Kapitel 1
Stöhnend schlug ich meine Augen auf. Mein Kopf pochte unangenehm, als würde dort jemand drinnen sitzen und mit einem Hammer gegen meinen Schädel klopfen. Ich tastete auf meinem Nachttischchen herum und suchte das Päckchen mit den Tabletten gegen den Schmerz. Als ich immer wieder in die Leere griff, hob ich mühsam meinen Kopf. Doch mein Nachttischchen war leer. Nur ein kaputter Haargummi lag einsam und verlassen dort. Ich runzelte die Stirn. Eigentlich legte ich mir vor einer Partynacht immer Schmerztabletten gegen den Kater raus und füllte mir ein Glas Wasser, damit ich es am Morgen gleich zu mir nehmen konnte. Doch weder das Wasser noch die Tabletten waren zu sehen.
Vorsichtig schwang ich meine Beine aus dem Bett und blieb erstmal noch sitzen. Mein Kopf drehte sich und schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen herum. Nach einer Weile verblassten sie. Ich stützte meinen Kopf in die Hände und fuhr mir verzweifelt über mein Gesicht. Angestrengt dachte ich nach, wo meine Schmerztabletten stecken könnten. Plötzlich fiel es mir wieder ein. Es gab ja keine mehr. Ich und meine Stiefschwester hatten sie alle aufgebraucht. Ich verzog gequält mein Gesicht. Ich hatte genau zwei Möglichkeiten. Entweder ich überlebte den Tag mit Kopfschmerzen oder ich müsste mich zu meiner besten Freundin schleppen, damit sie mir welche lieh. Selber wollte ich in diesem Zustand, in dem ich mich gerade befand, nicht in die Apotheke laufen.
Mit den Fingern versuchte ich die Knoten aus meinen Haaren zu kämmen. Durch das Ziehen an der Kopfhaut wurden die Kopfschmerzen etwas schlimmer, weshalb ich das Gesicht verzog. Ich sah an mir hinunter. Ich trug nicht mehr als ein T-Shirt und einen Slip. Ich beließ es dabei und stand vom Bett auf, um aus dem Zimmer zu schlurfen. Ich wollte nicht wissen, wie verschmiert mein Make Up von gestern aussehen musste. Hoffentlich sah mich keiner der Nachbarn, wie ich im Pandalook den Gang runter lief.
An der Zimmertür von meiner Stiefschwester Michele blieb ich kurz stehen und lauschte. Von drinnen hörte ich regelmäßiges Atmen von ihr und ein männliches Schnarchen. Ich hoffte für sie, dass sie gestern Nacht jemanden richtig guten abgeschleppt hatte, der vielleicht an einer Beziehung interessiert war. Das hätte sie verdient. Denn Michele sprach nicht drüber, aber als ihre Schwester sah ich oft, dass sie sich ziemlich einsam fühlte, nachdem ihr ehemaliger Freund sie mit einer ihrer Freundinnen betrogen hatte. Ich wusste, dass sie ihm immer noch hinterher trauerte.
Leise, damit ich die beiden nicht aufweckte, ging ich weiter in die Küche und erstarrte.
Meine Lippen teilten sich erstaunt und ich musterte die tief an den Hüften sitzende Anzughose, wanderte dann weiter hoch an einem oberkörperfreiem Rücken. Als der fremde Mann sich nach einem Salzstreuer über den Tisch beugte, spielten die Muskeln an seinen breiten Schultern. Ein schlangenförmiges Tattoo zog sich über den Arm nach oben, über die Schulter und an seinem Nacken entlang.
Als ich den angehaltenen Atmen zischend ausstieß, drehte er sich geschmeidig zu mir herum. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und ich versuchte, nicht zu seiner V-Linie zu starren, die in seiner Hose verschwand. Stattdessen schluckte ich und betrachtete seine schmalen Lippen, die gerade Nase und seine harten Gesichtszüge, die ihn unglaublich attraktiv machten.
"Ah, du bist wach. Ich habe dir Frühstück gemacht." Bei seiner weichen Stimme erschauderte ich. Sie klang noch ein bisschen rau und verschlafen. "Es gibt Omelette mit Tomaten und sogar Pancakes. Ich musste ein wenig improvisieren, weil ihr keine Eier mehr hattet und an Milch hat es auch ein wenig gefehlt, aber mit Joghurt schmeckt es sogar noch besser."
Stumm sah ich an, wie er einladend den Stuhl an dem Tisch zurück zog und mich auffordern aus seinen dunkelgrünen Augen anschaute.
"Ich bin an keiner Beziehung interessiert", sagte ich ziemlich spontan und nach einigem Zögern und erwartete gleich darauf, dass er seine Sachen packte und aus unserer Wohnung verschwand. Er allerdings schenkte mir ein weiteres Grinsen und ich bemerkte sogleich die kleinen Grübchen an seinen Wangen.
"Das hatte gestern aber ganz anders ausgesehen", erwiderte er mir frech und neigte seinen Kopf zur Seite, um mich von oben bis unten zu mustern. Bei meinen Beinen blieb er einen Moment stehen und schluckte leicht, ehe er mir wieder ins Gesicht blickte. Unauffällig zupfte ich mein T-Shirt etwas weiter nach unten und hob fragend eine Augenbraue.
"Oh, Vincent. Ich brauche dich so sehr! Küss mich bitte!", raunte der Typ mit verstellter Stimme in mein Ohr, während er mich langsam umrundete. Ich versuchte nicht aus seinen durchtrainierten Körper zu starren. Man merkte, dass er hart für diese Muskeln trainiert hatte.
Vincent. So hieß er also. Der Name passte zu ihm.
Dicht vor mir blieb er stehen, von wo ich ihn wütend anfunkelte.
"Ich weiß nicht in welchem Film du lebst, aber so spreche ich nie im Leben", meinte ich trotzig, um mich von den Bildern in meinem Kopf abzulenken, die jetzt auf mich einprasselten.
Wie ich kichernd mit meinen Freundinnen schon sichtlich betrunken auf der Tanzfläche herumgrölte und zu den Liedern getanzt hatte, bis mir auf ein Mal eine Hand auf den Arsch klatschte und neben mir jemand laut pfiff. Weil es mir unangenehm war, hatte ich die Hand weggeschlagen, die ekelhaft klebrig war. Böse hatte ich den Kerl angefunkelt, der locker in dem Alter meines Vater, wenn nicht sogar älter sein könnte und dann das Gesicht zu einer Grimasse verzogen.
"Ah komm, du willst es doch auch", hatte er dreckig gegrinst.
Mit einiger Verzögerung hatte ich den Kopf geschüttelt und wollte dem Pedo schon in sein bestes Stück treten, der wurde allerdings von mir weggezogen. Da ich vollkommen dicht war und der Boden sich unter meinen Füßen drehte, konzentrierte ich mich zunächst nur darauf, nicht umzukippen. Erst nach einer Weile hatte ich den Fremden, also Vincent, entdeckt, der sich gerade etwas Blut von seiner Lippe wischte. Er sah genauso dicht aus, wie ich, stützte mich jedoch trotzdem, damit ich nicht direkt auf der Tanzfläche zusammenklappte.
Dann wurde alles Schwarz.
Die nächste Erinnerung war, wie wir gemeinsam in dem Aufzug standen, der zu meiner Wohnung führte. Vincent sah schon nicht mehr so betrunken aus, im Gegensatz zu mir. Er hatte mir einen Arm um die Schulter gelegt, weil ich immer noch ziemlich wackelig auf den Beinen war. Ich stand dicht an ihn gepresst und schaute auf zu ihm.
"Du riechst so gut", hatte ich geflüstert und hatte dann mit voller Wucht mit der Nase in sein T-Shirt gerammt, weil ich mich nicht halten konnte und der Aufzug in dem Moment gestoppt hatte.
An mehr konnte ich mich nicht mehr erinnern.
"Klar redest du so", erwiderte Vincent gerade und fuhr sich durch seine dunkeln Haare. Dabei fiel ihm eine Strähne ins Gesicht, die in mir den Zwang auslöste, sie ihm wegzustreichen, doch ich krallte nur meine Finger in den Stoff meines T-Shirts und schob mich an ihm vorbei, um mich an den Tisch zu setzen. Dabei schob ich aber selber einen Stuhl nach hinten und ließ den, den Vincent mir gentlemenlike zurückgeschoben hatte einfach stehen.
Schweigend packte ich mir einen Stapel Pancakes auf meinen Teller und goss großzügig etwas von dem Ahornsirup drauf. Dann fing ich an zu essen. Nur schwerfällig unterdrückte ich ein entzücktes Stöhnen. Das Essen schmeckte genauso gut, wie es roch. Vincent ließ sich nicht beirren und nahm mir gegenüber Platz, als würde die Wohnung ihm gehören. Ich hielt im Kauen inne.
"Kannst du dich erinnern, was gestern alles passiert ist?", fragte ich zögernd. Ich hatte ein wenig Angst vor der Antwort, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Stattdessen stopfte ich mir noch einen weiteren Pancake in den Mund und schob die anderen auf meinem Teller hin und her, damit ich ihn nicht ansehen musste. Denn seine dunkelgrünen Augen, die mich sehr an einen Wald erinnerten, schauten mich durchdringend an und er schien jede meiner Bewegungen genau zu beobachten.
"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Außer, dass du gestern noch eine Tanznummer auf deinem Bett hingelegt hast, nachdem ich meinte, dass du am Besten ins Bett gehen müsstest, und du wie ein bockiges Kind meintest, dass du noch nicht müde bist, ist nichts spannendes passiert", antwortete er mir und schenkte mir ein Schmunzeln. Er hatte mich trotz meines Pokerfaces durchschaut und wusste, dass ich mich fragte ob wir gestern miteinander geschlafen hätten. Ich presste fest meine Lippen aneinander.
"Wo-wo hast du geschlafen? Nach Hause gegangen bist du ja anscheinend nicht...", stellte ich fest.
"Ich wollte hier auf dem Sofa schlafen, aber du wolltest unbedingt, dass ich bleibe. Also habe ich wohl oder übel die Nacht auf dem Boden verbracht. Mein Rücken tut immer noch weh", ächzte er und ließ seine breiten Schultern kreisen.
Innerlich vergrub ich meinen Kopf gerade in den Händen. Je mehr Alkohol ich trank, desto weniger Peinlichkeit verspürte ich. Genau aus diesem Grund hasste ich es, Männer zu mir nach Hause zu nehmen. Stattdessen ging ich dann immer bei ihnen mit, oder wenn wir zu ungeduldig waren, dann trieben wir es direkt im Badezimmer des Clubs, in dem wir uns befanden. Denn jedes Mal bereute ich am nächsten Tag die Sachen, die ich gesagt hatte.
Ich wollte ihn gerade mit noch mehr Fragen meinerseits bombadieren, da hörte ich das Tapsen von Füßen. Michele kam in die Küche geschlichen. Ihre Haare zerzaust, ihr Make Up noch verschmierter als meins. Sie schloss leise die Küchentür hinter sich und drehte sich dann mit einem fetten Grinsen zu mir herum. Überrascht zuckte ihre rechte Augenbraue unmerklich hoch, als sie Vincent gegenüber von mir sah. Sie nickte ihm kurz zu und verdeutlichte mit ihrem Blick, dass wir später noch darüber reden würden.
Dann aber zog sie freudig ihre Schultern bis zu den Ohren und tänzelte auf mich zu. Quietschend zog sie den Stuhl neben mir zurück und ließ sich, zu mir zugewandt, drauffallen. Ich drehte mich ebenfalls zu ihr.
"Oh mein Gott, Avril!", sie fächelte sich etwas Luft zu. "Du hast keine Ahnung, wer gerade in meinem Bett liegt", quietschte sie und packte meine Hände. "Ich habe gestern Nacht einfach Xavier Gomez abgeschleppt!" Mit aufgerissenen Augen wartete sie begeistert auf meine Reaktion, die etwas verzögert kam.
"Aaaaahh, der Xavier??", stieß ich hervor und nickte wissend. Ich hörte wie Vincent krampfhaft das Lachen unterdrückte. Er bemerkte, dass ich nicht wusste von wem sie sprach.
Michele griff sich fassungslos an die Stirn. "Sag bloß du hast Xavier vergessen. Der Streber von früher. Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr er sich seit damals verändert hat!"
Dieses Mal begriff ich endlich, wenn Michele meinte. "Ernsthaft? Der Xavier Gomez? Der Typ, der sich in das Schulsystem gehackt hatte, um die Lösungen von der Matheklausur für die ganze Stufe zu besorgen, weil niemand wusste, welches Thema drankommt?"
"Genau!", kreischte meine Stiefschwester. "Er sieht so heiß aus", pfiff sie und wackelte mit den Augenbrauen. "Und er ist gleichzeitig immer noch der selbe Gentlemen von damals. Ich frag mich, wieso er keine Freundin hat."
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte eine Idee, aber ich wollte Michele die Hoffnung auf eine Beziehung nicht vermiesen. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass der nette Xavier nicht ernsthaft an einer Beziehung interessiert war und er einfach nur mit den Mädchen spielte.
Vincent stand auf und ich erwartete schon, dass das Thema in langweilte und er deshalb endlich von hier verschwand, aber er ging jedoch nur zu Kaffeekanne und goss etwas davon in eine Tasse. Auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass es meine Lieblingstasse war. Ich schnauzte ihn nicht an, denn zu unhöflich wollte ich nicht sein, immerhin hatte er dieses ganze Frühstück gezaubert, welches zudem noch unfassbar lecker schmeckte.
"Zucker und Milch?", fragte er.
"Milch steht im Kühlschrank und Zucker da über der Spüle", meinte ich großzügig und deutete zum Schrank. Vincent prustete und hielt gut sichtbar die Milch in der Hand. Anscheinend hatte er sie schon selber gefunden, also wieso fragte er noch?
"Ich meinte damit eigentlich, ob du Milch und Zucker in deinem Kaffee haben willst? Und wenn ja, wie viel?"
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Michele sich begeistert die Hand vor den Mund schlug, dann spürte ich eine Hand, die mir auf den Oberschenkel klopfte. Das machte sie jedes Mal, wenn sie später noch darüber reden wollte, die Person, um die es ging es aber nicht erfahren sollte.
Ich unterdrückte ein verräterisches Lächeln. Ich musste mich zusammen reißen!
"Einen Löffel Zucker und so viel Milch wie reinpasst", antwortete ich und drehte mich dann von ihm weg. Denn wie sehr ich es auch verhindern wollte, zuckten meine Mundwinkel trotzdem etwas nach oben. Wie konnte es sein, dass der Mann mich trotzdem so behandelte, nachdem ich so ruppig zu ihm war?
Die Tür öffnete sich und ein brauner Lockenkopf schielte hinein. Sofort setzte Michele sich aufrechter hin und zupfte ihr T-Shirt glatt. Und ich musste währenddessen meinen Mund kontrollieren, der jeder aufklappen konnte. Denn von dem Jungen, denn ich aus der Schule kannte, war gar nichts mehr übrig. Xavier hatte deutlich mehr Muskeln aufgebaut und seine Arme zierten mehrere Tattoos. Und auch der Kleidungsstil hatte sich deutlich geändert. Statt den braunen Hosen, den bunten karierten Hemden und seiner Fliege trug er jetzt lockere Jeans mit einem schwarzen engen T-Shirt, das noch mehr verdeutlichte, wie breitgebaut er nun war.
Xavier schenkte Michele ein breites Lächeln und ein "Guten Morgen", mir nickte er zu und hob die Hand. Dann wandte er sich an Vincent und schlug mit ihm ein.
"Kennt ihr euch?", fragte ich für die sprachlose Michele, die verzweifelt von einem zum anderen sah.
"Ja, wir-"
"-Arbeiten zusammen", unterbrach Vincent den braunhaarigen. Dann schenkte er ihm ein warnendes Kopfschütteln, woraufhin Xavier die Schultern zuckte und sich über den gesamten Tisch beugte, Micheles Kinn sanft in die Hand nahm und ihr einen Kuss auf die Lippen hauchte. Sofort färbten sich ihre Wangen knallrot. Ich wandte mich von den Beiden ab, um ihnen etwas mehr Privatsphäre zu schenken, woraufhin meine Augen direkt auf Vincent trafen, der mir gerade den Kaffee hinstellte.
"Danke", murmelte ich. Dieses Mal schaute ich nicht weg, als er mich mit seinem Blick durchbohrte.
"Gerne", flüsterte er mir zu und zwinkerte charmant. Mit zitternden Händen griff ich achtlos nach dem Becher, verschüttete beim Anheben etwas und nahm einen kräftigen Schluck.
"Wir sollten jetzt gehen", meinte Xavier nun und blickte auf sein Handy um die Uhrzeit zu checken. "Wir müssen noch arbeiten." Er strich Michele zärtlich über die Wange, dann flüsterte er ihr etwas ins Ohr. Diese nickte und gab ihm noch ein Kuss.
Wir begleiteten beide höflich zur Tür, wo sie sich die Schuhe anzogen. Vincent war als erster fertig und stellte sich dich vor mir hin. Sofort roch ich sein Parfüm. Langsam blickte ich an ihm hoch.
"Wir sehen uns wieder, Sturkopf", meinte er und umfasste mein Gesicht mit seinen Händen. Vorsichtig schob er eine Haarsträhne hinter mein Ohr, dann löste er seinen Griff. Er und Xavier verschwanden durch die Tür, während ich ihnen hinterher sah. Erst als Michele an meiner Hand zupfte schloss ich die Haustür.
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