50) Entscheidungen
Ein Räuspern von Harry holte mich irgendwann zurück in die Realität.
„Maura Gallagher hat nicht bis zum Ende für die Rebellion gekämpft." Er wählte seine Worte mit Bedacht, langsam und vorsichtig, als müsste er sich selbst zur Ruhe zwingen. „Sie hat die Rebellion verraten."
„Anscheinend." Meine Denkprozesse waren zäh. „Weil Ken das Ruder übernommen hat."
„Anschläge auf Kliniken und Regierungsoberhäupter?", wiederholte Harry den Wortlaut aus der Dokumentation. „Sorry, aber wenn das stimmt, hat der Typ definitiv einen an der Waffel. Ich meine, was hatte er denn vor? Wollte er die Weltherrschaft übernehmen? So ein Blödsinn!"
Ich reagierte mit einem abwesenden Nicken. Meine eigenen Gedanken drehten sich bereits um einen ganz anderen Aspekt.
„Sie hatte Angst vor ihm", sprach ich es schließlich aus. „Vor Ken. Ihrem eigenen Bruder. Was ist da nur gelaufen?"
Harrys knirschte mit den Zähnen. „Er hat ihren gesundheitlichen Zustand ausgenutzt und sie manipuliert, das ist gelaufen. Siehst du es jetzt endlich? Ich sage schon die ganze Zeit, dass dieser Kerl nicht nur ein radikaler Fanatiker ist. Er ist ein gewissensloser Psycho mit Gewaltproblem, der nicht einmal vor seiner eigenen Familie haltmacht. Meine Mum wusste mit Sicherheit irgendetwas. Sonst hätte sie nicht mein ganzes Leben lang so großen Wert darauf gelegt, ihn auf Abstand zu halten."
„Weißt du, was ich mich langsam frage?" Ich schluckte schwer, als Harry sich mit zuwandte. „Ich frage mich, wie sie am Ende tatsächlich ums Leben gekommen ist. Sie hat immerhin mit der OOA zusammengearbeitet. Warum sollten die Einsatzkräfte sie umbringen?"
Harry zog seine Beine noch näher an sich heran. „Wenn ich das richtig verstanden habe, wusste die OOA doch gar nicht, dass die Infos von Maura Gallagher höchstpersönlich stammten, oder? Quinn hat die Angaben anonym weitergeleitet. Vermutlich war den hohen OOA-Tieren nicht einmal bekannt, dass Maura mit Quinn zusammengearbeitet hat. Deine Mutter galt als Urheberin und Anführerin der Rebellion, als der Feind schlechthin. Ich bin mir sicher, unter den OOA-Agenten gab – und gibt – es einige schwarze Schafe, die ihren Finger bei einer solchen Begegnung sofort am Abzug haben."
„Ja, stimmt." Schaudernd dachte ich an meine unschöne Begegnung an der Autobahnunterführung zurück. „Ich dachte nur für einen kurzen Moment..."
Ich brach ab, doch Harry schien ohnehin schon verstanden zu haben, worauf ich hinauswollte.
„Dass Ken sie auf dem Gewissen hat?", führte er meinen Satz zu Ende. Fassungslos ließ er sich gegen die Wand sacken. „Fuck. Denkst du, er wäre dazu fähig?"
Unschlüssig hob ich die Schultern, bevor ich seinem Beispiel folgte und auf dem Bett zurückrutschte, um mich ebenfalls an die Wand zu lehnen. „Vielleicht als Kurzschlussreaktion? Als er kapiert hat, dass der Verrat auf Mauras Konto geht?"
Harry seufzte. „Das sind doch alles nur Vermutungen. Niemand weiß, was damals wirklich abgegangen ist."
„Na ja. Nicht niemand." Ich tauchte ab, um das Handy wieder ans Ladekabel anzustecken. „Ken weiß es."
„Stimmt, weil man ihn ja einfach so fragen kann, ob er seine Schwester ermordet hat." Er atmete tief durch. „Niall, sollte in dieser Theorie auch nur ein Funken Wahrheit stecken, sitzen wir hier mehr oder weniger in der Höhle des Löwen."
„Das tun wir sowieso schon die ganze Zeit." Schwerfällig ließ ich mich an die Wand zurücksacken. „Wir waren von Anfang an mehr Gefangene als Gäste. Oder irgendetwas dazwischen. Aber zumindest wissen wir jetzt, dass es gut war, dass die Rebellion damals zerschlagen wurde, richtig? Wer weiß, was Ken angerichtet hätte."
Harry faltete die Hände auf dem Bauch. Dabei berührten sich unsere Ellbogen, doch zur Abwechslung unternahm er nichts, um den zufälligen Kontakt zu unterbrechen.
„Vielleicht ist Ken schuld daran, dass die Mutation als Bedrohung angesehen wird", spann er unsere Liste der Verschwörungstheorien fort. Etwas Besseres hatten wir gerade ohnehin nicht zu tun. „Er ist immerhin das Bilderbuchbeispiel eines bösartigen Mutanten: Er hält sich für einen besseren Menschen, und all jene ohne die Mutation für unwürdig. Seiner Meinung nach gehören sich Mutanten auf Führungspositionen, Nichtmutanten müssen ausgelöscht werden. Er ist mit Gewalt vorgegangen, hat in Mauras Namen Anschläge verübt und wollte am Ende offenbar sogar Regierungen stürzen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf wundert es mich, offen gesagt, überhaupt nicht, dass man versucht, uns vor der breiten Bevölkerung zu verbergen und ruhigzustellen. Man fürchtet sich vor einer neuen Rebellion."
Ich runzelte die Stirn. „Aber man hat doch schon vor der Rebellion versucht, die Mutation bereits im Mutterleib festzustellen und von Anfang an medikamentös zu unterdrücken. Daraus ist die Rebellion doch überhaupt erst entstanden, oder?"
„Ja. Nein." Frustriert ließ Harry den Kopf gegen die Wand knallen. „Ich weiß es doch auch nicht!"
„Schon gut." Mit dem Anflug eines Grinsens tätschelte ich sein Knie. „Kein Grund für einen Nervenzusammenbruch."
Harry wandte mir sein Gesicht zu, fing meinen Blick auf, und aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht abwenden. Das Grün seiner Augen wirkte plötzlich intensiver als sonst, ausdrucksstark und tiefgründig. Ich konnte buchstäblich darin ablesen, was er fühlte. Was er für mich fühlte – und ich nicht erwidern konnte.
Es zerriss mich.
„Darf ich dich umarmen?" Die Worte sprudelten so schnell aus ihm hervor, dass ich sie fast nicht verstand. Seine Finger zwirbelten an einem abstehenden Faden seines Shirts herum. „Keine Sorge, ich will dich nicht anmachen, es ist nur..."
„Harry, hör auf", schnitt ich ihm resolut das Wort ab. Die Verletzlichkeit in seiner Stimme sorgte dafür, dass sich alles in mir zusammenzog. „Du musst mich doch nicht fragen, ob du mich umarmen darfst. Das ist eine Selbstverständlichkeit."
„Ich würde dich viel lieber küssen."
Sämtliche meiner Worte blieben mir im Hals stecken.
„Tut mir leid." Verlegen schob er sich eine Locke hinters Ohr, womit er die tiefrote Färbung seiner Wangen offenbarte. „Das hätte ich nicht sagen sollen."
Es tat einfach nur weh.
Stumm schloss ich ihn in die Arme, vergrub die Nase an seiner Schulter und sog einen tiefen Atemzug ein. Es schmerzte mich ehrlich, dass ich seine Gefühle nicht erwidern konnte. Dass es stattdessen dieser merkwürdige, undurchsichtige Typ namens Zayn Malik war, der mein Herz aus unersichtlichen Grünen höherschlagen ließ.
Harry hatte es verdient, Liebe zu finden und geliebt zu werden.
Zum wiederholten Male kämpfte ich mit mir. Und wenn ich es einfach versuchte? Wenn ich mich einfach darauf einließ und abwartete, was passierte? Vielleicht schlummerten ja doch Emotionen in mir, derer ich mir nur nicht bewusst war, und...
Im nächsten Moment fühlte ich mich noch schuldiger als zuvor.
Schwachsinn.
Ich würde nur mit seinem Herz spielen und ihn verletzen. Noch mehr, als ich es ohnehin schon tat.
Überdeutlich spürte ich, wie er mich noch fester an sich zog und die Finger in meinem Shirt vergrub, als wollte er mich nie wieder loslassen. Alles an seiner Nähe war vertraut und wohltuend – seine Berührung, sein charakteristischer Duft, die Vibrationen seines Herzschlags.
Aber dennoch fehlte diese winzige oder eben nicht ganz so winzige Nuance, die meinen Gefühlen das Sahnehäubchen aufsetzen würde. Eine Nuance, die man sich nicht einfach so herbeiwünschen, antrainieren oder erarbeiten konnte. Sie musste einfach nur da sein.
„Es tut mir leid", murmelte ich in seine Schulter. „Wirklich."
Sein ganzer Körper bebte, als er leise zu lachen begann. Traurig, aber immerhin.
„Schon gut." Sein Atem schlug warm an meine Wange. „Das Problem ist ja, ich kann es Malik nicht einmal verübeln, dir schöne Augen zu machen. Du bist einfach ... hm. Du."
Stöhnend knuffte ich ihn in die Seite. „Hör auf damit. Warum bist du nur so ein verständnisvoller Bastard?"
Harry summte nachdenklich. „Ich kann deine Lage nachvollziehen." Er zögerte. „Ähm, Louis wollte mich mal auf ein Date einladen."
„Bitte was?" Ruckartig fuhr ich hoch. „Louis?!"
Angesichts meiner heftigen Reaktion begann Harry zu lachen. „Ja. Ist schon eine halbe Ewigkeit her. Ich glaube, wir waren siebzehn und achtzehn oder so. Ich hatte damals noch absolut keinen Plan von Gefühlen, also habe ich abgewiegelt."
Stirnrunzelnd dachte ich an die Momente zurück, die ich gemeinsam mit beiden verbracht hatte. Damals bei diesem Abendessen in Annes Küche hatte ich mich doch noch über die Spannung zwischen den beiden gewundert. Dann hatte ich mich dahingehend also nicht getäuscht. Da gab es tatsächlich etwas, das zwischen den beiden schwelte.
Ich musterte ihn neugierig. „Und jetzt?"
„Nun ja. Nichts." Harry zuckte die Achseln. „Wir haben seitdem nicht mehr darüber gesprochen. Ich schätze, es hat sich für ihn erledigt."
„Wie kannst du dir da so sicher sein?" Ich ließ den Blick über sein Gesicht schweifen. „Gefühle steckt man immerhin nicht einfach so weg."
Er lächelte schief. „Stimmt."
Schon wieder ein Seitenhieb, den er sicherlich nicht als solchen intendierte, aber trotzdem wie einer bei mir ankam.
„Vielleicht solltet ihr nochmal darüber reden?", versuchte ich, von meiner eigenen Bitterkeit abzulenken. „Nur ganz vielleicht?"
„Niall, darüber ist doch längst Gras gewachsen." Nun klang er unüberhörbar frustriert. „Damals war ich zu gefühlsstumpf und jetzt bin ich viel zu..." Abrupt verschloss er den Mund. „Okay. Können wir bitte über etwas anderes reden? Eigentlich stecken wir bis zum Hals in anderen Problemen."
Mich überkam der Drang, dem zu widersprechen, doch letztendlich ließ ich es bleiben. Er hatte Recht. Mit Gefühlsproblemen konnten wir uns nachher immer noch beschäftigen, immerhin liefen uns die nicht davon.
„Schön." Ich zückte das Handy. „Ich könnte jetzt sofort Quinn anrufen."
Harry verzog das Gesicht. „Und was willst du ihm sagen? Dass wir vermuten, Ken könnte seine Schwester auf dem Gewissen haben? Es gibt keine Beweise."
„Ich könnte Ken einfach fragen", rutschte es aus mir heraus, ehe ich mich zurückhalten konnte. „Darüber, was damals passiert ist, meine ich. Er möchte mich ja unbedingt von seinen Glaubenssätzen überzeugen und seine Rolle als vorbildlicher Onkel stärken. Sicherlich kann er mir das eine oder andere seiner dreckigen Geheimnisse verraten, wenn ich es einigermaßen geschickt anstelle."
Wie erwartet hielt sich Harrys Begeisterung in Grenzen.
„Du hast doch nicht mehr alle Latten am Zaun." Er schüttelte den Kopf. „Sollte dieser Typ auch nur ansatzweise wittern, dass du gegen ihn arbeitest, wird er dich vermutlich neben Zayn in eine Zelle sperren und bei seinen Leuten so tun, als wäre alles in bester Ordnung."
Ich verzog keine Miene. „Das kann er ruhig versuchen. Allerdings bin ich vollkommen klar im Kopf und kann meine Fähigkeiten mittlerweile einigermaßen gut einsetzen. Sollte er sich mit einem Messer auf mich stürzen, wird er aufpassen müssen, wo die Klinge am Ende tatsächlich hingeht."
Harry hielt inne, fixierte mich aus schmalen Augen. „Seit wann bist du so blutrünstig?"
Anstelle einer Antwort machte ich mich daran, mich vom Bett zu schieben. Der Akkustand des Smartphones befand sich mittlerweile bei knapp über fünfzig Prozent. Das musste vorerst reichen.
Ich fing Harrys Blick auf. „Seit es die Welt um mich herum geworden ist."
--------------------------------
Okay, ich habe das Gefühl, mal kurz erklären zu müssen: Diese Story war eigentlich als Dreiteiler gedacht, wie ich schon mal erwähnt hatte, und genau hier würde der dritte Teil beginnen. Ich hab die Aufteilung am Ende bleibenlassen, weil Mehrteiler auf Wattpad erfahrungsgemäß nicht so gut ankommen.
Mir ist bewusst, dass die Story als Konsequenz dessen nun sehr lang und evtl. auch recht unübersichtlich wird bzw. wirkt, deshalb werde ich mich bemühen, die Updateabstände ein wenig zu verringern🙈 Die nächste Story ist immerhin auch schon abgeschlossen und ich sitze aktuell an der übernächsten😅
Und ich muss zugeben: Langsam mache ich mir Gedanken darüber, ob ich meine bisherige Vorgehensweise "Fanfiction -> Manuskript" so beibehalten möchte😅 Ich habe festgestellt, dass es hier auf Wattpad recht wenige FF-Leser:innen gibt, die sich auf einen komplexeren Plot einlassen (was ja auch völlig okay ist!!), aber für mich stellt sich dann einfach die Frage, ob ich solche Fanfictions dann überhaupt noch schreiben soll, wenn sie ohnehin fast nicht gelesen werden.🤔 Die Umarbeitung von Fanfiction zu einem "richtigen" Manuskript ist nämlich ziemlich eklig, das kann ich euch sagen😅
Äh, ja. So viel zu meinen Gedanken.
Danke euch fürs Lesen & für eure Unterstützung und liebe Grüße!
Andi❤
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro