Kapitel 24 - Als der Wald verstummte ✅
»Mika.«, ertönte eine leise Stimme an meinem Ohr. »Hey, wach auf.« Grummelnd öffnete ich meine Augen. Wer wagte es, mich zu wecken? Ich wollte doch einfach nur schlafen. War das zu viel verlangt? Nach gestern war ich ohnehin fix und fertig.
Vor mir erblickte ich meinen Bruder. »Morgen, Schlafmütze.«, sagte er grinsend, als er sah, dass ich wach war.
»Morgen.«, brummte ich und drehte mich auf die andere Seite, während ich mir das Kissen ins Gesicht drückte, damit es nicht so hell war. Von Will vernahm ich ein leises Lachen. Musste er mich so quälen?
»Na komm schon.«, sagte er.
»Nein.«, murmelte ich.
»Mika.«, sagte er in einem merkwürdigem Singsang, der so klang, als wäre Will unter die Psychopathen gegangen.
»Geh zum Arzt.«, grummelte ich. Nach der Tortur gestern hätte er mich ruhig einfach schlafen lassen können.
Will stutzte. »Was?«
Trotz meiner schlechten Laune darüber, dass er mich hatte wecken müssen, stahl sich ein Grinsen stahl meine Lippen.
»Mi-kaa.«, sang mein Bruder wieder und lachte.
»Psychopath ...«, brummte ich. »Ja, ja, ich komme gleich. Aber mach das nie wieder.«
»Gu-h-ut.«, machte Will und ich hörte meine Zimmertür zuschlagen. Ich setzte mich auf und starrte die Tür an. Sollte ich jetzt Angst vor Will haben? Das war wirklich unheimlich. Ich schüttelte über Will und auch über mich selbst den Kopf. Dann verließ ich widerwillig mein schönes, warmes, weiches, bezauberndes Bett. Noch immer fühlte sich mein Körper ausgelaugt an. Und bei dem Gedanken daran, dass Eric heute weitermachen wollte, wurde mir ganz anders.
Schwermütig besah ich das besten Bett der Welt, in dem ich je geschlafen hatte. Und wohl auch das letzte Mal. Denn heute würde ich meinen Plan in die Tat umsetzen. Auch wenn es mir nicht leicht fiel.
Also ging ich hinunter, dorthin, wo ich die Küche vermutete. Natürlich musste ich mich erst einmal komplett verlaufen. Irgendwann jedoch fand ich die Küche. Alle schienen anwesend. - Außer Damon. Wo war er bloß? Seltsamerweise hatte die Anwesenheit des Jägers mich gestern beruhigt. Abgesehen von Will war er das einzige bekannte Gesicht hier. Dabei sollte ich lieber beunruhigt sein. Schließlich war ich in seiner Nähe keineswegs sicher.
»Oh, guten Morgen, Mika!«, rief sofort Cecile freudig, stand auf und zog mich in eine feste Umarmung. Mein Großvater lugte über den Rand seiner Zeitung und lächelte mich an. Meine Mutter zog mich in eine kurze Umarmung, Will grinste ein wenig und mein Vater sah sehnsüchtig nach draußen. Er wollte anscheinend schon wieder mit mir trainiere. Ohne mich! Darauf konnte ich nur zu gut verzichten.
Cecile drückte mich auf einen Stuhl und schob mir eine Tasse mit Kakao zu. Sie schnitt schnell ein Brötchen auf und gab es mir. Danach stellte sie mir noch ein wenig Brotbelag hin und lächelte.
Als ich mir mein Brötchen strich schaute ich aus dem Fenster. Diese Villa war so groß und fremd. Der Park draußen dagegen fühlte sich komplett unwirklich an. Das alles hier gehörte meiner Familie. Und leider erinnerte es mich auch ein wenig an das Elementar Internat, wo auch alles groß und wohlhabend gewirkt hatte. Gedankenverloren biss ich etwas vom Brötchen ab.
»Schatz, du hast doch etwas.«, sagte Cecile und lächelte großmütterlich. Sofort lagen alle Blicke auf mir. Diese Aufmerksamkeit mochte ich nicht. Sie verursachte mir Unbehagen.
»Wenn etwas ist, kannst du es mir sagen!«, sagte Will sofort. Keine Ahnung, was er dachte, was los wäre. Aber er sah gerade so aus, als würde er sich dafür bereit machen, gegen einen Löwen zu kämpfen.
»Wo ist Damon?«, fragte ich. Alle verstummten, sagten keinen Ton mehr. Sie wandten ihre Blicke ab, weg von mir. Mein Großvater verschwand wieder hinter seiner Zeitung, Cecile sah aus dem Fenster, genau wie mein Vater. Nur meine Mutter erwiderte meinen Blick. Und Will starrten konzentriert den Toaster an, als würde er gleich Großartiges vollbringen.
Ein ungutes Gefühl kam in mir auf. Misstrauisch musterte ich jeden einzelnen von ihnen. »Wo ist Damon?«, wiederholte ich mit Nachdruck.
Der erste, der mir wieder in die Augen sah, war mein Bruder. »Er ist fort.« Diese Worte ließen mich frösteln. Nein, bitte nicht. Das konnte nicht sein. Wenn Damon fort war, bedeutete das, dass er geflohen war. Ganz sicher hatte meine Familie ihn nicht gehen lassen. Und das wiederum bedeutete, dass Damon die Jäger hier her führen würde.
Ich konnte nichts anderes tun, als ihn fassungslos anzustarren. »Was?« Mein Brötchen fiel mir aus den Händen. Niemand beachtete es. »Wo ist er?«
»Schatz, er ist gegangen. Wohin, weiß ich nicht.«, sagte meine Großmutter und legte mir fürsorglich ihre Hand auf die Schulter.
»Warum?« Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Wollte er mich außerdem nicht im Auge behalten? Ich brauchte ihn. Sollten meine Kräfte mich überwältigen und alles um mich herum zerstören, wäre er meine letzte Chance!
»Nun, wer ist schon gerne ein Gefangener?«, brummte Arthur gleichgültig. Seine Zeitung knisterte.
»Und dir ist egal, dass er weg ist?«, fragte ich ungläubig.
Arthur zuckte bloß mit den Schultern. »Er ist fort. Vermutlich ist das auch besser so. Er gehört hier nicht her.«
»Und die Jäger? Was ist mit denen? Er kann sie jetzt her führen.«
»Kann er nicht.«, ergriff Rhea das Wort. Sie wirkte zufrieden. Ich wusste nicht weshalb, aber etwas daran, wie sie das sagte, ließ mich frösteln. »Ich war in seinem Geist und habe unseren Aufenthaltsort verschleiert. Selbst, wenn er zu den Jägern zurückgeht und sie herführen möchte, wird er sich nicht mehr daran erinnern, wie er hierher kommt.«
»Hat er das nicht gemerkt, dass du in seinem Kopf herumgepfuscht hast?«, wollte ich wissen.
Irritiert sah sie mich an. »Wieso sollte er das merken?«
Eric seufzte. »Rhea, Mika macht das noch nicht lange. Sie ist noch nicht so geschickt, dass sie unbemerkt in den Kopf eines anderen eindringen kann. Schon gar nicht in den, eines Jägers.«
Augenblicklich erhellte sich ihre Miene und ihr Mund formte ein perfektes O.
»Ja, das ist richtig.«, lenkte sie nachdenklich und mit leicht gekräuselter Stirn ein. »Aber eigentlich sollte-« Sie unterbrach sie, ehe sie ihren Gedanken zu Ende führen konnte.
»Eigentlich sollte, was?«, fragte Eric mit hochgezogenen Augenbrauen. »Hast du irgendeine Information, die mir fehlt?«
Ein seichtes Lächeln legte sich auf die Lippen meiner Mutter. »Nein.«, sagte sie. Während ich sie unsicher betrachtete, musste ich an Hanne denken. Die Mutter, bei der ich aufgewachsen war. Sie war so anders als Rhea. Bei dem Gedanken an sie, wurde mein Herz ganz schwermütig. Bestimmt hatte sie schon von dem Vorfall im Internat gehört. Ganz sicher machte sie sich unglaubliche Sorgen. Ich wollte nach Hause. Außerdem schuldete ich ihr noch immer eine Erklärung.
So schön es auch war, meine leibliche Familie um mich zu haben, so handelte es sich bei ihr nicht um Hanne. Hanne war meine Mutter. Und das, obwohl ich jetzt auch Rhea hatte. Daran würde sich niemals etwas ändern.
Diese Villa, diese Familie. Das alles war die Illusion eines Leben, das ich hätte haben können, ehe es mir ohne mein Zutun sehr früh genommen worden war. Anstelle von Mika Fenrey war ich als Mika Keaton aufgewachsen.
Ich wusste, dass ich hier nicht bleiben konnte. Trotz dessen, was ich getan hatte, wollte ich nicht einsehen, dass ich mein Leben verwirkt hatte. Auf keinen Fall wollte ich auf ewig hier in der Villa eingesperrt bleiben und mich verstecken müssen. Auch, wenn ich hier in Sicherheit und bei meiner Familie war.
Es musste eine andere Möglichkeit geben. Eine andere Schule, auf die ich gehen konnte und wo mich niemand kannte. Unmöglich konnte es sein, dass das Elementar Internat die einzige Schule für Elementare war. Obwohl der Name es eigentlich so aussehen ließ. Das Elementar Internat. Das Einzige. Hoffentlich war dem nicht so. Am besten sollte ich mich so schnell wie möglich auf die Suche machen.
Schweigend aß ich weiter und musterte die Menschen um mich herum, die ich bereits in so kurzer Zeit meine Familie nannte, obwohl sie mir noch immer fremd waren.
Meine Mutter, mein Vater, meine Großeltern und mein Bruder. Noch vor kurzer Zeit hätte ich niemals geglaubt, sie alle jemals zu treffen. Und vor allem wusste ich vor Kurzem noch gar nicht, dass sie meine Familie waren.
Alles hatte mit einem Brief vom Elementar Internat begonnen. Mein ganzes Leben hatte sich verändert. Nichts war mehr, wie es einst mal war.
Ich erhob mich vom Frühstückstisch. »Ich gehe mich fertig machen.«, sagte ich. Alle nickten mir lächelnd zu und ich wusste, dass mein Vater gerade hoffte, ich würde mich fertig für ein weiteres Training machen. Es tat mir leid, ihn enttäuschen zu müssen.
Entschlossen ging ich hinauf in mein Zimmer, schnappte mir die Tasche, die ich in dem Schrank gefunden hatte und warf ein paar Kleidungsstücke aus dem Kleiderschrank hinein. Sie hatten genau meine Größe. Als hätten sie alle gewusst, dass ich eines Tages wiederkommen würde. Ich legte noch ein Buch aus dem Bücherregal dazu, dessen Titel ganz ansprechend klang und entdeckte auf dem Tisch noch von gestern ein Brötchen, eine Wasserflasche und Kekse. Cecile oder irgendwer anders musste mir gestern, als ich schon geschlafen hatte, das Essen hier rauf gebracht haben. Doch ich hatte gestern nicht zu Abend gegessen. Ich war nämlich nicht wieder aufgewacht.
Mit einem Seufzer wandte ich mich betrübt und mit schlechtem Gewissen ab und schlich auf leisen Sohlen die Stufen der vielen Treppen hinunter. Jedes Mal, wenn eine Stufe knarrte, zuckte ich zusammen und erwartete, dass man mich entdecken würde. Ich kam mir wie eine Diebin vor.
Ich warf noch einen letzten Blick in die Küche, in der sich meine Familie noch immer befand und schlich dann zur Haustür. Leise öffnete ich und erwartete, dass sie quietschte. Doch das tat sie nicht. Mein Herz fühlte sich schwer an. Ich wollte sie nicht verlassen. Nicht, nachdem ich sie gerade erst gefunden hatte. Aber es war besser so. Dennoch wollte ich mir nicht vorstellen, wie sie reagieren würden, wenn sie begriffen, dass ich fort war. Sie würden am Boden zerstört sein. All die Freude, die sie über meine Rückkehr empfanden, würde verrauchen. Mein erneutes Verschwinden würde ihnen Schmerzen bereiten. Mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal sehr wohl etwas dafür konnte. Allein dafür hasste ich mich.
Ohne dass jemand etwas mitbekam verschwand ich im Nebel, der scheinbar wie eine weiße Wand aus dem Boden aufgestiegen war.
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