Kapitel 19 - Schreie, Tod und Tränen ✅
Nun lichtete sich mein Nebel. Entspannt atmete ich den Sauerstoff um mich herum ein. Der Geruch von Blut hing in der Luft. Der Geruch von Blut und Tod. Langsam öffnete ich meine Augen.
Überall lagen Scherben und Splitter. Das Glas der Fenster lag in scharfen Einzelteilen am Boden. Die Tische lagen in kleinen, spitzen Häufchen am Boden. Überall in der Halle lagen Körper von Schülern am Boden. Es sah aus, als hätte hier drin ein wilder Sturm gewütet. Einige Schüler lagen im Glas. Ihre Körper waren blutüberströmt. Mich störte es nicht. Es war mir gleichgültig.
Einige Schüler lagen unter Tischen und Glassplittern vergraben. Ich sah das rote Rinnsal, das hinunterlief. Rote Fäden auf der Haut. Aber nicht das war es, wonach ich suchte.
Nun sah ich sie. Die, die ich gesucht hatte. Als ich sie dort erblickte, verformten sich meine Lippen zu einem Lächeln. Reglos lag ihr Körper am Boden. Eine gebrochene Puppe. Am Kopf hatte sie eine Platzwunde. In ihrer Hand steckte eine große Scherbe. Dazu kamen noch einige andere Verletzungen. Ihre Haut war kalt und bleich. Die Augen geschlossen. Ihr blondes Haar war von ihrem eigenem Blut rot verfärbt. Rubinrot. Ebenso wie die weiße Feder in ihrem Haar, die sie immer trug, seit ich sie das erste Mal gesehen hatte. Ihre Brust hob und senkte sich nicht. Ihre Leiche war die Einzige.
Langsam setzten sich die anderen vor Schmerzen stöhnend und völlig benebelt auf. Ihre Blicke glitten schwer über das Geschehene. Erst schienen sie nicht zu begreifen, sich nicht zu erinnern. Doch dann klarten sich ihre Blicke auf. Sie starrten einander an, dann die Halle. Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Und dann fielen ihre Blicke auf die Leiche nahe der Wand.
Das Entsetzen war allgegenwärtig. Das Entsetzen, der Schock. Hastig versuchten sie aufzustehen und taumelten auf Claire zu. Jedoch verzweifelten die Meisten schon am Aufstehen und sanken wieder auf die Knie.
Niemand hatte mich bis jetzt entdeckt. Ich hatte mich in die Schatten zurückgezogen. Irgendwer schaffte es schließlich zu ihrer Leiche. Es war eines der Mädchen aus meiner Klasse, die schon etwas mit ihr zu tun gehabt hatten.
Panisch suchte das Mädchen nach einem Puls. Es fand keinen. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Tapfer drückte sie ihre Finger weiterhin auf das Handgelenk der Leiche. Wollte es nicht wahrhaben. Doch die Wahrheit schob sich grausam in ihren Kopf. Das Mädchen verlor jegliche Gesichtsfarbe.
»Nein.«, hauchte sie. Und immer wieder. »Nein!«
Doch. Sieh sah es doch. Claire hatte es verdient. Vor Trauer wimmerte das Mädchen und ihr Kopf sank auf die Schulter der leblosen Puppe. Markerschütterndes Schluchzen füllte die ganze Halle aus. Es war das einzige Geräusch. Die Finger krallten sich in das Fleisch der Toten, nur um an etwas Halt zu finden. Aber sie stieß auf keinerlei Widerstand.
Heulend warf sie ihren Kopf zurück. Tränen strömten wie Bäche aus ihren Augen. Das Gesicht war schon ganz rot und verquollen. Über den ganzen Saal legte sich eine erdrückende Stille. Schweigend beobachteten alle das Mädchen und die Tote.
Erst jetzt bemerkte ich, dass eine der Krankenschwestern aufgetaucht war und begann, sich um die verletzten Schüler zu kümmern. Noch immer wimmerte das Mädchen an der Schulter ihrer toten Freundin. Irgendwann stand mein Bruder auf und ergriff das Mädchen sanft am Arm.
»Nein! Lass mich los! Lass mich bei ihr bleiben!«, schrie sie weinend und wehrte sich gegen seinen Griff. Verzweifelt strampelte sie um sich und klammerte sich gleichzeitig an der Toten fest.
»Lass sie los. Du kannst ihr nicht mehr helfen.«, sagte mein Bruder mit ruhiger Stimme.
Das Mädchen bebte, während sie ihre tote Freundin fest umklammerte. »Wieso?«, hauchte sie. »Wieso hat sie sie getötet?« Das Mädchen sah meinen Bruder voller Verzweiflung an, während ihr die Tränen nur so über das Gesicht rannen.
Will betrachtete sie lange an. »Ich weiß es nicht.«, sagte er dann.
Lügner.
Behutsam zog er sie hoch und nahm sie in den Arm. Beruhigend strich er ihr über den Rücken. Sie schluchzte unerbittlich. Zwei Krankenschwestern kamen mit einer Trage auf die Tote zu. Sie legten die Trage neben ihr ab und verfrachteten die Leiche darauf. Anschließend kam die dritte Krankenschwester und breitete ein weißes Tuch über dem Körper aus. Die beiden anderen nahmen an die Trage und trugen die Leiche aus der Halle.
Das Mädchen schrie panisch den Namen ihrer verstorbenen Freundin und wollte den Krankenschwestern hinterher rennen, doch Will hielt sie entschieden fest und hinderte sie daran, den Krankenschwestern, die die Leiche trugen, hinterher zu rennen.
Bis auf die Schreie des Mädchens war es in der Halle totenstill. Alle mussten das Geschehene erst einmal verdauen und wirklich realisieren.
Nun hatte sich das Mädchen langsam beruhigt und Will ließ sie los. Sie sank sofort entkräftet und von ihrer Trauer überwältigt zu Boden. Ihr fehlte jede Energie. Nur ihre Tränen vergingen nicht. Eine ihrer anderen Freundinnen kam auf sie zu und umarmte sie, während ihr selbst die Tränen über die Wangen liefen. Stumme Tränen.
Will ließ seinen Blick auf der Suche nach mir durch die Halle gleiten. Ich sah Damon, der sich wankend aufrappelte. Über seinem linken Auge blutete er, da er sich an einer der Scherben geschnitten hatte. Auch er war auf der Suche nach mir. Damon und Will entdeckten mich zeitgleich. Ich erstarrte in den Schatten. Beide gingen mit zielstrebigen Schritten auf mich zu.
Augenblicklich ergriff die Panik von mir Besitz. Überfiel mich, noch ehe ich überhaupt wusste, was geschah. Eisern schloss sich ihre Hand um mein Herz. Nahm mir die Luft zum Atmen. Und das Zittern setzte wieder ein. Das, was ich hier getan hatte, war nicht, weil ich mich verteidigen musste. Es war meine eigene Wut gewesen. Ich hatte sie töten wollen. Und mir war egal gewesen, dass ich die Halle zerstörte und andere verletzte. Es war mir egal gewesen, dass andere um sie trauern würden. Das hier ließ sich unter keinen Umständen als Notwehr erklären. Das hier war eiskalter, grausamer Mord. Wieso hatte ich nichts unternommen?Weshalb hatte ich es nicht aufgehalten?
Sie kamen mir näher. Was würde passieren, wenn sie mich schnappten? Würde ich eingesperrt werden? Oder schlimmeres? Jetzt musste Will mich hassen. Anders konnte es gar nicht sein.
Und Damon? Ich hatte keine Ahnung. Würde der Jäger wieder Jagt auf mich machen? Schließlich hätte ich ihn, wie auch die anderen, beinahe getötet. Das hier war der Beweis, nach dem er Ausschau gehalten hatte. Jetzt würde er mich töten. Für die Sicherheit aller.
Ich war gefährlich. Ich war mächtig. Allein deswegen müsste Damon mich töten. Und er war ein Jäger. Lange genug hatte er mich verschont.
Damon, wie auch Will hielten ihren Blick fest auf mich gerichtet. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Dann ergriff ich Hals über Kopf die Flucht. Meine Beine wollten mich kaum tragen, doch ich konnte es mir nicht leisten, jetzt einzuknicken. Ich musste weg! Schnell eilte ich aus der Halle, in den Korridor und hastete um eine Ecke. Meine Gedanken schlugen Salto, kreischten verzweifelt, jaulten vor Schmerz auf, sodass ich kaum noch etwas anderes als sie wahrnahm. Schritte folgten mir. Schnelle Schritte. Beide folgten mir.
»Mika, bleib stehen!«, rief Will. Ich konnte nicht heraushören, was er dachte oder fühlte. Natürlich blieb ich nicht stehen.
»Bleib stehen, Mika!«, er wurde lauter und holte langsam auf. Damon ebenso. Ich stürmte weiter und erwischte noch gerade so die Kurve. Mein Verstand und mein Herz waren sich einig. Beide pochten auf Flucht. Ehe ich zusammenbrechen durfte.
»BLEIB STEHEN!« Die Lautstärke seiner Stimme ließ mich erzittern.
Ich spürte, wie seineKraft sich nach mir ausstreckte und mich umklammern und zum Stehenbleiben zwingen wollte. Fest umschloss mich seine Kraft, nahm mich gefangen. Es war, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Hektisch atmete ich. Sie durften mich nicht bekommen!
Mit meiner eigenen Kraft kämpfte ich gegen seine an. Wer war stärker? Der Stärkere von uns würde siegen. Entweder würde Will mich durch seine Macht hier behalten können oder ich könnte mich befreien. Wir beide strengten uns an, konzentrierten uns. Es erforderte meine ganze Willenskraft. Verbissen kämpfte ich gegen ihn an. Dann gab es einen Knall. Will wurde zurückgeschleudert und ich konnte mich wieder bewegen. Ohne weiter zu überlegen nutzte ich die Chance und rannte.
Draußen angekommen stürmte ich Hals über Kopf in den finsteren Wald hinein. Immer tiefer und tiefer. Äste schlugen mir entgegen, doch auch das hielt mich nicht auf. Die ganzen Schrammen registrierte ich gar nicht.
Einige Zeit später, ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, blieb ich stehen. Ich musste sie abgehängt haben. Keuchend ließ ich mich auf den Boden fallen. Meine Lungen schmerzten und ich sog begierig die Luft in ein.
Nun füllten sich meine Augen mit Tränen. Zum Teil, weil ich Claire getötet hatte. Aber auch, weil ich die Halle zerstört und so viele verletzt hatte. Vor allem jedoch weinte, weil mich mein Bruder hassen würde. Damon sowieso. Wie sollte ich mir jetzt noch selber ins Gesicht sehen können? Zwar hatte Claire es verdient, aber ich hätte sie nicht töten dürfen. Das war etwas ganz anderes, als bei dem Jäger. Obwohl sie eine grausame Person war, war sie in gewisser Weise unschuldig. Was mich jedoch noch mehr mitnahm war, dass ein winziger Teil in mir, ihren Tod gleichgültig hinnahm. Zufrieden war.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Erschrocken schrie ich auf.
»Mika.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro