Kapitel 40 - Der Plan
Liam schaute uns noch immer schockiert an. Was hatte er denn plötzlich auf einmal?
"Hey, alles okay?", fragte ich ihn und musterte ihn skeptisch. Liam presste seine Lippen aufeinander, sodass sie zu einer schmalen Linie wurden. Dabei kniff er seine dunklen Augen leicht zusammen und wirkte dabei so, als würde er mit sich kämpfen.
"Ach komm, der ist doch bloß noch nie in einer Großstadtmetropole gewesen!", meinte Desdemona einfühlsam wie eh und je. Dafür bekam sie von mir einen Stoß in die Rippen. Entgeistert starrte sie mich an. "Was soll das denn bitte jetzt?"
Warnend sah ich sie an und wandte mich wieder Liam zu. Ich konnte noch immer Desdemonas fragendenden Blick in meinem Rücken spüren.
Doch Liam schien sich wieder gefasst zu haben. "Alles gut.", sagte er und wank ab. "Es ist nichts." Er grinste mich an, doch ich konnte sehen, dass es nicht echt war. Genauso wie sein restliches Verhalten. Seine Miene war seine Maske.
Ich wusste nicht, was in London vorgefallen war, weshalb Liam scheinbar nicht dorthin zurück wollte, aber es musste etwas Bedeutsames sein. Nun schien auch Desdemona etwas zu bemerken, denn sie sah Liam misstrauisch an.
"Ach komm schon, es ist nicht alles gut. Und es ist nicht Nichts." Verächtlich schnaubte sie. "Also mach uns nichts vor, Liam." Ich hätte ihr dafür eine scheuern können. Sie war so einfühlsam wie ein Stein. Ein dicker, harter Stein. Liam hielt seine Maske dennoch vorbildlich gut.
Ich wandte mich an Desdemona. Als sie meinen Blick bemerkte, zog sie nur eine Augenbraue hoch. "Was?"
Ich stemmte die Hände in die Hüften. "Manchmal bist du echt ein Stein!"
Noch verwirrter sah sie mich an. "Wie bitte? Wie kommst du denn jetzt darauf? Und weshalb bin ich ein Stein?" Sie seufzte und ging voraus. Wahrscheinlich hatte sie keine Lust darauf. Liam und ich warfen uns kurz einen Blick zu.
"Ein Stein? Dein Ernst?", fragte er vorwurfsvoll. Ich zuckte nur grinsend mit den Schultern. Er lachte kurz und schüttelte seinen Kopf. "Du bist merkwürdig, Lune." Liam ließ mich stehen und folgte Desdemona. Ich lief hinterher. Hoffentlich würden die beiden sich wenigstens nicht zerfetzen. Schnell holte ich die beiden auf. Schweigend liefen wir nebeneinander her.
"Ihr wisst schon, dass es bis London sehr lange braucht, oder?", fragte Desdemona. Schweigend nickten Liam und ich.
Es würde eigentlich Ewigkeiten dauern. Wir befanden uns im Norden Englands und London im Süden. Wir befanden uns irgendwo in der Umgebung von Hexham, einer kleinen Stadt im Norden Englands. Im Gegensatz zu London war Hexham nichts.
Die anfangs vorhandene Motivation war verschwunden. Ersetzt worden war sie durch Ungeduld und dem ziemlichen Gegenteil von dem, was man "Motivation" nannte.
"Müssen wir das alles laufen?" Desdemona ließ sich demonstrierend auf den Boden fallen und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. "Das schaffen wir niemals! Vor allem sollten wir doch schnell bei Ariadnes Eltern sein, um sie vor sich selbst zu retten! Und wer weiß, wo sich ihre Geschwister befinden?"
Liam seufzte auf. "Leider muss ich ihr zustimmen." Er sagte es so, als würde er ihr nicht gerne zustimmen. Vor allem, da Desdemona jetzt auch noch überheblich grinste. Konnten die beiden nicht einmal aufhören, sich gegenseitig zu ärgern? Doch Desdemona hatte wirklich recht.
"Und was schlagt ihr vor?", fragte ich. Abwartend sah ich die beiden an. Wenn die beiden mir jetzt eine großartige Idee lieferten, die uns schnell an unser Ziel führen würde, würde ich ... Ja. Was würde ich? Mich vielleicht bedanken? Nein. Na gut. Vielleicht doch. Oder?
Liam und MacKenzie sahen sich ratlos an. Ich massierte meine Schläfe. Sollte ich vielleicht ... ? Ja. Mir blieb keine andere Wahl. "Leute, ich habe eine Idee." Hoffentlich bereute ich das später nicht!
Sofort landeten ihre Blicke aufmerksam auf mir.
"Du hast eine Idee? Na dann schieß los!" Liam verschränkte skeptisch und abwartend seine Arme.
Grinsend sah Desdemona mich an. "Ich wusste es! Natürlich hast du eine Idee!"
Liam zog seine Augenbraue hoch und lachte.
"Was gibt es da zu lachen?!", fauchte Desdemona, doch Liam lachte einfach weiter.
"Ich glaube, du überschätzt sie, Desdemona!" Provozierend grinste er. Die beiden konnten es einfach nicht lassen. Desdemona sah so aus, als würde sie Liam gleich die Augen auskratzen wollen.
"Nenn mich nicht so!", fauchte sie aggressiv und bebte. Sie war wirklich drauf und dran, auf ihn los zu gehen. Noch immer verstand ich nicht, weshalb sie so auf ihren Namen reagierte. Doch auch sie musste einen Grund dafür haben. Beruhigend legte ich ihr meine Hand auf die Schulte.
"Es reicht. Komm wieder runter. Wir haben andere Probleme." Widerwillig hörte sie auf mich und schüttelte meine Hand von ihrer Schulter.
An Liam gewandt sagte sie: "Ich überschätze Lune ganz und gar nicht! Warte nur ab!" Liam verdrehte bloß die Augen über Desdemonas Worte.
"Na dann, Lune, weihe uns in deinen brilliant geschmiedeten Plan ein!" Liam grinste mich an. Seine Stimme triefte vor Ironie.
Ich ignorierte seinen Satz einfach. "Wo ist der nächste Flughafen?"
Bei beiden weiteten sich die Augen und sie öffnete ihren Mund.
"Ist das dein Ernst?" Desdemona konnte mich nur anstarren. "Ein Flughafen? Wir werden einfach so da hin fliegen?"
Liam sah mich nicht anders an, als Desdemona es tat. "Wie hast du dir das denn vorgestellt? Wir platzen da rein, ohne Geld, ohne Flugticket, ohne Personalausweis und sagen: 'Hey, könnten wir bitte mitfliegen, ist wichtig!' ?! Das kann doch nicht dein Ernst sein!" Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. "So einfach ist das nicht, Lune! Wir können da nicht einfach rein marschieren und mitfliegen!"
Ich jedoch grinste zu ihrer großen Verwunderung nur. "Vertraut mir. Genau so machen wir es. Ich mach das schon. Denkt nicht zu viel darüber nach."
"Lune ...", versuchte Desdemona mich zur Vernunft zu bringen, doch da hatte sie kein Glück.
"Vertrau mir einfach!", unterbrach ich sie und sah ihr in die Augen.
Sie schien mit sich zu kämpfen, presste ihre Lippen fest aufeinander. Ich bemerkte, wie Liam ihre Antwort gespannt abwartete. "Okay.", platzte es da aus ihr heraus. "Ich vertraue dir." Ich lächelte, doch sofort wurde ihr Gesicht ernst. "Wehe es funktioniert nicht!", drohte sie.
Ich lachte. "Es wird funktionieren."
Liam grummelte irgendetwas Unverständliches. Doch letzten Endes sagte er nichts mehr dagegen. Nur wie bescheuert dieser Plan sei und dass wir niemals damit durchkommen würden. Doch sie beide wussten nicht, zu was ich im Stande war. Obwohl Desdemona davon schon eher eine Ahnung hatte, als Liam.
"Newcastle.", sagte Liam da. "Newcastle Airport. Aber es braucht von hier trotzdem seine Zeit bis nach Newcastle."
Urplötzlich war mein gutes Gefühl verschwunden, das ich gehabt hatte mit der Flugzeug-Idee. In der Umgebung von Newcastle lag das Elementary Internat. In dieser Umgebung würden wohl die meisten Elementary nach mir suchen. Es wäre ein Risiko, nach Newcastle zu gehen. Doch hatten wir eine andere Wahl? Ich schätzte, dass sich niemand von uns wirklich hier auskannte und wusste, wo der nächste Flughafen war. Da blieb nur der eine.
"Toll. Und wie kommen wir dahin?" Desdemona sah Liam herausfordernd an. Dieser seufzte nur.
"Du gibst dich mit nichts zufrieden, was?", brummte Liam und Desdemona grinste nur böse.
"Lasst mich einfach machen, okay? Aber hört endlich damit auf! Wenn das die ganze Zeit so weiter geht, sorge ich dafür, dass ihr beide all das vergesst und zurück im Darkstone Castle seid, wo ihr euch weiter gegenseitig auf die Nerven gehen könnt!", rief ich dazwischen. Sofort lagen die Blicke der Beiden auf mir. Ich hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Gut so.
"Wie willst du uns bitte all das vergessen lassen? Du kannst vergessen, dass wir gehen und du dich allein in Gefahr begibst! Da draußen sind überall Jäger!" Liam sah mich finster an. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Er hatte keine Ahnung von meinen Fähigkeiten. Und das war eigentlich auch besser so. Doch mir war bewusst, dass ich nicht ewig alles vor ihm verbergen kann. Vor allem nicht, wenn er mit uns kommt.
Mir fiel Desdemonas Blick auf, der mich abzuschätzen versuchte. Sie nahm meine Worte bei weitem ernster als Liam es tat.
"Wir müssen zur Straße." Ich hatte wieder vor, irgendein Auto anzuhalten.
"Wenn du willst, dass uns irgendwer nach Newcastle mitnimmt, kannst du lange warten.", meinte Liam. "Als ob irgendwer in diese Richtung fährt und bereit ist, drei fremde Personen mitzunehmen!"
"Sei einfach leise!", motzte Desdemona. "Ich denke, Lune weiß, was sie da tut!"
Liam sah so aus, als wollte er etwas erwidern, doch als er meinen finsteren Blick bemerkte, ließ er es sein. Wenigstens nahm er meine Worte halbwegs ernst.
Schweigend liefen wir wieder los. Eine stille Spannung schien zwischen uns zu stehen, was wohl damit zusammenhing, dass wir kaum etwas über unsere Begleiter wussten. Desdemona kannte meine Geschichte. Und sie kannte Liam. Aber ich bezweifelte, dass sie ihn richtig kannte. Ihre Bekanntschaft bestand nur daraus, sich gegenseitig zu ärgern und zu nerven.
Ich kannte Desdemona nicht sehr lange. Doch ich wusste wie sie tickte und dass sie ihre Tante aus irgendwelchen Gründen hasste. Doch über Liam wusste ich nichts. Außer, dass er Desdemona gerne ärgerte und sie bei ihrem Namen nannte. Zudem musste er irgendetwas in London erlebt haben und er wollte mein Geheimnis herausfinden.
Doch Liam wusste eigentlich überhaupt nichts. Er konnte Desdemona nicht ausstehen und sie ihn auch nicht. Doch über mich wusste er nichts. Gar nichts.
Bei solchen Bedingungen war es wirklich schwer, Vertrauen aufzubauen.
Der Wald duftete stark so, wie ein Wald nun einmal roch. Frisch und gut. Ich mochte diesen Geruch. Zudem mochte ich die Stille in Wäldern und den Schutz, die sie brachten. Der Wind rauschte durch die dichten, dunklen Baumkronen und der Boden unter unseren Füßen raschelte nur so vor Laub und Geäst.
Nach einer Weile waren die Geräusche der Straße zu hören, die in nicht all zu weiter Ferne vor uns lag. Wir beschleunigten und traten aus der Dunkelheit des Waldes hinaus auf die Straße. Sie war nicht sehr dicht befahren. Nur vereinzelt rauschte ein Auto an uns vorbei.
"Und jetzt? Hier ist kein Auto.", sagte Liam. Er zweifelte immer noch an unserem Plan. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Wirklich nicht.
"Warte ab.", sagte ich bloß und ich bemerkte, wie Desdemona eine gemeine Antwort für Liam herunter schluckte. Dafür erhielt sie meinen Respekt. Wenigstens attackierten sie sich jetzt nicht so mit Hass, wie in der Schule. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag dort, wo Liam Desdemona beinahe mit seinen Schatten wirklich verletzt hatte.
Genau in diesem Moment ertönte das Geräusch eines heranfahrenden Autos. "Geht von der Straße weg!", befahl ich und schritt mitten auf die Straße.
"Was soll das?! Komm sofort von der Straße runter!", schrie Liam mich an und wollte mich wegziehen, doch Desdemona zog ihn zurück. Liam versuchte, sie von sich abzuschütteln, doch sie war stärker, als sie aussah. Aber wahrscheinlich hatte sie gerade Hilfe von ihren Schatten.
Das Auto näherte sich, kam schnell auf mich zu.
"LUNE!", brüllte Liam. "BIST DU LEBENSMÜDE??!"
Ich beachtete ihn nicht. Mein Blick war fest auf das Auto gerichtet. Es glänzte in einem matte schwarz. Am Steuer konnte ich eine Frau jungen Alters ausmachen. Sie bemerkte meine Gestalt mitten auf de Straße und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Ruckartig trat sie auf die Bremse und das Auto kam mit quietschenden Reifen genau vor mir zum Stehen. Ich grinste.
Ruhig ging ich auf die Fahrertür zu und öffnete. Die Frau starrte mich an. "Kannst du mir mal sagen, was das sollte?! Ich hätte dich umfahren können! Achtet die Jugend denn auf gar nichts mehr?! Du kannst nicht einfach so vor ein fahrendes Auto laufen!"
Ich blickte in ihre Augen. Sie wollte etwas sagen, doch musste entsetzt feststellen, dass sie nichts mehr sagen konnte. Ich nahm meine Augen nicht von den Ihren. Ich bemerkte, wie sie hektisch wurde, doch sie konnte sich auch nicht mehr bewegen. Stocksteif saß sie in ihrem Auto, unfähig auch nur irgendetwas zu tun. Ihre Hektik bemerkte man allein an ihrem schnellen, unregelmäßigem Atem und an der Ausstrahlung ihrer Augen.
Meine kalte Hand umfasste ihren Kiefer. Eine Gänsehaut huschte über ihre Haut. Ängstlich sah sie mich an. Ich spürte Desdemonas und Liams Blicke auf mir. Doch ich versuchte zu sie zu ignorieren. Klar, Liam würde mich als ein Monster sehen. Vielleicht auch Desdemona, aber vielleicht auch nicht. Immerhin wusste sie, wer ich war.
Noch immer blickte ich der Frau fest in die Augen und ließen ich ließ sie nicht frei. Urplötzlich begannen meine beiden Augen wie die Sonne persönlich zu glühen. Ich spürte Liams Entsetzen und Desdemonas dunkle Faszination.
Die Frau atmete immer panischer. Sie wollte fliehen, schreien, doch sie war zu nichts in der Lage. Eigentlich sollte ich ja Mitleid mit ihr haben. Hatte ich aber nicht. War ich deshalb ein Monster? Auf einmal wurden die Augen der Frau leer. Gut so. Dann konnte ich anfangen. Sie wirkte vollkommen leer, leblos. Sie war unter meiner Kontrolle bloß noch eine Marionette. Bis ich sie gehen lassen würde. Sie würde sich an nichts erinnern.
Laut sprach ich die Worte aus, die ich eigentlich auch in Gedanken hätte formen können.
"Du wirst uns zum Newcastle Airport bringen. So schnell wie möglich. Wenn wir dein Auto verlassen haben, wirst du dorthin fahren, wo du eigentlich hin wolltest und dich an unsere Begegnung nicht mehr erinnern. Sollte jemand dich fragen, wo du so lange gewesen bist, sagst du, du müsstest etwas Wichtiges erledigen." Stumm blickten ihre leeren Augen in Meine.
Ich ließ sie aus meinem Blick frei und wandte mich an Liam und Desdemona. "Worauf wartet ihr? Steigt ein."
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