49) Kommunikation
Eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben sprang mir entgegen, als ich den Zettel entfaltete. Mehrere Sekunden lang konnte ich ihn nur mit gerunzelter Stirn anstarren, bevor ich endlich begriff, worum es sich handelte.
Ein Passwort. Das WLAN-Passwort, offenbar über einen gesonderten, nicht aufspürbaren Zugang, wenn man der Notiz daneben Glauben schenkte.
Eine Mixtur aus Erstaunen und Entsetzen drohte mich zu überwältigen. War tatsächlich Rahel die undichte Stelle, die Infos der Rebellen an die OOA weiterleitete? Rahel, die beim Einbruch mit von der Partie gewesen war, sich in Lebensgefahr begeben und tatkräftig mitgeholfen hatte?
Und als ich mich dann aufs Bett setzte, um diese Erkenntnis sacken zu lassen, und mein Hintern prompt auf einem harten Gegenstand landete, bemerkte ich, dass dort jemand ein Kabel positioniert hatte. Ein Ladekabel.
Noch bevor ich das Laborhandy hervorzog, wusste ich, dass der Stecker passte. Rahel riskierte so ziemlich alles, was sie hatte, um mir uneingeschränkten Zugriff auf das Smartphone zu ermöglichen.
Mit zitternden Händen steckte ich das Handy an die Stromversorgung an. Der Gedanke, dass das Gerät mit fünfunddreißig Prozent Akku nicht mehr allzu lange durchhalten würde, nagte zusätzlich zu allen anderen Problemen schon länger in meinem Hinterkopf.
Mein Zeigefinger schwebte bereits über der Dokumentations-App. Ich konnte hier und jetzt meinen Wissensdurst stillen.
Doch bevor ich das Symbol antippen konnte, gab das Smartphone in meiner Hand so plötzlich ein Vibrieren von sich, dass ich es beinahe fallengelassen hätte. Eine Benachrichtigung ploppte am oberen Rand auf, wies mich darauf hin, dass eine SMS eingetroffen war.
Besaß das Ding überhaupt eine SIM-Karte? Egal.
Ohne länger darüber nachzudenken, öffnete ich die Nachricht. Schlimmer konnte es kaum werden, richtig?
Eine charakteristische SMS-Sprechblase tauchte auf, abgeschickt von einer nicht eingespeicherten Nummer.
Niall, wenn du die Aufzeichnungen bis zum Ende gelesen hast, steht es dir frei, diese Nummer zu kontaktieren. B.Q.
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
B.Q. Bernard Quinn.
Mein ehemaliger Therapeut, der erklärte Erzfeind der Rebellen, der OOA-Forscher, der von Ken als Teufel schlechthin propagiert wurde. Ein Erzfeind, der mir nun eine Kooperation anbot.
Viel zu spät bemerkte ich, dass die Tür aufging.
„Hey."
Harrys Stimme, gefolgt von der zuschlagenden Tür, ließ mich hochschrecken. Reflexartig wollte ich das Smartphone unter dem Kopfkissen verschwinden lassen, doch natürlich hatte er es längst entdeckt.
Stille senkte sich über uns, während wir einander anstarrten.
Schließlich atmete er tief durch und trat näher. Seine Stirn lag in tiefen Falten, von den Grübchen in seinen Wagen war nicht der geringste Hauch zu sehen. Seine Augen hafteten an dem Handy, das nun vor mir auf der Bettdecke lag.
„Ein Handy." Die Feststellung klang vollkommen ruhig, nicht erschrocken oder gar empört. Vermutlich hatte er es längst aufgegeben, seine Energie für solche Gefühlsregungen zu verschwenden. „Woher hast du das?"
Ich antwortete nicht. Hilflos zupfte ich mit den Fingern an der Bettdecke herum, während mein Kopf vor Gedanken überquoll.
Langsam ließ dieser sich neben mir aufs Bett sinken, zog seine langen Beine im Schneidersitz an sich heran und legte die gefalteten Hände darauf ab. Keine Sekunde wandte er den Blick von mir ab, als könnte er mir die Wahrheit vom Gesicht ablesen, sagte jedoch nichts.
„Ich habe es aus dem Labor mitgehen lassen", platzte es dann aus mir heraus. „Ich ... ähm ... habe in Elton John eine Speicherkarte gefunden, die Tilda anscheinend darin versteckt hat. Ich brauchte eine bestimmte App, um die Dateien zu öffnen."
„Aha." Falls Harry geschockt war, ließ er es sich nicht anmerken. Er wies auf das Handy. „Und das Ding hat diese App?"
Ich nickte heftig. „Ja. Leider braucht man aber außerdem Internet. Gestern Nacht hab ich einen Teil der Daten gleich angesehen, oben auf dem Dach, weil man woanders keinen Empfang hat, aber dann hat mich Ken dort aufgegriffen und dann anscheinend gleich veranlasst, dass die Tür abgeschlossen wird."
„Okay." Harry wirkte verwirrt, doch er schien sich alle Mühe zu geben, mich nicht mit Fragen zu bombardieren. Oder davonzulaufen, wie er es seit einiger Zeit tat. „Woher hast du das Ladekabel? Und den Zettel? Das sieht aus wie ein..."
„Passwort", vervollständigte ich seinen Satz hastig. „Das WLAN-Passwort. Rahel hat es mir vorhin heimlich zugesteckt. Anscheinend ist sie ein Maulwurf."
„Ein Maulwurf für wen?"
Ratlos zuckte ich die Achseln. „Ich weiß es nicht. Für jemanden, der möchte, dass ich die Dokumentation auf Tildas Speicherkarte lesen kann."
„Dokumentation?" Allmählich klang er ungeduldig. „Niall, ich habe nicht den geringsten Schimmer wovon zu sprichst. Und um ehrlich zu sein, machst du mir langsam ein wenig Angst."
„Harry, hier läuft eine ganze Menge, die dir noch viel mehr Angst machen wird, sobald du alles davon weißt."
„Gut." Betont lässig veränderte er seine Sitzposition, doch mir entging das nervöse Beben seiner Hände nicht. „Erleuchte mich."
„Meine Mutter hat mit Bernard Quinn an der Enzymforschung gearbeitet." Die Worte sprudelten nur so aus mir hervor. „Sie hat ihn überhaupt erst darauf hingestoßen, damit durchzustarten."
Kurz herrschte Stille.
„Was." Es klang nicht wie eine Frage. „Was?"
Ich räusperte mich umständlich, während ich versuchte, meinen rasenden Puls zu ignorieren.
„Sie hat ..." Stockend fuhr ich mir mit der flachen Hand übers Gesicht. „Auf der SD-Karte ist ihr Therapieverlauf dokumentiert."
„Therapieverlauf?" Harry wirkte, als wollte er mich am liebsten packen und schütteln. „Aber warum sollte sie..."
„Sie hat die Kontrolle über ihre Fähigkeiten verloren", grätschte ich dazwischen, ehe er ausrasten konnte. „Anscheinend ist ihre Mutation weitermutiert und immer stärker geworden. Die Details kannst du dir sehr gerne selbst durchlesen."
„Darauf kannst du wetten." Harry knirschte mit den Zähnen. „Aber ... aber für wen arbeitet Quinn dann im Endeffekt? Ich meine, die OOA möchte das Enzym als Waffe, ganz klar. Wofür möchte Quinn es?"
Ich zögerte. „Harry, bitte flipp jetzt nicht aus. Zayn hat mir gesteckt, dass es um Quinn herum anscheinend eine kleine Gruppe an OOA-tätigen Oblivious gibt, die mit ihm an dem Enzym arbeiten, den Fortschritt aber nicht bis ganz nach oben weitergeben. Sie wollen es als geheimes Heilmittel entwickeln."
„Heilmittel?", unterbrach Harry mich in unheilvollem Tonfall. „Bitte sag nicht, dass du jetzt auch schon auf den Die-Mutation-ist-eine-Krankheit-Trip aufspringst."
Ungeduldig griff ich nach seinem Knie, viel zu frustriert, um zu bemerken, dass er bei der Berührung zusammenzuckte, als hätte er sich daran verbrannt.
„Meine Mutter war nicht die Einzige, die wegen ihrer Mutation in den Wahnsinn verfallen ist. Zayns Vater zum Beispiel..."
„Zayn also." Harrys sarkastisches Lachen hallte in meinen Ohren wider. „Sein Wort scheint ja in Stein gemeißelt zu sein."
Ich widerstand dem Drang, das Gesicht in den Händen zu verbergen. „Können wir bitte beim Punkt bleiben?"
„Sorry. Tut mir leid." Seine Mimik verhieß das exakte Gegenteil, doch da er sich trotzdem um Frieden bemühte, wies ich ihn nicht darauf hin. „Ich traue diesem Typen einfach nicht."
Vielsagend sah er auf sein Knie hinab, und dann erst ging mir auf, dass dort noch immer meine Hand lag, als hätte sie ein Recht dazu.
„Oh." Schnell zog ich sie zurück. Plötzlich fühlten sich meine Wangen an, als stünden sie in Flammen. „Sorry."
„Schon gut."
Und da hatten wir sie wieder. Diese seltsam angespannte, peinliche Atmosphäre, wie es sie zwischen uns eigentlich nicht geben dürfte. Ich war mir Harrys eindringlichem Blick nur zu bewusst, doch ich zwang mich dazu, meinen eigenen weiterhin auf das Handy gerichtet zu halten.
„Zayn war derjenige, der mich darauf hingewiesen hat, Tildas Plüschbären zu durchsuchen", fuhr ich fort, als wäre nichts gewesen. „Und er kennt Tilda, also müssen die beiden irgendwie zusammenarbeiten."
„Elton John ist nicht Tildas Plüschbär." Harry sprach so schnell, dass ich einen Moment brauchte, um ihn zu verstehen. „Es ist deiner. Du hast ihn schon als Baby von deiner Mum bekommen und ihn überall mit hingenommen."
„Wa-... oh." Aus irgendeinem Grund glich diese Information einem Schlag in die Magengrube. „Das wusste ich nicht."
Harry nickte knapp. „Wie auch. Es hat dir niemand gesagt."
Und du kannst dich ja an nichts erinnern.
Dieser Satz, der unausgesprochen zwischen uns schwebte, sollte eigentlich kein Vorwurf sein, fühlte sich aber trotzdem wie einer an. Jedenfalls für mich und meine verkorkste Wahrnehmung.
„Okay. Fuck." Ich rieb mir die Augen, um meine Betroffenheit zu überspielen. „Auf jeden Fall muss Tilda mit Zayn zusammenarbeiten, also gehe ich davon aus, dass sie auch Kontakt zu Quinn hat. Und du kennst Tilda, richtig? Viel besser als ich. Niemals würde sie ein Projekt unterstützen, das eine Waffe gegen Oblivious entwickelt."
Wie erwartet schüttelte Harry sofort den Kopf, so heftig, dass seine dunklen Locken in alle Richtungen flogen.
„Nein. Das würde sie absolut nicht tun." Nachdenklich schürzte er die Lippen. „Was ich aber trotzdem nicht verstehe: Meine und deine Mum waren wie Schwestern. Wenn Maura die Kontrolle über sich selbst verloren hat, muss meine Mutter das doch bemerkt haben. Selbst wenn sie nicht direkt darüber gesprochen haben, ist eine deutliche Verhaltens- und Wesensänderung doch nichts, was an einer engen Bezugsperson einfach so vorübergeht."
„Vielleicht wusste sie es, hat aber geschwiegen?"
„Und warum sollte sie das tun?"
Ratlos hob ich die Schultern. „Angst?"
„Angst?" Harry schnaubte. „Vor wem denn? Maura war buchstäblich die Anführerin der Rebellion."
Wie in Trance starrte ich die Bettdecke an. „Aber ... war sie das tatsächlich? Was, wenn sie gar nicht mehr in der Lage war, selbst Entscheidungen zu treffen oder Situationen einzuschätzen? Wenn ich das der Doku richtig entnommen habe, war von Halluzinationen bis hin zu chronischer Schlaflosigkeit und Erinnerungslücken alles dabei. Kein Mensch mit solchen Einschränkungen kann noch eine Leitungsposition besetzen. Vielleicht hat irgendjemand im Hintergrund die Entscheidungen für sie getroffen, aber sie im Vordergrund sprechen lassen? Jemand, der nicht wollte, dass ihre Labilität ans Licht kommt. Oder dass eine solche Labilität aufgrund der Mutation überhaupt existiert."
Harrys grüne Augen wurden immer größer. Endlich schien er zu verstehen, worauf ich hinauswollte.
„Jemand der davon überzeugt ist, dass die Mutation den Menschen uneingeschränkt verbessert", führte er meine Überlegungen fort. Das Beben seiner Stimme verriet seine helle Aufregung. „Heilige Scheiße, Niall. Bitte sag mir, dass du dieselbe Person im Kopf hast wie ich."
Ich biss die Zähne zusammen. „Habe ich vermutlich."
„Kann ich die Doku mal sehen?"
„Voilà." Ich reichte ihm das Smartphone, ehe ich mich räusperte. „Außerdem könnte es möglich sein, dass Quinn mir soeben eine Kooperation angeboten hat. Per SMS. Er meinte, ich soll mir erst die Doku komplett ansehen und mich dann melden. Wenn ich das möchte."
Harry wirkte nicht überrascht. „Dumm ist er ja nicht. Wenn ich mir das alles so anhöre, wusste er wahrscheinlich ohnehin, dass dieser Einbruch stattfinden wird, und hat mehr oder weniger darauf gezählt, dass du dir irgendetwas schnappst." Er warf mir einen schiefen Blick zu. „Diese Petrischale, die meine Mum wie ihr Heiligtum behandelt, die hast auch du geklaut, kann das sein?"
Trotz allem musste ich grinsen. „Kann sein. Zu meiner Verteidigung muss man allerdings anmerken, dass deine Mum mir befohlen hat, sie einzustecken."
Harry verdrehte die Augen. „Natürlich hat sie das. Ihr riskiert alle so gern euren Hals, dass ich ihn euch manchmal am liebsten selbst umdrehen würde."
„Nur zu."
Stille senkte sich über uns, als Harry damit begann, sich durch die Aufzeichnungen zu scrollen. Ich selbst saß daneben, mit Bauchschmerzen, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte, und zupfte unruhig an meinen Fingernägeln.
Mein nervöser Blick wanderte immer wieder zur Tür. Erwischen durfte uns hier niemand, außer vielleicht Anne. Ich fragte mich ohnehin, ob es nicht am klügsten wäre, Harrys Mutter einzuweihen und diverse Fragen zu stellen. Zum Beispiel, wieviel sie von Mauras geistigen Beeinträchtigungen mitbekommen und warum sie darüber Stillschweigen behalten hatte.
„Niall." Harry berührte mich am Arm. „Wie weit hast du gelesen?"
Ich überlegte kurz. „Fast bis zum Ende, denke ich. Als Ken zum ersten Mal erwähnt wird. Aber dann hat er mich ja höchstpersönlich überrumpelt." Ich löste den Blick vom Smartphone in seiner Hand, registrierte seinen merkwürdigen Gesichtsausdruck. „Warum?"
Anstelle einer Antwort reichte er mir das Handy. „Sieh es dir am besten selbst an."
Stirnrunzelnd überflog ich den ersten Absatz, den ich schon kannte.
Patientin berichtet von langanhaltender Schlaflosigkeit und übermäßigem Konsum von Medikamenten. Verzweiflung darüber, nicht mehr für ihr Kind sorgen zu können à Ihr fünfjähriger Sohn James lebt seit Kurzem bei Dr. Anne Twist, einer engen Bekannten der Patientin.
Wieder meldete sich dieses flaue Gefühl in meinem Magen zu Wort, als mir zum wiederholten Male aufging, dass es hier nicht um irgendeine fremde Person ging, sondern um mich. Dass meine Mutter mich tatsächlich an Annes Familie abgeben musste, nachdem sie festgestellt hatte, dass es bei ihr nicht mehr funktionierte. Ein Albtraum.
Äußerung von Sorgen bezüglich ihrer Position als Anführerin sowie bezüglich ihres Bruders Ken, der offenbar zunehmend Druck ausübt und ihre Labilität ausnutzt, um in ihrem Namen eigene Interessen durchzusetzen. Patientin spricht davon, dies nur in ihren sich verringernden, hellen Momenten zu begreifen und nichts entgegensetzen zu können. Sie spricht von Manipulation.
Sitzung muss wegen Orientierungslosigkeit der Patientin abgebrochen werden.
Zwischenfall: Patientin lässt Glasflasche durch den Raum fliegen; schafft es nur, diese zu stoppen, indem sie sich selbst Sedativum verabreicht. Bittet darum, die Sitzungen zukünftig in einem reizfreien, leeren Raum abzuhalten.
Verlegung der Sitzungen in den Time-Out-Raum.
Patientin spricht von vollkommener Machtlosigkeit; sämtliche Versuche, tiefenpsychologisch anzusetzen, scheitern. Beruhigende Medikamente schlagen nicht an.
Geplante Sitzung entfällt; Grund: Psychogener Anfall; erstmalige Beobachtung.
Erneutes Gespräch über Ken Gallagher; Patientin ist überzeugt davon, dass ihre Erinnerungs- und Wahrnehmungslücken gezielt von ihm ausgenutzt werden.
Hinweis, dass durch ihren Bruder eine große Aktion der Rebellen geplant wird; Patientin kann sich nicht an Einzelheiten erinnern, spricht jedoch von Unmenschlichkeit. Sie wirkt abwesend, fast apathisch.
Patientin beendet die Sitzung nach Eintreffen einer Nachricht überstürzt.
Geplante Sitzung entfällt; Grund unbekannt.
Geplante Sitzung entfällt; Grund unbekannt.
Telefonat, 29.10.1999, 00:03 Uhr: Patientin meldet sich über private Rufnummer; erweckt einen hellen, bewussten Eindruck; warnt vor Giftgasanschlägen auf OOA-kooperative Kliniken; direkte Aufforderung, Einsatzkräfte der OOA einzuschalten.
Notiz B.Q.: Die Warnung sowie der Standort der Rebellen wurden anonym weitergeleitet. Stützpunkt wurde von Einsatzkräften der OOA ein- und eine große Zahl der Rebellen festgenommen.
Kontakt zu Maura Gallagher bricht vollständig ab.
Ende der Dokumentation.
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Hier haben wir ihn: Den Plot-Twist, der wohl schon lange keiner mehr war.
Lieben Dank für alles & weiterhin frohes Lesen!
Andi❤
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