Kapitel 6.2 - Außenseiterin und dunkle Überraschungen ✅
Der Tag gestern war schneller zu Ende gegangen, als ich es gedacht hatte. Und tatsächlich hatte ich meinen Spaß gehabt. Bis jetzt waren alle Fächer, die ich gehabt habe, interessant gewesen. Für die Dauer dieser Stunden hatte ich den Blonden endlich vergessen können. Hatte ihn ganz tief in mein Gedächtnis verbannt. Nicht für einen Moment war er aus dem weggesperrten, verstaubten Teil meines Gedächtnisses entkommen.
Bis wir dann zum Luftelementar-Training mussten. An sich wäre dieses Fach sicherspannend gewesen. Wäre ich ein Luftelementar gewesen. Aber das war ich nicht. Wieder einmal war mir vor Augen geführt worden, dass ich zum einen nichts konnte und zum anderen nicht zu den Luftelementaren gehörte.
Wir sollten Federn zum Schweben bringen. Mrs Davis hatte uns gesagt, wir sollten den Wind und die Luft um uns herum spüren. Wir sollten mit ihr eins werden und uns vorstellen, wie wir mit dem Wind sachte die Feder bewegen sollten. Natürlich hatte Claire neben mir es sofort geschafft. Sie hatte das ja auch schon mal gemacht. Darin war sie wirklich gut. Und das wusste sie ganz genau. Die ganze Stunde über hatte sie ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen getragen.
Alle hatten es irgendwann raus gehabt. Bis auf ich. Ich konnte mit dem Wind einfach nicht 'eins' werden. Zwischen all den Luftelementaren kam ich mir vor wie ein gewöhnlicher Mensch. Ein Mensch, der zwar wusste, dass er nicht hier her gehörte, es aber einfach nicht wahrhaben wollte. Und so habe ich mein Bestes gegeben. Doch war mein Bestes nicht genug. Die verdammte Feder hatte sich keinen Millimeter bewegt. Es sei denn, der Windhauch eines meiner Mitschüler hatte sie getroffen. Ich war ziemlich frustriert gewesen.
Der Blonde, von dem ich herausgefunden hatte, dass er Aiden hieß, hatte sich über mich lustig gemacht und alle außer Claire hatten mit ihm über mich gelacht. So mies hatte ich mich noch nicht einmal in der gewöhnlichen Schule gefühlt. Lieber hätte ich Josie persönlich gestanden, dass ich während unserer Mathearbeit von ihr abgeschrieben hatte, als mich hier weiterhin zu blamieren und verspotten zu lassen.
Darum brachte ich es auch noch nicht über mich, meiner Mutter zu schreiben. Bestimmt wartete sie schon ganz gebannt auf eine Nachricht von mir. Doch ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, ihr von hier zu erzählen.
Heute verlief der Tag ruhig. Im Überlebenstraining wurden uns zum Anfang ein paar Pflanzen vorgestellt mit heilender Wirkung. Selbst die Elementare, die nicht den Erdelementaren angehörten, mussten über bestimmte Pflanzen und ihren Wirkungen Bescheid wissen. Schließlich waren wir Elementare und das bedeutete, dass es auch viele Gefahren gab. Und eventuell konnte man nicht mit jeder Verletzung zu einem gewöhnlichen Arzt gehen, zumal nicht immer ein Arzt unseresgleichen in der Nähe war.
Das Überlebenstraining gefiel mir. Wir beschäftigten uns mit gewöhnlichen Heilpflanzen und nichts davon hatte mit Elementarmagie zu tun. Ein bisschen fühlte ich mich ins Mittelalter versetzt, als die Menschen noch keine Medizin hatten, wie wir heutzutage.
Danach hatten wir Elementar-Geschichte und uns wurde erzählt, dass die Elementare mit den normalen Menschen fast gleichzeitig zu existieren begonnen hatten. Sie unterschieden sich nicht von den normalen Menschen. Bis auf, dass die Elementare ein Element beherrschten, was den normalen Menschen Angst machte. Jedenfalls denen, die darüber Bescheid wussten. Zwar hatte niemand wirklich gesagt, dass wir uns den Menschen nicht offenbaren durften, doch offenbar war das ein ungeschriebenes Gesetz. Würden zu viele oder die falschen Menschen von uns erfahren, würde Chaos ausbrechen.
Obwohl die Lehrerin uns so viel zu der Geschichte erzählte, wiederholte sie sich oft. Zudem kames mir so vor, als gäbe es einige Lücken und Unstimmigkeiten in dem, was sie uns erzählte. Aber wie sollte ich das schon beurteilen? Ich war noch nicht mal seit zwei Tagen hier. Also sollte ich auch nichts in Frage stellen. Außerdem verfügte die Lehrerin in ihrem Fach natürlich über weitaus mehr Wissen als ich, die sozusagen erst vor kurzem in diese Welt der Elementare gestolpert war.
Der Tag verlief besser, als der erste Tag. Nur, dass alle mich zu meiden schienen. Erst hatte ich geglaubt, dass ich es mir bloß einbildete, doch etwas später musste ich mir eingestehen, dass dem nicht so war. Man mied mich.
Im Speisesaal saßen Claire und ich daher alleine. Mir wurde unwohl bei dem Gedanken, dass ich der Grund war, weshalb die Anderen sich auch von Claire fernhielten. Es war meine Schuld, dass sie genauso abgekapselt war wie ich. Und ich konnte nur hoffen, dass sie mir das nicht übel nahm.Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn Claire sich auch noch von mir abwenden würde. Dann wäre ich endgültig allein.
Wie hielt sie nur die ganzen Blicke aus? Da sie immer bei mir war, warf man ihr schon bald auch zweifelnde und abschätzende Blicke zu. Aber Claire schien das gar nicht zu beeinflussen. Hoch erhobenen Hauptes schritt sie durch die Gänge und grinste selbstbewusst. Manche der Blicke erwiderte sie sogar mit einem süffisanten Grinsen, während ich es immer mied, den anderen ins Gesicht zu sehen. Wieso konnte sie so gut damit umgehen? Sie fühlte sich kein bisschen unwohl.
Und ich konnte einfach nicht verstehen, was die Anderen gegen mich hatten. Natürlich war mir bewusst, dass ich, wenn ich denn ein Element besaß, ziemlich schwach war. Ich war kaum mehr als ein Mensch. Aber war das denn so schlimm, dass man sich von mir fernhalten musste? Laut Hanne waren Elementare auch Menschen. Wieso also schlossen sie mich aus und spotteten über mich? Wieso behandelten sie mich als wäre ich eine Aussätzige? So viel unterschieden wir uns von einander doch überhaupt nicht. Oder kamen sie einfach nicht damit klar, dass jemand anders war als sie es gewohnt waren? Das war so verwirrend. In meiner ehemaligen Schule war ich immer anders gewesen. Aber hier? War ich hier zu gewöhnlich, dass ich auch schon wieder herausstach? Es war zum Haare raufen!
Egal wo ich hin ging,überall folgten mir die abschätzenden Blicke der Anderen. Und wenn man mich nicht mit diesen Blicken bedachte, ignorierte man mich. Allerdings spürte ich immer wieder den Blick des Jungen namens Will in meinem Rücken. Überraschenderweise war dieser nicht abschätzend. Aber so richtig einschätzen konnte ich ihn auch nicht.
Welches Element beherrschte er? Es hatte so ausgesehen, als wäre er ein Luftelementar. Aber es hatte kein Wind geweht, als er mein Essen vor dem Boden bewahrt hatte. Und da war ja noch dieses violette Flimmern gewesen. Immer, wenn ich Claire dabei zusah, wie sie ihr Element befehligte, war nirgendwo dieses dunkle Flimmern zu sehen. Weshalb auch? Der Wind hatte keine Farbe.
»Komm schon, Mika! Zum Kampftraining müssen wir auf den Kampfplatz hinter dem Schloss!«, sagte Claire und schob mich durch die Gänge. Ich wusste nicht, weshalb wir überhaupt zum Kampftraining mussten. Reichte es nicht, wenn wir zum Luftelementar-Training oder zum Überlebenstraining gingen? Oder kämpften wir während des Kampftrainings ohne die Hilfe eines Elements? Dagegen hätte ich nichts, da ich nicht schon wieder mit meiner Unfähigkeit auffallen wollte. Immerhin könnte ich ein wenig mehr ausrichten, wenn wir wie normale Menschen miteinander kämpften und nicht wie allmächtige Götter. Würde nämlich letzteres zutreffen, könnte man mich vermutlich sofort ins Krankenzimmer bringen.
Überraschenderweise wirkte Claire angespannt. So hatte ich sie noch nie gesehen. Besorgt runzelte sie ihre Stirn und sie schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Auch in ihren himmelblauen Augen war die Sorge zu sehen.
»Hast du etwa Angst?«, fragte ich erstaunt. Leicht nickte die Blonde, ohne mich anzusehen. Jetzt war sie nicht mehr so gesprächig wie sonst.
»Hast du nicht auf deinenStundenplan gesehen? Wir haben Kampftraining zusammen mit der F1.«, sagte sie. Auf ihrer Stirn wurden die Falten tiefer. Es beunruhigte mich, sie so zu sehen. Eigentlich war Claire so ziemlich das Gegenteil.
»Feuerelementare sind unglaublich stark. Und nicht dafür bekannt, sich zurückzuhalten. Sie sind meist wie ihr Element: Feurig. Außerdem halten sie sich nicht gerne zurück. Sobald sie die Chance haben, zeigen sie den Anderen, wie viel mächtiger sie sind.«, berichtete Claire mir mit belegter Stimme. Bei ihrer Erzählung wurde mir ganz unwohl. Sollten wir wirklich mit der F1 trainieren? Hoffentlich doch dann nur parallel und nicht gemischt. Außerdem kam mir nun wieder die Erinnerung an den Feuerelementar hoch, dem ich im Wald begegnet war. Augenblicklich begann meine Brandnarbe im Gesicht wieder zu schmerzen, obwohl diese längst verheilt war. Auf eine weitere Begegnung mit Feuerelementaren konnte ich verzichten. Auch, wenn bestimmt nicht alle wie mein Angreifer waren.
»Bist du dir sicher, dass wir das Kampftraining zusammen mit der F1 haben?«, wollte ich leise wissen. Vielleicht hatte Claire sich auch nur vertan. Oder war in der Zeile verrutscht.
»Ich bin mir sicher.«, antwortete Claire düster und vernichtete meine Hoffnung. Den restlichen Weg brachten wir schweigend hinter uns. Leider waren wir schneller da, als uns beiden lieb war. Wir hatten das Schloss verlassen und umrundeten es einmal. Von Weitem sahen wir den Kampfplatz. Dieser war etwa so groß wie ein Fußballfeld, nur dass es statt Rasen Erde gab. An den längeren Seiten des Platzes gab es Zuschauertribünen. Bestimmt gab es hier auch Kampfwettbewerbe, bei denen viele Schüler zuschauen konnten. Allerdings glaubte ich nicht, dass alle Schüler des Internat Platz auf der Tribüne finden würde. Vielleicht gab es Wettkämpfe innerhalb der verschiedenen Jahrgänge? Das alles war bestimmt ganz interessant, doch jetzt, da ich selbst dort stehen würde, zwar ohne Zuschauer, wurde mir ganz anders.
Am Rande des Platzes hatte sich bereits eine große Gruppe versammelt. Fast alle waren schon da. Allerdings konnte man sehen, dass es sich um zwei Gruppen handelte, da die Feuer- und Luftelementare etwas entfernter voneinander standen.
Je näher wir kamen, desto nervöser wurde ich. Vor alle, als ich die Feuerelementare erkannte. Sie alle wirkten so, als könnten sie es kaum erwarten, uns fertig zu machen. Generell fiel mir auf, dass sie alle recht arrogant wirkten. Mit einem gehässigen Grinsen blickten sie auf die Luftelementare herab. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Das alles erinnerte mich viel zu sehr an den Kerl aus dem Wald. Das hier sollte auf keinen Fall zu einem Déjà-vu werden.
»Nicht gut. Nicht gut.«, murmelte Claire neben mir. »Ganz und gar nicht gut!« Sie schien mächtig Angst vor den Feuerelementaren zu haben. Aber ich machte ihr da keinen Vorwurf. Ich selbst bemerkte, dass meine Beine zu Wackelpudding wurden.
Mit ein ein paar Metern Abstand stellten wir uns zu den Feuerelementaren und etwas später waren wir vollzählig.
Und als ich glaubte, dass es nicht schlimmer werden könnte, sah ich den Lehrer. Am liebsten wäre ich wieder abgehauen. Er war groß, muskulös, hatte dunkelbraunes Haar und sah sehr streng aus. Außerdem trug er ein schwarzes Tanktop und eine schwarze Jogginghose. Insgesamt sah er sehr respekteinflößend aus.Ganz sicher wusste er auch, wie man uns am besten quälen konnte. Definitiv würde er keine Rücksicht nehmen.
»Ich bin Mr Pearson. Für euch Neuankömmlinge aber der Coach. Ich bin ein Feuerelementar und werde euch beibringen, wie ihr nicht getötet werdet.«, sagte er mit einer unangenehm scharfen Stimme. Claire, ich und die Luftelementare starrten den Coach ängstlich an. Wie wir nicht getötet werden? Wobei sollten wir denn getötet werden? Natürlich erinnerte ich mich an das Gespräch mit Hanne, in dem sie mir erzählt hatte, dass es auch bösartige Elementare gab, die andere Elementare aufgrund ihrer Macht töteten. Aber waren die eine solch große Bedrohung? Ich hatte gedacht, dass es sich bei ihnen bloß um Einzelfälle handelte. Aber wovon sonst sollte der Coach sprechen?
»Wir werden so was von untergehen.«, jammerte Claire leise. Der Coach war sehr unsympathisch. Irgendwie musste ich bei ihm ans Militär denken. Hoffentlich erinnerte er sich daran, dass er ein Lehrer war und keine Soldaten ausbilden musste.
Die Feuerelementare dagegen schienenden Coach zu vergöttern, so wie sie ihn ansahen. Aber das wunderte mich nicht. Sie alle wirkten, als würden sie vor keinem Kampf zurückschrecken.
»So, ihr Neuen. Wir beginnen direkt mit dem Kämpfen. Für stundenlange Erklärung habe ich keine Zeit. In einem echten Kampf wird euch auch niemand aufklären. Aber aus Erfahrung lernt man bekanntlich am besten«, sagte der Coach. »Ich teile schnell Zweierteams ein und dann versucht ihr, euren Teampartner fertig zu machen bis er aufgibt, oder bewusstlos am Boden liegt. Das Krankenzimmer ist direkt durch diese Tür da und es ist erlaubt, sein Element zu nutzen. Wir sind ja nicht umsonst Elementare.« Das letzte Bisschen der Hoffnung erstarb. Ich würde untergehen. Innerhalb von Sekunden. Das war mir jetzt schon klar und ich konnte rein gar nichts dagegen tun.
»Aber die Feuerelementare sind doch viel stärker, als wir und ...«, fing ein Luftelementar an, doch der Coach unterbrach sie.
»Was bist du? Eine Elementar oder ein Feigling?«, fuhr er sie abrupt an. »Wir sind hier beim Kampftraining! Ihr alle seid hier, weil ihr ein Element beherrscht. Also beherrscht es! Und wenn du glaubst, dass du schwächer bist, dann kennst du dein Element nicht gut genug! Wenn ihr euch alle in einem richtigen Kampf befindet, wird es auch meist einen Überlegenen geben! Das Kämpfen ist nicht fair! Also helft euch im Notfall mit schmierigen Tricks!« Alle schwiegen. Die Worte des Coachs' hatten alle zum Nachdenken gebracht. An dem, was er sagte, war was Wahres dran. Dennoch wunderte es mich, dass er auch schmierige Tricks tolerierte. Das hier war eine Schule. Und kein echter Kampf. Würde er uns keine Techniken beibringen? Wir sollten nicht fair sein, wenn es notwendig war? Liefen so auch die Kampfwettbewerbe ab, die es hier offensichtlich gab?
Der Coach begann die Teams einzuteilen. »Claire Nuvola und Alex Lee.«, sagte der Coach irgendwann. Claire erstarrte, als ein Feuerelementar, der groß gebaut war, sie höhnisch angrinste und seine Finger knacken ließ. Claire schluckte. Panisch warf sie mir noch einen Blick zu. Doch da auch der Coach nach ihr Ausschau hielt, da sie sich noch nicht bewegt hatte, beeilte sie sich, zu ihrem furchteinflößenden Kampfpartner zu gehen.
»Ich bin erledigt.«, sagte sie niedergeschlagen, während sie sich in Bewegung setzte. »Mika, rette mich.« Jede Energie schien aus ihrem Körper zu verschwinden wie bei einem Luftballon, aus dem die Luft entwich. Antriebslos entfernte sie sich von mir.
»Mika Keaton und Aiden Cass.«, rief der Coach auf und der Blonde, alias Aiden, grinste schadenfroh. Alles in mir schien in sich zusammenzufallen. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie hoch standen die Chancen, ausgerechnet mit Aiden ein Zweierteam bilden zu müssen? Auf gar keinen Fall wollte ich, dass Aiden gegen mich kämpfte! Ich hatte doch gar keine Möglichkeit, mich zu verteidigen! Und Aiden wusste das.
»Ich zeig dir wo dein Platz ist, Keaton. Ein weiteres Mal wird dir bewusst werden, wie wenig du hier her gehörst!«, zischte er mir zu, als er in meine Nähe kam. Wie angewurzelt stand ich da. Hatte mich nicht vom Fleck bewegt. Als hätte ich wäre ich ein Baum, der hier Wurzeln geschlagen hatte. Und jetzt wäre es mir lieber, ein Baum zu sein: Stark, standhaft und gegen beinahe jeden Sturm gefeilt. Wie die Bäume in dem Wald, der das Schloss umgab. Dann könnte sich Aiden die Zähne an mir ausbeißen.
»Los jetzt! Warum steht ihr hier noch herum? Zu euren Partnern!«, bellte der Coach und auch die Letzten hasteten auf ihre Partner zu.
»Hast du noch etwas zu sagen, bevor ich dir zeige, wo du hin gehörst?«, fragte Aiden selbstsicher. So sehr ich ihn fürchtete, so sehr hasste ich ihn auch in diesem Moment! Ich hatte ihm nie etwas getan! Und warum hatte er überhaupt etwas gegen mich? Weil ich mein Element nicht kannte? Weil ich schwach war? Sein Verhalten regte mich auf. Ich hatte ihm nie etwas getan! Hätte ich ein Element, hätte er mich vermutlich niemals eines zweiten Blickes gewürdigt. Wieso wollte er so unbedingt, dass ich das Internat verließ? Was war sein verdammtes Problem?
Auch, wenn ich genau wusste, dass ich gegen ihn nicht gewinnen konnte, wollte ich dieses Mal nicht tatenlos herumstehen und seine Schikane über mich ergehen lassen. Das konnte er mit mir nicht machen. Und das musste ich ihm auch zeigen! Für meinen Geschmack hatte ich vor ihm nun schon lange genug gebuckelt. Er würde niemals aufhören, wenn ich mich zumindest ein bisschen zur Wehr setzte. Zwar konnte ich nicht viel ausrichten, aber auch ohne Element konnte ich zumindest versuchen, ihm etwas entgegenzuwirken. Merkwürdigerweise fühlte ich mich an die Situation im Wald erinnert. Und so hilflos wollte ich nie wieder sein.
Auf einmal war ich seltsam ruhig. Mein Herzschlag schien sich verlangsamt zu haben, ich nahm alles ganz klar wahr. »Fangen wir an.«, sagte ich so kühl, dass es mich selbst überrascht hätte, hätte ich darauf geachtet. Verwundert sah Aiden mich an. Vielleicht verstand er nun, dass ich nicht mehr vorhatte, das weiter über mich ergehen zu lassen.
»Okay.«, erwiderte er dann, hatte sich wieder vollkommen im Griff, seine Miene war undurchdringlich.
Urplötzlich wurde ich ohne Vorwarnung in die Luft gerissen. Mit weit aufgerissenen Augen hing ich in etwa drei Meter über dem Boden. Von all der Ruhe, die ich vorhin noch verspürt hatte, war nichts mehr übrig. Sie war so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war.
Aus Reflex wollte ich aufschreien, doch gerade noch rechtzeitig konnte ich mich davon abhalten. Auch wenn ich mich dazu zwingen musste. Ohne irgendeinen Halt, ohne irgendeine Sicherung schwebte ich im Nichts. Und unter mir der harte Boden. Wenn Aiden sich jetzt entschied, mich fallen zulassen, würde nichts mich vor dem schmerzhaften Aufprall schützen.
Doch nichts weiter passierte. Bewegungslos schwebte ich drei Meter über dem Erdboden. Überall um mich herum konnte ich Kämpfende sehen. Glühende Feuerbälle schossen über den Kampfplatz, senkte die Klamotten des ein oder anderen Gegners an. Andere Elementare schwebten genau wie ich in der Luft, andere wurden wild umher geschleudert. Und wieder andere verließen sich lieber auf ihre Fäuste, anstatt auf ihr Element.
Plötzlich schwebte ich nicht mehr in der Luft, sondern fiel. Nun konnte ich mir einen erschrockenen Schrei nicht verkneifen. Rasend schnell kam der Boden näher und schmerzhaft landete ich. Qualvoll stöhnte ich auf und Tränen schossen mir in die Augen. Dort, wo ich gelandet war, schoss ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Aiden grinste. »Schon genug?«, höhnte er. Langsam und unter Schmerzen rappelte ich mich auf. Meine linke Seite stach nach wie vor fürchterlich. Doch Aiden schien das zu genießen.
Die Angst, die ich zuvor vor Aiden verspürt hatte, war nahezu komplett verschwunden. Stattdessen hatte sie Platz für Wut gelassen. Aiden war zu weit gegangen. Worte waren schmerzhaft, ja. Aber jetzt hatte er tatsächlich körperliche Gewalt angewendet. Sofern man den Einsatz eines Elements als 'körperliche Gewalt' bezeichnen konnte. Natürlich wusste ich, dass das hier das Kampftraining war und der Coach erwartete, dass wir einander verletzten, doch das zwischen Aiden und mir war etwas Persönlichen.
»War das schon alles?«, brummte ich und meine Augen trafen seine.
»Du kannst gerne mehr haben!«, zischte Aiden und sofort packte mich ein eisiger Wind, zerrte an meinen Haaren, und riss mich wieder hinaus. Erbarmungslos wurde ich hin und her gewirbelt. Aufgrund des eisigen, wilden Windes war ich gezwungen, meine Augen zu schließen. Dennoch hatte ich ihn noch gesehen. Der Schwarzhaarige, der mir so erschreckend ähnlich sah, stand im Schatten der Bäume, war kaum zu sehen und betrachtete Aiden und mich. Dieser Kerl war unheimlich. Irgendwie hielt er sich immer irgendwo in meiner Nähe auf. Nie war er allzu weit entfernt.
Ich konzentrierte mich wieder auf Aiden. Mit Will konnte ich mich später noch beschäftigen. Jetzt war Aiden das größere Problem. Und ich wollte nicht so verdammt hilflos sein. Irgendetwas musste ich doch tun können! Urplötzlich dachte ich daran, wie ich immer abgeschrieben hatte. Dass ich kein Elementar war, war ausgeschlossen. Also musste ich dieser Kraft, so mickrig und wertlos sie auch sein musste, doch irgendetwas abverlangen können! Zu irgendetwas musste sie doch gut sein. Und vielleicht reichte es aus, um Aiden endlich zu zeigen, dass ich sehr wohl auf diese Schule gehörte!
Konzentriert schloss ich meine Augen. Hier, während ich in der Luft herumgewirbelt wurde, fiel es mir deutlich schwerer, als noch vor wenigen Tagen im Klassenzimmer. Damals hatte ich nicht großartig darüber nachgedacht. Doch jetzt spürte ich, wie sich mein Geist nach Aiden ausstreckte. Und zum aller ersten Mal bemerkte ich das dunkle, violette Flimmern. Das Flimmern, das ich bereits bei Will wahrgenommen hatte.
Mit einem Mal konnte durch Aidens Augen sehen. Erblickte mich, die wie eine leblose Puppe, wie eine von einem Dämon Besessene, durch die Luft gerissen wurde. Spürte Aiden auch, dass er nicht mehr der Einzige war, der mit seinen Augen sah? Mehr konnte ich nämlich nicht tun.
Verzweifelt sah ich mir selbst zu, wie ich langsam das Bewusstsein verlor. Wie lange würde es noch dauern, bis ich mir den Nacken brechen würde? Irgendetwas musste ich tun! Irgendetwas musste ich doch noch können! Meine Verzweiflung mischte sich mit Wut. Und kombiniert war dies eine kraftvolle Emotion. Meine Todesangst tat das Restliche.
Irgendetwas in mir veränderte sich. Etwas, das tief in mir drin weggesperrt gewesen war, von dem ich noch nicht einmal wusste, das es in mir war, bekam einen Riss. Und durch eben diesen Riss trat eine Kraft, die ich nicht gekannt hatte.
Plötzlich konnte ich nicht bloß durch seine Augen blicken, sondern spürte auch seinen Körper, als wäre er meiner. Fühlte jede seiner Bewegungen, als hätte ich sie selbst ausgeführt.
Mit neuem Mut befahl ich Aidens Körper, mich zurück auf dem Boden abzusetzen. Er tat es. Sanft kam ich auf dem Boden auf. Erleichtert öffnete ich meine Augen und atmete aus. Zum Glück war mir nichts weiter passiert. Der Schmerz, den der Sturz verursacht hatte, war bloß noch ein leises Pochen.
Ängstlich starrte Aiden mich an. »Was ...?«, murmelte er. »Was mache ich da?« Erneut versuchte er, mich wieder in die Luft zu befördern, doch ich hatte seinen Körper fest im Griff. Noch einmal würde er das nicht mit mir tun können. Nun, mit mehr Selbstbewusstsein, kontrollierte ich seinen Körper. Ohne eine Vorwarnung warf Aiden sich, mit dem Gesicht voran, auf den Boden. Erschrocken schrie er auf.
»Was passiert hier?«, rief er. Die Angst hatte ihn nun fest im Griff. Er versuchte, sich wieder aufzurappeln, doch ich ließ ihn nicht. Immer wieder rang mein Geist ihn zu Boden.
»Aiden, was tust du da?«, rief nun auch der Coach, der bemerkt hatte, dass etwas mit Aiden nicht stimmte. Ein paar Neugierige hielten in ihrem Kampf inne und spähten zu uns. Aiden hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Für alle anderen wirkte es so, als kämpfe er mit sich selbst.
»Was ist denn mit dem los?«, vernahm ich die erstaunte Stimme eines Feuerelementars.
Panisch lag Aiden mit von sich gestreckten Armen am Boden. Seine Panik wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Und ich? Ich war zufrieden. Es fühlte sich befreiend an. Endlich war es nicht mehr ich, die fertig gemacht wurde. Endlich hatte ich ihm etwas entgegenzusetzen. Außerdem war das hier der Beweis, dass ich sehr wohl ein Elementar war. Dass ich sehr wohl das Recht hatte, hier zu sein.
»Jetzt steh schon auf!«, rief der Coach verärgert. »Was soll das?«
»I-Ich kann nicht!«, rief Aiden. Die Angst in seiner Stimme war unüberhörbar. Ich experimentierte ein bisschen mehr. Urplötzlich begann Aiden zu lachen. Verstört musterte der Coach ihn. Dann ließ ich den Luftelementar aufstehen. Mit ruhigen Schritten ging ich auf ihn zu. Noch immer lachte er, auch wenn seine Augen Bände sprachen. Mit einem einzigen Fausthieb schlug ich ihn zu Boden. Währenddessen ließ ich ihn weiter lachen. Ich genoss die Genugtuung, die das Ganze mit sich brachte.
Mittlerweile starrten uns alle an. Alarmiert kam der Coach auf uns zu gerannt. »Was hast du mit ihm gemacht, Mädchen?« Alle starrten uns an. Der Coach kam alarmiert auf uns zu gerannt. Er wirkte leicht panisch. Nein! Er kam mir jetzt nicht dazwischen! Das hier war meine Sache! Und er würde mir das nicht nehmen! Ich wollte das zu Ende bringen!
Dieses Etwas, das diese Kräfte, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie besaß, zurückgehalten hatte, bekam einen weiteren Riss. Dieser wurde immer größer. Mit einem Mal wurde mir die Kraft bewusst, über die ich verfügen konnte. Von der ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie besaß.
Dunkler, schwarzer Neben schien von überall aus mir heraus zu strömen. Es war, als hätte ich eine innere Blockade durchbrochen. Eine Blockade, die nicht zu mir gehörte. Der Coach, wie auch alle anderen, erblassten. Der schwarze Nebel verschluckte das ganze Feld. Alles schien wie in Zeitlupe zu vergehen. Diese Macht fühlte sich wunderbar an. Doch irgendetwas an ihr fühlte sich falsch an. Fremd.
Doch sie war meine. Schließlich konnte ich sie kontrollieren. Grinsend breitete ich meine Arme aus. Nie wieder würde ich hilflos sein. Nie wieder würde sich jemand mit mir anlegen. Diese Macht war wunderbar!
Ich hörte viele schmerzerfüllte Schreie. Alle schrien vor qualvoll auf. Schreie, die einem einen kalten Schauer über den Rücken jagten, erfüllten den Platz. Die undurchdringbare Schwärze ließ das Kampffeld wie eine Folterkammer der Hölle wirken.
Aiden schrie. Alle schrien.
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