um Spontanität geht, dann weiß ich selber, dass ich die Spaßbremse bin.
„Shay, du hast sogar ..."
„Harry, nimm's mir nicht übel, aber können wir das Thema wechseln?"
Heute bin ich absolut gar nicht in der Stimmung über mein exzessives Halten und Verwalten meiner Termine zu diskutieren.
Einen kurzen Augenblick fürchte ich, dass er mich nicht vom Haken lässt, aber dann schließt er das Journal und schiebt es mir wieder zu, sodass ich die letzte Aufgabe noch nachtragen kann und es dann mit den Stiften zusammen in meiner Umhängetasche verschwinden lasse.
„Dann lass uns gehen. Wir wollen ja nicht, dass du zu spät zum Training kommst", meint er, während er das Geld für unser beider Kaffees auf den Tisch legt.
Kurz schaue ich ihn verdattert an, ehe ich mich besinne, dass er nur vor wenigen Minuten meine Agenda vor der Nase gehabt hat und ich erkenne sein spitzbübisches Grinsen bevor wir uns wieder in die Fluten vor dem Café stürzen.
———————————
Es geht endlich weiter!
Die Motorräder sind also erstanden. Hoffen wir mal, dass sie diese auch alle fahren können :-D.
Was haltet ihr von Harry's kleinem Scherz?
Und wollt ihr gerne Shayleen's Notizbuch sehen? Oder zumindest ihre Legende?
Ach, was frage ich, ich werde es euch so oder so zeigen ;-P
Meine Lieben, it's been too long! Wie geht es euch? Was macht ihr so? Was hat euch heute zum Lächeln/Lachen gebracht?
Ich wünsche euch allen einen genialen Abend und bis bald!
Glg
Eure StephVi
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro