36 | Mitleid
Nachdem Stella zu ihrem Klassenraum musste, lief ich alleine den breiten Flur entlang und war so vertieft in meinen eigenen Gedanken, dass ich plötzlich voll in jemanden rein knallte. Meine Tasche fiel vor meinen Füßen zu Boden und wütend darüber sah ich hoch.
"Pass doch auf!", zischte ich und starrte dabei in diese hellen, grünen Augen, die mir schon viel zu gut bekannt waren. Er hatte so oft versucht bei mir zu landen, dass es schon fast erbärmlich wirkte. Jedes zweite Mädchen dieser Schule schmachtete ihn an, doch ich gehörte nicht zu ihnen. Für mich gab es immer nur Riziero... bis dieser mich fallen ließ.
"Du bist in mich rein gelaufen, Schneekönigin."
Angewidert über diesen Spitznamen, verzog ich mein Gesicht und wollte mich nach meiner Tasche bücken, bis er mir aber zuvor kam und sie mir reichte. Ich bemerkte die Blicke der anderen auf uns, während ich meine Tasche entgegennahm und einfach nur weiter wollte. Natürlich wusste Orlando das zu verhindern und stellte sich mir in den Weg.
"Hab gehört, was Riziero abgezogen hat. Du solltest dir einen suchen, der dich und dein Temperament zu schätzen weiß."
"Dich oder was", entkam es mir und ich konnte nicht anders, als mich über ihn witzig zu machen. Ja! Er sah verdammt gut aus, aber er war auch ein Kerl, der alles hier gefickt hatte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Ekelhafte, männliche Nutte. Dachte er ernsthaft, ich würde auf sowas reinfallen? "Such dir eine, die auf deine Masche rein fällt und lass mich gefälligst in Ruhe."
Erneut wollte ich an ihm vorbei, da grinste er dreckig und mir fiel schlagartig ein, was Stella gesagt hatte.
Mach Ayaz eifersüchtig...
Ich checkte Orlando noch mal von oben bis unten ab und musste mir eingestehen, dass er perfekt dazu wäre, Ayaz zum durchdrehen zu bringen. Er sah nicht aus wie ein kleiner Junge, mit den Muskeln und seiner Größe von fast 1.90. Dazu hatte er das typische Sunnyboy Lächeln.
"Orlando, heute ist dein Glückstag", sprach ich also und legte ein charmantes Lächeln auf, während ich mit meiner Hand an dem Reißverschluss seiner schwarzen Jacke herumspielte. Verführerisch sah ich zu ihm auf und es war ein leichtes Spiel, ihn um meinen Fingern zu wickeln. "Ich werde bald 19 und würde dich gerne zu meiner Party einladen. Wird sicher eine lange Nacht."
"Ich werde da sein", gab er mir ohne Zögern zurück und nachdem ich ihm noch mal zugezwinkert hatte, löste ich meine Finger wieder von ihm und lief eleganten Schrittes den Flur weiter entlang.
So leicht, doch auch langweilig... Es war überhaupt nicht reizbar, mit diesen Idioten hier zu flirten. Ayaz hingegen bahnte sich wieder den Weg in meinen Verstand und ich hätte fast gar nicht bemerkt, dass mein Rektor nach mir rief, so gefangen war ich mal wieder gedanklich in der Kabine mit meinem Bodyguard.
"Nives Mancini!"
Erschrocken drehte ich mich zur Seite und erkannte meinen kleinen, fetten Rektor, der sich nachdenklich den Schnauzer rieb. Mein Onkel Adamo sagte immer, er wäre perfekt für ein 70er Jahre Porno.
"Habe ich etwas verbrochen?", entkam es mir genervt und während meine Mitschüler allesamt in den Klassen verschwanden und der Flur sich langsam leerte, blieb ich alleine mit ihm und seiner Sekretärin zurück.
"Komm doch bitte mit in mein Büro", sprach er streng, doch er bat auch seine Sekretärin mitzukommen. Wahrscheinlich, weil ich ihm beim letzten Gespräch gedroht hatte, herum zu erzählen, dass er mich sexuell bedrängt hätte.
Was für ein Angsthase...
Ich folgte ihm widerwillig zu seinem Büro und ließ mich auf dem dunklen Stuhl vor seinem wuchtigen Schreibtisch nieder. Der Typ war nicht normal, denn er sammelte Züge und kleine Figuren von Schildkröten. Im Grunde fühlte man sich hier wie in dem Spielkeller eines Psychopathen.
"So, es geht um-"
"Ich weiß, um die Reifen", unterbrach ich ihn, da musterte er mich skeptisch und nahm mir gegenüber Platz.
"Welche Reifen?"
Oh...
"Ach, das war ein Scherz", lachte ich und er atmete tief durch, um flüchtig zu seiner Sekretärin zu schauen. Sie stand nebem dem Tisch und zuckte nur unwissend mit den Schultern.
"Nein", erklärte er schließlich und holte dabei einen Zettel heraus. "Es geht um deinen Abschluss. Du bekommst ihn nicht, wenn du so weiter machst."
"Warum? Ich habe überall 3er und 4er! Heißt das nicht, ich befriedige sie und bin ausreichend?"
Seine Augen weiteten sich bei meinen Worten. Ich meinte es jedoch ernst und konnte sicher nichts dafür, dass er meine Worte als anzüglich empfand. Er sammelte sich aber schnell wieder und spielte erneut an seinem dunklen Schnauzer herum. Es war abturnend ihm dabei zuzusehen, deswegen versuchte ich mich voll und ganz auf seine blauen Augen zu konzentrieren.
"Es geht um deine Sportnote. Du warst dieses Jahr nicht einmal beim Sport und wenn, dann hast du auf der Bank gesessen und mit deinem Handy gespielt."
"Ich bin eben keine Sportskanone. Soll mir deswegen der Abschluss verweigert werden?"
"Wenn die 6 bestehen bleibt, dann ja."
Er schien das wirklich ernst zu meinen, was mich entsetzt dazu brachte, mich vorzulehnen. Noch ein Jahr in diesem Horrorhaus hier würde ich nicht durchhalten. Einen Scherz konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen.
"Ich könnte ihnen ganz persönlich zeigen, wie sportlich ich nachts sein kann", hauchte ich und sah hoch zu seiner Sekretärin. "Sie kann zusehen. Das macht mir nichts aus."
"Nives!", mahnte mein Rektor und es brachte mich zum Schmunzeln, wie rötlich seine Wangen sich verfärbten. Jedoch war ich noch nicht fertig. Lässig lehnte ich mich zurück und nahm erneut ihn ins Visier.
"Der neue Sportplatz ist wunderschön", sprach ich und legte ein amüsiertes Lächeln auf. "Wie ich gehört habe, eine Spende meiner Mutter. Ach, und hat sie nicht auch genau diesen Flügel hier mit finanziert? Ich glaube, das war sie", redete ich weiter und sah mich dabei um, wobei mir noch etwas weiteres einfiel. "Und hat mein Onkel nicht die Frau auf ihrem Schreibtisch verführt, die hier als Vertrauenslehrerin eingestellt ist? Ich meine mich zu erinnern, dass es vertuscht wurde. Wer weiß, ob ich es nicht ausversehen ausplaudere, wenn ich noch ein Jahr hier bleiben muss."
"So funktioniert das nicht, Nives."
"Doch", wiedersprach ich ihm und stand elegant auf, um ihn von oben herab zu mustern. "So muss es funktionieren, denn wenn ich meinen Abschluss nicht bekomme, werde ich ihnen das nächste Jahr zur Hölle machen. Sollten sie deswegen meine Eltern anrufen, steht morgen alles zu dem Vorfall der Vertrauenslehrerin in der Zeitung und sie können ja dann Mal sehen, wie viele Menschen ihre Schule noch finanziell unterstützen werden."
Ich lächelte gespielt freundlich und wandte mich zur Tür, doch ich drehte mich flüchtig noch mal zu ihm herum.
"Ach, und vielen lieben Dank, dass sie mich aufgrund meiner starken Bauchschmerzen die nächsten drei Tage freigestellt haben. Ich wünsche noch einen schönen Tag."
Erhobenen Hauptes suchte ich erneut den Flur auf, der bis auf mich vollkommen leer war. Die Sonne schien durch die breite Glastür herein und ich lief genau auf diese zu, während ich mein Handy zückte und Ayaz Nummer wählte.
"Hol mich ab", sprach ich voller Vorfreude und wartete auf seine Antwort darauf.
"10 Minuten."
Mit einem wahnsinnig guten Gefühl, steckte ich mein Handy wieder weg und wollte gerade aus der Tür, da bemerkte ich seitlich im Flur jemanden auf dem Boden sitzend. Mit einer Hand an der Klinke sah ich kurz zur Seite und erkannte Riziero. Er sah echt beschissen aus. Die sonst so perfekt gestylten Haare lagen vollkommen durcheinander auf seinem Kopf, während seine Wange bläulich wirkte und auch seine Lippe aufgeplatzt aussah. Er lehnte mit dem Rücken an einem Spint und hatte die Beine ausgestreckt auf dem Boden liegend.
Schnell löste ich meinen Blick wieder von ihm und wollte mein schlechtes Gewissen ins Jenseits befördern. Als ich jedoch die Tür bereits einen Spalt geöffnet hatte, wehte mir die frische Luft entgegen und Erinnerungen spielten sich in meinem Kopf ab. Erinnerungen davon, wie wir beide im Kino waren. Wie viel Spaß wir abends auf dem Sportplatz hatten, wenn er ein Spiel gewonnen hatte. Wie liebevoll er mit mir umging, wenn ich mal wieder einen meiner Anfälle hatte. Dazu unsere Nächte, die wir oft am Strand verbrachten um einfach nur stundenlang über die Schule zu lästerten.
"Verdammt!", zischte ich über mich selbst verägert und ließ dabei die Klinke der Tür los, um langsam auf ihn zuzulaufen. Er sah flüchtig zu mir auf, wandte seinen Blick jedoch schnell wieder zu Boden herab.
"Selbstmitleid? Steht dir nicht", sprach ich und wollte mir nicht anmerken lassen, dass er mir irgendwie leid tat. Ich hasste dieses Gefühl, denn sonst empfand ich es bei fast nichts auf dieser Welt. Mitleid war mir fremd, genau wie Empathie. Nur meine Familie bekam gerade so viel, dass sie mich nicht als kalten Psycho sehen würden.
"Ich habe einen Fehler gemacht und schon ist mein ganzes Leben versaut", hörte ich ihn flüstern und verdrehte meine Augen über seinen Hang zur Dramatik. Mein Gott... Er sollte einfach nach vorne sehen und weitermachen.
"Ich sage meinem Bruder, dass er dich in Ruhe lassen soll. Kannst du dann bitte aufhören zu heulen und wieder der sein, der erhobenen Hauptes durch die Schule läuft? Ist ja nicht mit anzusehen."
Ich stellte mich genau vor ihn und ging vorsichtig in die Hocke, sodass wir auf Augenhöhe waren.
"Es geht nicht um deinen Bruder. Die Schläge habe ich verdient", erklärte er wehmütig und sah mir dabei tief in meine Augen. "Es geht darum, dich verloren zu haben."
"Als ob ich dir wichtig war", gab ich ihm zurück und erinnerte mich an die Nacht, die mein Herz in tausend Teile zersprengen lassen hatte. Erneute Wut machte sich in mir breit. "Du hast doch, was du wolltest. Bist du nicht glücklich zusammen mit dieser Bitch?"
"Nein!", wiedersprach er mir und wollte plötzlich meine Hand nehmen, da riss ich aber ungläubig meine Augen auf und erhob mich schnell wieder. Auch er stand auf, sodass ich zu ihm aufsehen musste. "Nives. Ich schwöre es dir! Die Schläge sind mir wirklich scheiß egal! Soll die ganze Welt mich jeden Tag bestrafen! Ich hasse mich selbst dafür, aber ich kann es nicht rückgängig machen, egal was ich tue! Ich will dich nur zurück und dieses Mal alles richtig machen! Solange du-"
"Dio Mio! Hör auf zu reden!", wurde ich lauter, da es mich überforderte, ihm weiter zuzuhören. Dieses Arschloch wusste ganz genau, wie lange ich in ihn verliebt war! "Du kannst es auch nicht rückgängig machen! Niemals wird es wieder ein wir geben! Du hast in der Nacht eine Entscheidung getroffen, also halte dich daran!"
"Es war keine Entscheidung!", wehrte er sich und fuhr sich aufgebracht durch seine Haare. "Ich weiß nicht, was mit mir los war! Ich hab etwas getrunken und ganz plötzlich, da war ich total dicht! Ich kann mich ja nicht mal an etwas erinnern, bis du schlagartig vor mir standest!"
"Ach, jetzt willst du mir erzählen, dass dir jemand heimlich Drogen gegeben hat?!", sprach ich und schüttelte fassungslos meinen Kopf. "Ist das dein ernst? Steh doch dazu! Es ist sowieso egal jetzt! Du hast mir weh getan und hast es von meinem Bruder zurückbekommen! Es ändert sich nichts daran, dass ich mit dir abgeschlossen habe!"
Er griff erneut nach meiner Hand und sah mich mit Tränen in den Augen an. Die pure Verzweiflung schien ihn eingenommen zu haben.
"Ich kann nicht ohne dich. Selbst wenn dein Bruder mich noch halbtot schlägt, ich werde dir jeden Tag beweisen, wie leid es mir tut."
"Nives?"
Mit großen Augen sah ich zur Seite und erkannte Ayaz, der gerade in den Flur gekommen war. Er sah irritiert an mir herunter und da bemerkte ich erst, dass Riziero immer noch meine Hand hielt. Eilig entriss ich mich ihm und nahm ihn warnend ins Visier.
"Halt dich fern von mir und krieg dein Leben auf die Reihe!"
_
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro