9) Umbruch
Mein Entsetzen am nächsten Morgen saß tief.
Die Verwirrung darüber, dass es mir blendend ging, fiel allerdings noch ein wenig größer aus.
Ich hatte keine Medikamente genommen und es ging mir besser.
Das durfte es eigentlich nicht geben.
Eigentlich.
Und nun saß ich stirnrunzelnd an meinem Schreibtisch, eine Tasse Gewürztee in der einen Hand, einen neuen Blister des O-Nesciols in der anderen, und wusste nicht, was ich tun sollte.
Meine Vernunft befahl mir, die obligatorische Tablette, die ich sei knapp zwei Jahrzehnten jeden einzelnen Morgen einnahm, einfach einzuwerfen und so zu tun, als hätte es diese merkwürdige Ausnahme gestern nicht gegeben.
Doch dann war da diese Stimme in mir (diesmal rein metaphorisch gesprochen, wie man im gegebenen Kontext wohl anmerken musste), die mir riet, das Gegenteil zu tun. Ganz gezielt, ganz bewusst, um zu überprüfen, ob sich meine gestrige These weiterhin bestätigte.
Meine Verfassung heute Vormittag war so fantastisch, wie sie nach einer Eskalation wie gestern gar nicht existieren dürfte. Konnte es wirklich damit zusammenhängen, dass ich gestern unfreiwillig auf mein Medikament verzichtet hatte?
Aber das war doch Blödsinn, immerhin war das Medikament dafür da, mir zu helfen und die akuten Symptome zu lindern. Nun gut, diese Aufgabe schien der Gewürztee übernommen zu haben. Noch dazu sehr erfolgreich.
Mein Blick richtete sich auf meine Tasse, aus der der gewohnte, würzige Duft emporstieg und meine Sinne einlullte. Auch dieser Tee war etwas, das ich schon immer kannte. Er war fester Bestandteil meines Alltags, eine Selbstverständlichkeit von Kindesbeinen an – soweit ich mich an meine Kindheitstage denn erinnern konnte. Sehr detailliert waren diese Erinnerungen nicht, aber ich war mir sehr sicher, dass der Tee von Beginn an mit von der Partie gewesen war.
Hatte man meinen Eltern dahingehend womöglich einen Tipp gegeben? Und war das nicht trotzdem der reinste Bullshit? Kein Tee der Welt konnte Schizophrenie bekämpfen, schon gar nicht so akut.
Und doch hatte er es gestern getan.
Dieser letzte Gedanke bewegte mich dazu, einen tiefen Atemzug zu nehmen und den Blister zurück in die Schachtel zu stopfen, wie immer höchst unkoordiniert und chaotisch, weil die Packungsbeilage blockierte.
Ich würde heute auf die Tablette verzichten.
Mein Puls beschleunigte sich in einem merkwürdigen Anflug von Aufregung, als mir aufging, dass das der allererste Tag in zwei Jahrzehnten sein würde, an dem ich ohne die verschriebene Dosierung des Antipsychotikums außer Haus ging.
Unverantwortlich und ein Risiko?
Definitiv.
Aber andererseits ... hatte ich überhaupt noch etwas zu verlieren? Meinen Verstand verlor ich ohnehin nach und nach, ganz gleich, was ich tat. Da konnte so ein kleines Experiment auch nicht recht viel mehr Schaden anrichten. Traurig, aber wahr.
Ich zwang mich dazu, nicht sofort mögliche Entzugserscheinungen von langzeitig eingenommenem O-Nesciol zu recherchieren, sondern erhob mich abrupt. Ich würde mir an der Unicafeteria ein Frühstück holen, teuer hin oder her.
Denn ich wusste ganz genau: Wenn ich nun noch länger hier saß und mir Gelegenheit verschaffte, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken, würde es vermutlich irgendwann darin enden, dass ich mein Vorhaben doch noch seinließ.
Kurz entschlossen packte ich meinen Rucksack – und den Becher Tee, den ich mir heute erstmalig für die Uni eingegossen hatte.
Zayn hatte mich auf Ideen gebracht.
Und dann war ich beim Verlassen des Hauses so in meiner Nervosität und meinen Vermutungen versunken, dass ich die bohrenden Augen gar nicht wahrnahm. Die bohrenden Augen des ominösen Beobachters, die eindringlich auf mir lagen und mich verfolgten, bis ich die Bushaltestelle erreicht hatte.
Ebenso wenig bemerkte ich das Auto, das sich zeitgleich mit dem Stadtbus in Bewegung setzte und diesem in gebührendem Abstand durch die Stadt zu folgen begann.
Der weitere Vormittag verlief ereignislos und ruhig.
Letztgenanntes beschränkte sich zwar überwiegend auf meinen Kopf, aber das war Ruhe genug, um sie als erwähnenswert zu erachten.
Mein Umfeld hingegen verkörperte das genaue Gegenteil von Ruhe. Die Prüfungen standen an, ebenso zahlreiche schriftliche und mündliche Leistungsnachweise und allerlei anderer Kram. Demnach litt die gesamte Studentenschaft an Panikzuständen und verwandelte Bus, Gänge und Cafeteria in ein Brüllkonzert. Man könnte meinen, die Apokalypse würde jeden Moment eintreten.
Aber zur Abwechslung war mir das egal.
Sehr egal sogar.
Die Welt um mich herum konnte noch so laut sein. Solange in meinem Kopf Stille herrschte, war für mich alles in Ordnung.
Mein Zustand seliger Ruhe und Zufriedenheit hielt erstaunlich lange an – erstaunlich vor allem in Anbetracht dessen, dass ich heute Morgen nach eigenem Ermessen an meiner Regelmedikation herumgedoktert hatte. Sollte Bernard Quinn das jemals erfahren, würde er mich vermutlich häuten. Und meine Eltern würden ... nun ja. Nein. Darüber dachte ich besser gar nicht nach.
Da Louis und ich heute beide ab halb zwei Uhr nachmittags eine Freistunde hatten, hatten wir uns zu einem späten Mittagessen in der Kantine verabredet. Die Essensausgabe schloss bald, weshalb wir uns mit den übriggebliebenen Gerichten zufriedengeben mussten, aber natürlich war uns das egal. Dafür aßen wir beide viel zu gern.
Demnach saßen wir nun an einem der Zweiertische ganz am Rand an der Fensterfront und hatten hervorragenden Blick auf den seichten, halbkreisförmigen Teich, den man bei der Renovierung vor einigen Jahren um das Mensa- und Bibliotheksareal herum angelegt hatte.
Eine schmale, geteerte Brücke führte zum Westeingang des Gebäudekomplexes hinauf, die sich in den Wintermonaten grundsätzlich zu einer Rutschbahn verwandelte, sofern nicht drei Tonnen Salz darauf landeten.
An sich war die Gestaltung des Geländes schön und kreativ, vor allem mit dem Ausblick auf den Ententeich. Nur leider hatte man die dummen Menschen nicht miteinkalkuliert, die nicht davor zurückschreckten, Abfälle und Essen ins Wasser zu werfen, mit dem Resultat, dass sich dieses jedes Jahr wieder in eine braune Dreckbrühe verwandelte.
Ekelhaft.
Als ob die Enten nicht auch ohne fettige Pommes genug Futter bekommen würden.
Mein Blick wanderte weiter – und traf prompt auf den eines Mensapersonal-Kerls, der uns missbilligend anstierte.
Ganz offensichtlich wartete er darauf, dass wir endlich fertig wurden und das Feld räumten, damit er seine Schicht beenden konnte.
Ups.
Eilig wandte ich mich wieder meinem Tablett zu, auf dem ich mir eine bunte Mischung verschiedenster Beilagenschüsseln zusammengestellt hatte, und wollte gerade eine Petersilienkartoffel aufspießen, als mich Louis' Stimme hochfahren ließ. Und natürlich sprach er so schnell, dass ich rein gar nichts verstand.
Irritiert hielt ich inne. „Was?"
Louis fuhr so heftig zusammen, dass er beinahe seinen Energydrink über die Unterlagen verschüttet hätte, die neben seinem Tablett auf dem Tisch lagen. „Mann, Horan! Was ist?"
Ich verdrehte die Augen. Dieser Trottel. „Was hast du gesagt? Ich hab vorhin nicht zugehört, sorry."
„Hä?" Louis runzelte die Stirn, ehe er einen Blick über die Schulter warf, als stünde jemand hinter ihm, der an seiner Stelle gesprochen haben könnte. „Ich habe nichts gesagt?"
Es klang mehr wie eine Frage.
Ich seufzte und griff nach meinem Wasserglas. „Komm schon, verarsch mich nicht. Mein Sorry hast du doch schon, du Leuchte, du kannst also damit aufhören, eingeschnappt zu sein."
Louis wirkte, als hätte er mir am liebsten sein Tablett an den Kopf geknallt. „Wovon redest du, Horan? Ich habe wirklich nichts gesagt."
Frustriert stellte ich mein Glas wieder hin. „Was? Aber-..."
Ich erstarrte abrupt.
Halt.
Da. Schon wieder.
Eine Stimme.
Nur eine einzige, kein Gewirr. Eine einzelne Stimme, die sich ganz klar über irgendetwas beschwerte. Sie konnte also gar nicht aus meinem Kopf stammen.
Nein, sicherlich nicht. Sie kam aus Richtung der Essensausgabe, die sich ein paar Meter weiter in meinem Rücken befand. Eilig wirbelte ich herum, um meine These zu bestätigen – nichts. Zumindest wurde nicht gesprochen. Lediglich der Typ von vorhin wischte gelangweilt auf der Anrichte herum und sah nicht so aus, als würde er in naher Zukunft den Mund öffnen. Oder als hätte er in den vergangenen Sekunden etwas gesagt.
Verwirrt spähte ich in die andere Richtung, doch auch dort hielt sich niemand auf.
Was zum Henker?
In einem Anflug von Ernüchterung wischte ich mir die feuchten Handflächen an der Oberschenkelpartie meiner Jeans trocken. Was zur Hölle war denn jetzt wieder los? Wechselte mein persönlicher Bullshit nun auf ein anderes Level? Aber-...
„Niall?" Louis' hörbare Irritation holte mich aus meiner Trance. „Alles in Ordnung? Was-..."
„Hast du das eben auch gehört?", schnitt ich ihm brüsk das Wort ab. „Jemand hat etwas gesagt."
Mein bester Freund starrte mich an, die Gabel mit einer aufgespießten Tomate halb zu seinem Mund erhoben. „Ähm. Nein?"
„Gerade hat doch jemand etwas gesagt. Ein Mann", beharrte ich störrisch, mit dem Daumen hinter mich weisend. „Irgendwo da hinten. Er hat-..."
Ich brach ab, als mir aufging, dass ich nicht wusste, was besagte Mann von sich gegeben haben sollte. Es war eine einzelne, klare Stimme gewesen, und doch hatte ich nichts davon verstanden. Nur die Stimmung hatte ich aufgefangen.
Aber hatte es sich dann tatsächlich um eine Stimme gehandelt?
Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, was genau ich denn nun wahrgenommen hatte.
War es tatsächlich akustisch gewesen? Oder nicht doch optisch? Oder ... emotional?
Oder eine Mischung aus allem?
Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl umher. Mein Appetit war mir schlagartig vergangen und ließ die verbliebenen Petersilienkartoffeln vor mir völlig ungenießbar wirken. Meine Irritation war so groß wie noch nie. Stand womöglich der nächste Anfall in den Startlöschern? Und waren nur die Anzeichen anders, weil ich eben meine Regelmedikation weggelassen hatte?
Bang fühlte ich in mich hinein.
Nichts. Es ging mir gut.
Keine Kopfschmerzen, kein Ziehen und Wummern hinter den Schläfen, keine brennenden Augen, wie es normalerweise der Fall war, wenn sich die wirren, aggressiven Stimmen an die Oberfläche meines Bewusstseins kämpften.
Da war keine Aggressivität, keine Verwirrung, kein Chaos.
Alles war friedlich, als befände sich mein Kopf im Normalzustand.
Und doch waren da ... Eindrücke?
Anders konnte ich es nicht beschreiben.
Ich spürte etwas. Etwas Persönliches, Emotionales. Eine Anwesenheit, die ihre Fühler nach meiner Wahrnehmung ausstreckte, mir Informationen vermittelte, die ich nicht auszuwerten vermochte.
Nein, Moment. So war es nicht.
Meine Wahrnehmung war die Instanz, die die Fühler ausstreckte, nicht umgekehrt.
Aber ... wonach? Oder, besser gesagt: Nach wem?
Langsam wanderte mein Blick zu Louis, der mir gegenüber an dem Tisch saß und mich weiterhin verstört, nun gemischt mit einem Hauch von Sorge, musterte. Die Tomate auf seiner Gabel hatte immer noch nicht zu seinem Mund gefunden.
Mit weit aufgerissenen Augen erwiderte ich seinen Blick, verlor mich für einen Moment in seinen hellblauen Iriden, versuchte, den Ausdruck darin zu analysieren – und plötzlich traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht.
Die Wucht an Emotionen.
Da war Verwirrung. Sorge. Frustration. Alle drei Dinge bezogen sich auf mich.
Dann ein Hauch von Aufregung. Gerichtet an die Unterlagen, die zwischen uns auf dem Tisch lagen.
Zufriedenheit, die dem Essen galt.
An sich kein ungewöhnlicher Mix, sondern in Anbetracht der Situation sehr nachvollziehbar: Natürlich war Louis verwirrt, besorgt und frustriert, weil ich mich benahm wie der letzte Vollpsycho. Aufgeregt war er wegen der Prüfung, für die er lernte, und zufrieden, weil ein Berg an Essen vor ihm stand.
Aber leider gab es an der ganzen Sache einen enorm signifikanten Haken.
Louis.
All diese Emotionen, die ich fühlte, gehörten nicht zu mir.
Sie gehörten zu Louis.
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Dieses Kapitel hat mich überfordert, ich gebe es zu.
Aber wenigstens scheint Niall allmählich ein paar Dinge zu realisieren👀
Lasst mir gern Meinungen & Gedanken da🙂
Liebe Grüße!❤
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