Kapitel 4 - Neuanfänge ✅
Zerknirscht schwieg sie. Dass auch meine Mutter keine Ahnung hatte, beunruhigte mich. War ich überhaupt Elementar genug, um im Elementar Internat unterrichtet zu werden? Laut Hanne hätten sich meine Fähigkeiten längst zeigen müssen. Und bisher hatte sich nur meine Abschreibefähigkeit gezeigt. War es das? War das meine übernatürliche Kraft? Wahnsinn.
»Das wirst du schon noch herausfinden.«, versuchte Hanne mich zu beruhigen. »Du bist dort nicht allein. Dort gibt es genug qualifizierte Leute, die dir helfen werden.« Missmutig nickte ich. Hoffentlich hatte sie recht. Auch, wenn ich mir da ganz und gar nicht sicher war. Es konnte gut möglich sein, dass es einfach alles so bleiben würde wie jetzt. Dann würde mir der Unterricht reichlich wenig bringen. Gab es überhaupt hauptsächlich Elementunterricht? Was für andere Fächer würde es geben? Ich wollte nicht überall als Versagerin dastehen, obwohl ich nicht einmal wirklich was über die Elementare wusste.
»Ich bin mir ganz sicher.«, meinte meine Mutter zuversichtlich. Aber auch sie war sich nicht sicher. Mir entging das Zögern nicht. Und das zog mich nur noch mehr herunter. Für einen möglichen Neuanfang brachte ich erstaunlich wenig mit.
Mit einem leisen Rascheln reichte mir meine Adoptivmutter den Brief des Internats. Schwermütig nahm ich ihn entgegen. Irgendetwas musste es mir bringen, dorthin zu gehen. Ganz bestimmt. Hoffte ich.
»Du wirst lernen, mit deinen Fähigkeiten umzugehen.«, wiederholte Hanne, als würde sie es sich selbst einreden müssen. Auf einmal wünschte ich mir meine richtige Mutter herbei. Obwohl ich sie nicht wirklich vermisst hatte, nur damals, als ich noch im Kindergarten war und am Anfang der Grundschule. Gegen Ende des Kindergartens hatte ich langsam verstanden, dass Hanne nicht das war, was die anderen Kinder unter einer Mutter verstanden. Außerdem hatte ich die anderen Kinder immer zusammen mit ihren Eltern gesehen. Zu diesem Zeitpunkt entstand in mir der Wunsch, meine leiblichen Eltern kennen zu wollen. Und in der Grundschule verschwand er wieder, als ich begriff, dass Hanne alles war, was ich brauchte. Es war ewig her, dass ich meine leiblichen Eltern kennen wollte. Doch nun war dieser Wunsch zurückgekehrt. Und sei es nur, um zu verstehen, wer ich war. Warum das alles passiert war, was nun mein Leben auf den Kopf gestellt hatte.
»Werde ich wirklich auf das Internat gehen, obwohl ich kaum Fähigkeiten habe?«, fragte ich leise nach. Noch immer war es so unwirklich. Obwohl ich zweifelte, was meine Anwesenheit im Internat anging, hoffte ich doch auf eine Chance.
Seufzend strich Hanne sich eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht. »Du wirst auf diese Schule gehen und deine Fähigkeiten kennenlernen.«, sagte Hanne sanft. »Wärst du kein Elementar, hätte man dir den Brief nicht geschickt. Mach dir also darum keine Sorgen. Das wird schon alles werden.« Trotz ihrer beruhigenden Worte plagten mich weiterhin die Zweifel. Was, wenn das nur ein Fehler war? Wenn man mich aufgrund meiner Eltern auf das Internat eingeladen hatte? Würde man mich zurückschicken, wenn man herausfand, dass ich kaum was konnte? Daran wollte ich gar nicht denken.
»Woher wollen die wissen, dass ich ein Elementar bin?«, fragte ich zaghaft. »Können sie das mit Sicherheit sagen?« Ich konnte mir kaum vorstellen, dass man jedem Neugeborenen, mit Elementaren als Eltern, ein Gerät unter die Nase halten würde, das piepte, wenn ein Elementar gefunden wurde. Wusste man überhaupt seit meiner Geburt, dass ich ein Elementar sein sollte? Oder spürten sie die vermeintlichen Schüler nachträglich auf? Wie lief das ab?
Tief atmete ich einmal ein und aus. Das Internat war meine Möglichkeit, an Antworten zu kommen. Nicht nur, was die Hintergrundprozesse des Findens von Schülern anging. Sondern auch, was mich anging. Und womöglich konnte man mir sagen, wer meine Eltern waren. Diese wiederum würden mir helfen können, mich selbst zu verstehen.
»Jedes Jahr suchen sie nach jungen Elementaren im Alter von sechzehn Jahren.«, sagte Hanne. »Sie spüren die auf, die nicht bereits durch ihre Eltern seit ihrer Geburt vorgemerkt wurden.« Wirklich helfen tat ihre Antwort nicht. Noch immer wusste ich nicht genau, wie sicher man sich sein konnte, dass ich ein Elementar war.
»Im Internat wird man dann drei Jahre lang ausgebildet. Nicht nur in der Kontrolle deines Elements. Auch in deinem Wissen über die Elementare. Außerdem ist das Internat der sicherste Ort für Elementare, glaube ich.«, erzählte meine Mutter und schien in ihren Gedanken gerade weit weg. Befand sie sich wieder in ihrer Schulzeit? Bestimmt war sie auch auf das Elementar Internat gegangen. Obwohl ich mir einen deutlich besseren Namen dafür gewünscht hätte. Es konnte doch kaum das einzige Internat dieser Art sein. Wie sollte man die bitte alle unterscheiden? Oder gab es tatsächlich nur dieses eine, weshalb man sich keinen Namen hatte ausdenken müssen?
»Manche Leute verlassen die Schule auch nach ihrem Abschluss nicht.«, fuhr Hanne fort. »Sie bleiben dort als Aushilfe oder werden zum Sanitäter ausgebildet. Es gibt viele Möglichkeiten.« Ich verzog mein Gesicht. Unvorstellbar, dass manche Schüler für immer an ihrer Schule blieben. Taten sie das der Sicherheit wegen? Aber wie gefährlich musste es dann außerhalb sein, dass man sich dazu entschied, das Internat nicht zu verlassen? Das sorgte bei mir für ein mulmiges Gefühl.
An sich wirkte das Internat recht positiv. Vielleicht gefiel es den ehemaligen Schüler dort auch einfach so gut, dass sie blieben. Es musste nicht unbedingt etwas mit der Sicherheit zu tun haben. Außerdem lernte man dort bestimmt interessantere Sachen als Mathe.
»Noch etwas, das ich wissen sollte?«, fragte ich nach. Schließlich wollte ich nicht ins kalte Wasser geschmissen werden.
Meine Mutter schüttelte ihren Kopf. »Nein. Der Rest wird dir und den anderen dort erklärt.«, sagte sie. Langsam nickte ich. Bestimmt waren dort auch andere, die nicht so viel über die Elementare wussten. Ich konnte einfach nicht die Einzige sein.
Kurz hielt ich inne. »Moment! Eine Frage hätte ich noch.« Erwartungsvoll sah Hanne mich an. »Wo genau liegt das Elementar Internat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwo ist, wo es jeder sehen kann. Immerhin will man dort bestimmt keine unwissenden Menschen haben.«
Zustimmend nickte meine Mutter. »Richtig.«, sagte sie. »Das Internat befindet sich in einem gewaltigen Wald. Bei dem handelt es sich um ein Privatgrundstück. Zum einen darf es niemand Unbefugtes betreten und zum anderen würde man erst einmal ewig herum irren und das Gebäude gar nicht erst finden. Dennoch kann man nicht komplett verhindern, dass gewöhnliche Menschen es finden.«
»Ist es schon einmal vorgekommen?«
»Aber sicher.«, meinte Hanne. »Wie willst du das verhindern? Wir sind Elementare, keine Hexen und Zauberer. Auch unsere Fähigkeiten sind begrenzt. Was genau die Schulleitung unternimmt, wenn ein Unbefugter die Schule entdeckt und dabei auch noch sieht, wie ein Schüler mit seinem Element arbeitet, weiß ich nicht. Aber ich bin sicher, dass man dafür eine Lösung hat.«
Nachdenklich fuhr ich mir mit der Hand über den Nacken. Das klang einleuchtend. Trotzdem schüchterte es mich ein zu hören, dass sich das alles auf einem gewaltigen Privatgrundstück befinden sollte. Wer finanzierte das?
»Und wo genau befindet sich das Internat?«, wollte ich wissen.
Meine Adoptivmutter lachte. »Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Der genaue Standort wurde nie genau genannt. Zum Teil deshalb, um die Sicherheit der Schüler zu gewährleisten.« Skeptisch rieb ich mir das Kinn. Wenn man doch wusste, dass sich die Schule in einem riesigen Wald befand, der auch noch jemandem gehörte, musste man doch irgendwie herausfinden können, wo sie sich befand. Aber okay. Das wollte ich jetzt nicht mit Hanne diskutieren.
»Hast du sonst noch Fragen?«
»Im Moment nicht.«, sagte ich nach kurzem Überlegen. Sollten mir noch Fragen einfallen, würde sie es wissen.
»Gut. Dann gehe ich ins Wohnzimmer.«, informierte Hanne mich. »Sag mir Bescheid, wenn du noch etwas wissen möchtest.« Sie strich mir noch einmal über das Haar, ehe sie aufstand. Bevor sie mein Zimmer verließ, schenkte sie mir noch ein aufmunterndes Lächeln. »Mach dir keine Sorgen.«
Knapp nickte ich. »Ach ja, wenn du zu Mittag essen willst, kannst du dir etwas warm machen. Im Kühlschrank stehen noch die Reste von vorgestern. Die kannst du noch essen.«, ließ meine Mutter mich wissen.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Vorgestern gab es doch ... Oh nein, bitte nicht! Gequält stöhnte ich auf.
»Falls du vergessen hast, was es gab: Es gab Spiegeleier mit Jogurt.« Sie grinste unverschämt. Widerwillig akzeptierte ich mein Schicksal, während ich gedanklich verzweifelt nach einer Alternative suchte. Wir hatten bestimmt noch Nudeln. Hatte Hanne nicht vorgestern etwas von Spagetti erwähnt? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie die gestern alleine aufgegessen hatte.
Hanne schloss hinter sich die Tür und das Knarzen der Treppen signalisierte mir, dass sie sich auf dem Weg nach unten befand. Stumm blickte ich auf die Einladung. Ich konnte nur hoffen, dass alles gut ging. Es war schwer, neu anzufangen. Doch ich würde nicht die Einzige sein. Alle anderen Schüler aus meinem Jahrgang würden das Selbe durchmachen. Bestimmt kannten sich auch noch nicht alle. Dann wäre es für mich leichter, Freunde zu finden, als wenn sich bereits alle kannten und Gruppen gebildet hatten. In solche gelangte man nur schwer hinein.
Um auf andere Gedanken zu kommen stand ich auf und lief zum Fenster. Besorgt blickte ich hinaus. Bäume, Vorgärten, Zäune, damit auch ja niemand auf das eigene Grundstück ging. Wolken, die vorbeizogen. Das leise Pfeifen des Windes, der durch die Baumwipfel wehte. Das alles wirkte so normal. Wie immer. Als wäre nichts anders. Die Welt war noch immer die Selbe. Nur meine Sichtweise hatte sich verändert. Von jetzt auf gleich hatte sich für mich alles geändert. Man hatte mich angegriffen und ich wäre fast gestorben. Ich hatte gesehen, wie ein Junge Feuer heraufbeschwor. Ich hatte diesen Brief bekommen, in dem stand, dass ich kein gewöhnlicher Mensch war, dass ich auf einem Internat lernen sollte. Lernen sollte, meine Fähigkeit, von der ich nicht einmal wusste, welchem Element sie angehörte und ob in mir überhaupt etwas existierte, das man als eine Fähigkeit betiteln konnte, zu nutzen und zu kontrollieren.
Das Bild, welches mir das Fenster bot, wirkte mir eher nun wie eine Lüge. Eine Illusion. Eine Schönstellung der Welt. Die Wahrheit wurde verborgen.
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