46) Kollateralschaden
Achtung: Gewalt und Erwähnung von Blut :)
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Erstaunlich leise sammelten wir uns auf dem Gang.
„Die OOA hat das Gebäude soeben über den Haupteingang betreten, wahrscheinlich aber nur ein Teil der Gruppe." Sorgfältig zog Ken die Tür des Labors hinter sich zu, wies dann sofort in die Richtung, aus der wir anfangs gekommen waren. „Der zweite Teil wird vermutlich eher früher als später hier auftauchen. Raus hier."
Das ließ sich niemand zweimal sagen.
Nichts rührte sich, als wir den Ausgang erreichten. Lediglich der biometrische Scanner zeigte sein charakteristisches, grünes Blinken, als Zayn den Finger darauflegte – diesmal ohne Aufforderung von Ken. Er schien zufrieden mit dem zu sein, was er im Labor beobachtet hatte.
Im Laufschritt legten wir die schmale Grünfläche zurück, bevor wir uns so leise wie möglich durch die Sträucher schlugen, die uns noch vom Parkplatzareal trennten.
Alles blieb ruhig, alles verlief nach Plan. Nur noch wenige hundert Meter, dann hatten wir den Wagen erreicht und konnten zum Rebellenlager zurückkehren.
Die Sohlen meiner Sneakers trafen auf den Asphalt des Parkplatzes. Neben ein paar illegalen Dauerparkern und noch illegaleren Wohnwägen war unser Fahrzeug das einzige, das um diese Uhrzeit hier herumstand. Zielstrebig hielten wir darauf zu. Ken sprach undeutliche Anordnungen in sein Headset, während er den Autoschlüssel zuckte, und Nadja, die direkt neben mir lief, steckte ihre Waffe weg.
Ich wog uns schon in Sicherheit.
Und dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
In einer Gruppe aus Sträuchern am Rande des Parkplatzes raschelte es, dann ertönte ein seltsames Ploppen, gefolgt von einem Zischen – und dann ging Nadja mit einem schmerzerfüllten Ächzen zu Boden.
Mein Adrenalinpegel schoss über ein gesundes Maß hinaus.
„Deckung!" Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Ken wild mit den Armen wedelte. „Auf geht's! Wir können uns keinen Kampf leisten!" Er griff nach seinem Headset, senkte jedoch seine Stimme nicht. „Achtung, wir stehen unter Beschuss! Nadja ist getroffen!"
Nadja.
Schlagartig wurde mir übel.
Sie war getroffen. Verletzt. Wir konnten sie doch nicht einfach ... liegenlassen?
Schlitternd kam ich zu einem Halt, genau in dem Moment, als dasselbe zischende Geräusch von vorhin erneut erklang, diesmal deutlich näher. Ein Luftzug streifte mein Gesicht, fast so, als hätte mich eine Kugel nur um wenige Zentimeter verfehlt.
„Niall!" Nun klang Kens Stimme unverkennbar wütend. „Niall! Was soll das werden?!"
Ich ließ mich nicht beirren. Meine Reflexe handelten für mich, als ich die wenigen Meter in die andere Richtung zurücklegte, zu der Stelle, an der Nadja gefallen war.
Die junge Frau lag noch immer dort an der Kante des Randsteins, ziemlich genau auf einer der weißen Linien der angezeichneten Parkbucht. Ihr blonder, kurzer Haarschopf hob sich in den dürftigen Lichtverhältnissen nur schwach vom Boden ab, ließ sie jedoch trotzdem zu einem gut sichtbaren Ziel werden.
Mit schlotternden Knien ging ich neben ihr in die Hocke. Ihr Gesicht hatte die leichenblasse Farbe von Kalk angenommen, ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen merkwürdig blutleer. Sie bewegte sich nicht.
War sie ... tot?
„Nadja?" Zögerlich berührte ich sie an der Schulter. Ich fühlte mich wie eine Zielscheibe, doch dieser plötzlich auftretende Helferdrang in mir erlaubte es nicht, die Flucht zu ergreifen oder in Deckung zu gehen. „Hey."
Man konnte nicht behaupten, dass ich die Rebellin sonderlich gut kannte. Um genau zu sein, bestanden unsere Interaktionen überwiegend darin, dass sie mir Befehle gab und mich wie einen Sack Kartoffeln herumzerrte.
Aber trotzdem brachte ich es absolut nicht übers Herz, meine Flucht fortzusetzen und keinen Gedanken mehr an sie zu verschwenden. Wie zum Henker fiel es Ken so leicht, einfach jemanden von seinen Leuten zurückzulassen? Nadja war eine seiner treuen Untergebenen, und als Dank für ihre langjährige Unterstützung ließ er sie verletzt liegen, wenn es darauf ankam? Überließ sie ihrem Schicksal, sobald sich die Lage ein bisschen zuspitzte? Welcher Anführer tat so etwas bitte?
„Vorsicht."
Jemand fiel neben mir auf die Knie, schob mich zur Seite, griff nach Nadjas lebloser Hand. Ein Zopf aus langem, dunkelbraunem Haar geriet in mein Sichtfeld.
Anne.
Zitternd lehnte ich mich ein Stück zurück, machte der Ärztin Platz, die sogleich mit schnellen, aber nicht hektischen Bewegungen eine kurze Untersuchung durchführte. Mein Blick flitzte von einer dunklen Ecke des Parkplatzes zur nächsten, versuchte, die Angreifer auszumachen.
Da.
Dort vorne kam eine Silhouette auf uns zu, hob den Arm, richtete den Lauf einer Schusswaffe auf uns.
Meine Kehle schnürte sich zu. Fahrig tastete ich nach meiner eigenen Waffe, mit der ich nur unzureichend umgehen konnte. „Anne!"
Aus Richtung unseres Fluchtwagens ertönte ein Ploppen, einen Wimpernschlag später ging die Silhouette zu Boden und blieb bewegungslos liegen.
Mein Kopf wirbelte herum, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Ken seine Waffe sinken ließ.
„Niall!" Seine Stimme glich einem Bellen. „Anne! Was zur verschissenen Hölle s-..."
Er brach ab, als er eine weitere Gestalt entdeckte, und machte sich stattdessen daran, diese ins Visier zu nehmen. Noch ein gedämpfter Schuss peitschte über den Parkplatz, diesmal jedoch ohne Treffer. Die Gestalt schaffte es im letzten Moment, hinter einem Wohnwagen abzutauchen.
Annes Hand, die auf meinem Knie landete, ließ mich zusammenzucken.
„Wir können nichts mehr tun." Sanft, aber bestimmt zog sie mich auf die Beine. „Sie ist tot."
Diese Nachricht traf mich unerwartet heftig. Erneut fanden meine Augen zu der toten Rebellin zu unseren Füßen, nahmen erst jetzt die Blutlache wahr, die sich nach und nach unter ihrem Körper ausbreitete und die weißen Linien des Parkplatzes rot färbte.
„Was?" Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. „Aber..."
Jemand packte meinen Arm so grob, dass ich befürchtete, er könnte jeden Moment meine Schultern auskugeln. Ken schleuderte mich förmlich herum, schien sich nicht darum zu scheren, dass ich beinahe zu Boden ging.
„Einsteigen!", schrie er mich an. „Seid ihr lebensmüde?"
Benommen taumelte ich vorwärts. Reuben und Rahel standen schon am Wagen, stopften einen widerwilligen Zayn auf die hinterste Sitzgruppe. Das inzwischen schrecklich vertraute Ploppen erklang aus nächster Nähe. Annes kühle Hand landete in meinem Nacken, drückte mich nieder.
Keine Sekunde zu früh.
Etwas kollidierte mit der Kofferraumklappe des Vans, jedoch handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Kugel, wie ich es erwartet hatte. Nein, das Objekt war zwar ebenfalls winzig, aber länglich mit glänzender Spitze an einer Seite und kurzen Federn an der anderen.
„Betäubungspfeile." Anne fluchte unterdrückt. „Sieht ganz so aus, als wollten sie einen von uns lebend."
Der Rest ihrer Worte ging im Strudel meiner eigenen Wahrnehmung unter. Plötzlich schien sich alles um mich herum zu verlangsamen. Die Stimmen wandelten sich zu einem verwaschenen Wirrwarr, mein Blickfeld wurde zu einem Tunnel.
Ich spürte die Kugel mehr, als sie zu hören oder gar zu sehen.
Ich spürte, wie sie auf uns zukam.
Blitzschnell und todbringend, zielgerecht auf der Höhe von Annes Kopf.
Kein Betäubungspfeil, wohlgemerkt, sondern eine reale, tödliche Pistolenkugel, die Anne treffen würde, wenn niemand etwas unternahm.
Blankes Entsetzen durchzuckte mich, färbte mein Blickfeld für einen kurzen Moment blutrot.
Nein. Nein!
Reflexartig versetzte ich Anne einen Stoß. Die Ärztin gab einen überrumpelten Laut von sich und stolperte, glücklicherweise direkt in die Deckung des Kleinwagens. Nun stand ich exakt an der Stelle, an der sie sich eben noch befunden hatte.
Aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht mehr bewegen. Die Kugel hingegen näherte sich unaufhaltsam, bereit dazu, meinen letzten Atemzug im Keim zu ersticken, und...
Das tödliche Geschoss prallte an mir ab. Nein, nicht ganz. Der Sauerstoff vor mir schien es förmlich zu verschlucken, als wäre er von einer Sekunde auf die nächste zu einer dehnbaren Masse geworden.
Die Kugel verlangsamte ihre Geschwindigkeit, drang noch bis zu meiner Nasenspitze vor, wo sie für einen kurzen Moment zum Stillstand kam. Ich konnte buchstäblich sehen, wie sie direkt vor meinem Gesicht kehrtmachte, wie sie sich langsam herumdrehte, ehe sie in die Richtung zurückzischte, aus der sie abgeschossen worden war.
Sämtliche meiner Sinne übersteuerten hoffnungslos.
Meine Augen verfolgten die Strecke der abgewehrten Kugel und weiteten sich, als ich registrierte, worin diese unbewusst gesteuerte Aktion enden würde.
„Stopp." Ruckartig taumelte ich vorwärts, beide Hände vor mir erhoben, als könnte ich auf diese Weise noch irgendetwas ausrichten. „Nein, das..."
Zu spät.
Ein ekelhaftes Geräusch drang an meine Ohren, dann sackte der OOA-Agent, der ursprüngliche Besitzer der Kugel, in sich zusammen.
Ich war wie erstarrt.
Mein Sichtfeld flimmerte.
Er war tot. Ich wusste es, ich spürte es.
Durch mich.
Ich hatte ihn getötet. Ich hatte einen Menschen getötet. Obwohl ich das gar nicht gewollt hatte. Oder etwa doch? So unterbewusst, dass es mir eben nicht bewusst war? Schon wieder hatte mein Kopf für mich gehandelt, rein rational, ohne meine emotionale Ebene, mein Gewissen miteinzubeziehen.
Meine Atmung wurde immer flacher.
Oh Gott. Oh-...
Mein Rücken sackte gegen das kalte Außenblech des Kleinbusses, doch gerade als meine Knie endgültig unter mir nachgeben wollten, schlang sich ein kräftiger Arm um meine Taille.
„Niall. In den Wagen." Kens Stimme, nun wieder erstaunlich ruhig und sanft. Als hätte er endlich begriffen, dass ihm sein Zorn hier nichts nutzte. „Du kannst nichts mehr tun."
Kraftlos ließ ich mich vorwärtsbugsieren. Hände verfrachteten mich neben Zayn auf die hintersten Sitze, dann erklang der Knall einer zuschlagenden Tür. Der Motor heulte auf, der Wagen setzte sich in Bewegung.
Mehrmals krachte es, als Kugeln mit dem Blech und den Fenstern kollidierten, und für einen kurzen Moment befürchtete ich, sie könnten die Reifen treffen – doch dann ließen wir den Parkplatz schon hinter uns.
Ohne Licht schossen wir die Straße entlang, bogen in halsbrecherischer Geschwindigkeit in eine Seitengasse ein, dann in eine andere, die in einer weiteren, größeren Straße mündete.
Kens Fluchen hallte in meinen Ohren wider, zusammen mit dem Quietschen der Reifen und dem unpassenden Gedudel eines Liebeslieds aus dem Radio, und dann befanden wir uns plötzlich schon auf der Autobahn.
Mehrere riskante Manöver später brachte Ken es fertig, uns zwischen ein paar Lastwägen einzuordnen, nun mit eingeschalteten Scheinwerfern, und unser Tempo auf ein vertretbares Level zu reduzieren.
Ruhe kehrte ein.
Unwirkliche, unheilvolle Ruhe, die schwerer auf meinem Gemüt lastete, als jede Lautstärke es jemals schaffen könnte.
Fassungslos ließ ich mich gegen das Sitzpolster zurücksinken, nahm nur am Rande zu Kenntnis, wie Zayn im Schutz der Sitze meinen Fuß mit seinem berührte.
„Irgendjemand verletzt?" Kens prüfender Blick machte durch den Rückspiegel die Runde.
Kollektives, sehr verbissenes Kopfschütteln folgte. Niemand nannte Nadjas Namen, doch er schwebte unausgesprochen zwischen uns. Wie ein stiller Vorwurf, wie ein Fluch. Zumindest in meinem Empfinden.
„Gut." Ich hatte den Eindruck, dass Ken das Lenkrad noch fester umfasste. „Die Mission war erfolgreich."
Ich schluckte ungläubig, löste meine Gedanken für einen kurzen Moment von dem gefallenen OOA-Agenten.
Erfolgreich? Erfolgreich?!
Jemand seines Teams war im Zuge dieser Mission gestorben. Und er nahm dennoch das Wort erfolgreich in den Mund? War Nadjas Tod für ihn einfach Kollateralschaden?
Zayns Hand landete auf meinem Knie, doch ich brachte es nicht über mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich hatte einen seiner Kollegen auf dem Gewissen, vielleicht sogar einen Freund. Erschossen. Hatte Zayn das überhaupt mitbekommen?
Fuck.
Der Rest der Fahrt verlief unter Schweigen, und mir blieb genug Gelegenheit, mich in meinen zerstörerischen Gedanken zu suhlen.
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Zur Abwechslung mal ein pünktliches Kapitel - ich fahre morgen mit ein paar Leuten für eine gute Woche nach Schweden, da werde ich wohl nicht so ganz zum Updaten kommen ^-^ Mal sehen, ob das Wetter mitspielt und wir ein paar Polarlichter sehen👀
Ansonsten dürft ihr am Mittwoch sehr gerne auf Instagram die Augen offen halten: Der Weltenbaumverlag veröffentlicht den offiziellen Buchtrailer von "Re(VE)al: Your Secrets"!😍🥺🎉 Ich werde versuchen, ihn ebenfalls zu posten, sofern WLAN und Dateiformat mitspielen😊 Es lohnt sich wirklich, ihn anzusehen, er ist wahnsinnig episch!!
Danke fürs Lesen und liebe Grüße!
Andi❤
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