43) Startfreigabe
Die Pistole lag schwer an meiner Seite, als ich kurz vor acht Uhr abends in die Haupthalle trat. Das Schulterholster war ein wenig zu eng, doch ich traute mich nicht, es weiter zu stellen, aus Angst davor, es bei einer möglichen Flucht zu verlieren.
Ich war davon ausgegangen, ein normales Hüftholster zu tragen, doch Ken hatte auf die Schultervariante bestanden. Mit der Begründung, dass man die Waffe dadurch viel leichter unter der Jacke verbergen konnte.
Recht hatte er, wie ich zugeben musste. Unter der etwas ausgebeulten, schwarzen Lederjacke der Rebellen zeichnete sich nicht einmal der Abdruck der Waffe ab, geschweige denn der des Gurts.
Trotzdem konnte ich es nicht lassen, ununterbrochen daran herumzuziehen. Die Waffe vermittelte mir zwar einerseits ein Gefühl der Sicherheit, doch andererseits löste sie eine merkwürdige Beklemmung in mir aus.
Ich spürte die tödliche Gefahr, die von ihr ausging. Und die Tatsache, dass ich derjenige war, der diese tödliche Gefahr steuern konnte, versetzte mich dezent in Panikzustände.
„Du hast es nicht nötig, nervös zu sein." Kens Worte, die er wiederholte, wann immer sich eine Gelegenheit dafür bot. „Selbst wenn du danebenschießt, wird die Kugel immer dein Ziel finden. Dafür sorgt deine Mutation."
Das sollte mich wohl beruhigen, erreichte jedoch das Gegenteil. Zayns Erinnerungen, seine Erzählungen schwelten tief in mir, insbesondere die zu seinem Vater, der die Kontrolle über seine Mutation verloren hatte.
Blühte mir das auch? Waren diese winzigen Details wie das unbewusste Deaktivieren eines Aufnahmegeräts oder eben das Steuern einer Kugel womöglich nur der Anfang vom Ende?
Je mehr ich darüber nachdachte, desto übler wurde mir.
Und dann befand sich natürlich auch noch diese Speicherkarte in meiner Hosentasche. Sie fühlte sich fast so schwer an wie die Waffe, schien sich durch den dicken Stoff meiner Jeans zu brennen und sämtliche Blicke der Rebellen auf sich ziehen. Nicht nur die der Rebellen. Nicht einmal Harry wusste noch davon. Oder Anne.
Unauffällig spähte ich zu Zayn hinüber, der einige Meter weiter in Handschellen zwischen Nadja und Reuben stand und scheinbar arglos die Decke anstarrte.
Ich spielte mit dem Gedanken, ihn einzuweihen.
Er hatte mich schließlich darauf hingewiesen, Tildas Geschenk näher zu inspizieren, er musste dann doch auch eine ungefähre Ahnung davon haben, was ich finden würde, richtig? Womöglich könnte er mir auch direkt helfen, ein geeignetes Gerät zu finden, um die Datei namens M.G.TD. zu öffnen.
Ich bemerkte gar nicht, dass ich ihn anstarrte, bis er prompt den Kopf hob und meinen Blick auffing. Unwillkürlich straffte ich den Rücken, darum bemüht, den Kontakt zu halten, statt ihm reflexartig auszuweichen.
Seine braunen Augen glänzten bedeutungsvoll, als wüsste er genau, was in mir vorging. Ehe ich mich zurückhalten konnte, nickte ich ihm schon zu. Nur ganz kurz und für jede andere Person kaum merkbar, doch Zayn entging es natürlich nicht.
Er erwiderte die Geste.
Ein kleines Lächeln zupfte an seinen Lippen, bevor er sich abwandte und wieder sein teilnahmsloses Gesicht aufsetzte.
„Hey." Eine vertraute Präsenz tauchte dicht neben mir auf. Harry, der es sich nicht nehmen ließ, einen Arm um meine Schultern zu schlingen. „Alles klar?"
Ich schenkte ihm ein schiefes Grinsen. „Natürlich. Ich liebe eventuell tödliche endende Einsätze über alles."
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Niall, du weißt, dass du ihnen nur den Standort und eine Wegbeschreibung liefern müsstest. Dann könntest du selbst hierbleiben. In Sicherheit."
„Ich weiß." Ich seufzte. „Aber ich will mir selbst ein Bild von der Lage machen, verstehst du? Ich möchte nicht einfach das glauben, was man mir vorgefertigt hinstellt. Ich möchte die Dinge mit eigenen Augen sehen."
„Trotzdem." Sein Griff um meine Schultern verstärkte sich. „Es gefällt mir nicht. Was, wenn es schiefgeht? Wenn ihr erwischt werdet und nicht zurückkommt? Wenn du nicht zurückkommst?"
Das mulmige Gefühl in meiner Magengrube verstärkte sich zu einem Rumoren.
Vorsichtig sah ich zu ihm auf. Die Sorge in seinen Augen erschreckte mich. „Harry, du weißt hoffentlich, dass du nicht den Teufel an die Wand malen darfst, ja? Es wird nichts schiefgehen. Ich finde mich dort schon zurecht, wenn ich die Räumlichkeiten vor mir habe. Und außerdem ist..."
Panisch brach ich ab, als mir aufging, was ich beinahe von mir gegeben hätte, doch leider kostete es Harry keine drei Sekunden, um es ebenfalls zu begreifen.
„Außerdem ist ja Zayn dabei", vollendete er meinen Satz bitter. „Ja, ich vergaß. Der edle, vertrauenswürdige OOA-Agent wird euch den Weg zeigen."
Jedes einzelne Wort tat weh. „Harry..."
„Er wird dir in den Rücken fallen." Der Satz drang nur undeutlich zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Dich ins offene Messer laufen lassen."
„Harry, nein." Sanft legte ich eine Hand auf seinen Arm. „Im Gegenteil. Er kann mir helfen, die Dinge herauszufinden, die ich brauche. Ich vertraue ihm."
„Mehr als mir?" Die tiefe Verletztheit in seinem Blick traf mich unvorbereitet, ließ mich unwillkürlich innehalten. Eine Sekunde später kniff er schlagartig die Augen zusammen. „Tut mir leid. Fuck. Ich muss damit aufhören. Ich habe Angst um dich. Du bist mir unfassbar wichtig und ich möchte dich auf keinen Fall verlieren. Nicht schon wieder. Und schon gar nicht wegen jemandem wie ihm."
„Wirst du nicht." Sengende Hitze ließ meine Wangen in Flammen stehen. „Das verspreche ich."
Bekümmert sah er auf meine Hand hinab, die noch immer auf seinem Arm lag, ehe er sie mit seiner umfasste und sie behutsam von ihrer Position löste. „Versprich lieber nichts, was du nicht halten kannst."
Meine Schläfen pochten. „Wir werden nicht..."
„Aufmerksamkeit!", dröhnte ausgerechnet jetzt Kens Stimme durch die Halle. „Starfreigabe! Findet euch in euren Teams zusammen, wir brechen auf!"
Frustriert knirschte ich mit den Zähnen. Es widerstrebte mir, jetzt von dannen zu ziehen und diese wichtige Konversation mit Harry so stehenzulassen, ohne etwas ausgesprochen zu haben.
„Harry, Moment." Leicht panisch griff ich nach seinem Shirt, als er sogleich wegtreten wollte. „Wir reden hier weiter, oder?"
„Na ja." Er ließ die Schultern kreisen, nach außen hin völlig entspannt, doch mich konnte er nicht täuschen. Sein Inneres war ein Schlachtfeld. „Wenn es für dich dahingehend noch etwas zu bereden gibt, gerne."
„Niall!" Schon wieder Kens Stimme. Mein Onkel stand nun an Reubens Stelle an Zayns anderer Seite, zusammen mit Anne. Alle drei sahen mir erwartungsvoll entgegen. „Es eilt."
Ich unterdrückte einen Fluch. „Okay. Wir sehen uns."
Harry reagierte lediglich mit einem knappen Nicken und es tat so weh, dass ich kurzerhand beschloss, ihm eine Umarmung zu verpassen.
Vermutlich dumm, weil ich ihm damit zweideutige Signale sendete, aber jetzt gerade war ich leider egoistisch genug, um seine Nähe zu suchen.
Zu meiner Erleichterung erwiderte er die Umarmung mit derselben Intensität, und als wir voneinander zurücktraten, spürte ich überdeutlich, wie er mit den Lippen meine Schläfe streifte.
„Pass auf dich auf. Niall, ich..." Er brach ab, eine seltsame Gefühlsmixtur im Gesicht. „Egal. Scheiße. Komm einfach in einem Stück zurück, okay?"
„Ich versuch's." Ich drückte seinen Arm noch ein letztes Mal, dann wandte ich mich endgültig ab, um auf mein Team zuzusteuern.
Ich brachte es nicht über mich, noch einmal zurückzusehen.
Stattdessen tastete ich instinktiv nach der SD-Karte in meiner Hosentasche, doch die befand sich natürlich noch immer sicher darin verstaut.
„Na?" Zayn empfing mich mit einem gezwungenen Grinsen. „Ausgiebig von deinem Freund verabschiedet?"
Ein seltsamer Unterton schwang in seiner Stimme mit, der mich aufhorchen ließ. „Was?"
Zayn verdrehte die Augen und hätte sicherlich zusätzlich abgewinkt, wären seine Hände frei gewesen. „Vergiss es." Er musterte mich interessiert. „Bereit?"
„Muss ich wohl sein." Ich wies auf seine Handschellen. „Viel Spaß mit denen."
In einem Anflug von Belustigung schürzte er die Lippen. „Vielen Dank. Ich weiß deine Sorge zu schätzen."
Ich musste mir ein Lächeln verkneifen. „Gerne. Immer doch."
Ken, der unseren Schlagabtausch stirnrunzelnd verfolgt hatte, schüttelte nun den Kopf. „Seid ihr jetzt fertig? Ab zum Wagen."
Niemand hatte etwas einzuwenden. Ken sorgte dafür, dass er und ich Seite an Seite vorangingen, mit dem Resultat, dass ich die Blicke verschiedenster Leute in meinem Rücken brennen spürte.
Zayns. Annes.
Vor allem aber den Harrys.
Ich wusste, dass er in verlorener Postur noch immer an Ort und Stelle stand, die Arme an beiden Seiten hinabhängend, und uns hinterherblickte. Mir hinterherblickte.
Sicherlich hatte er meinen Austausch mit Zayn ebenso gut mitbekommen wie jeder andere. Die verhaltene Zuneigung zwischen uns, die wir mit Sticheleien zu übertünchen versuchten.
Allein der Gedanke an Harrys Verletztheit brachte meinen Magen dazu, sich zusätzlich zu verknoten.
Und als Zayn mich in der Tiefgarage beim Einsteigen noch einmal unnötig anrempelte, sich dabei unsere Handrücken auffällig lange berührten und ein Kribbeln meinen Arm emporschoss, hatte ich das Gefühl, jeden Moment an mir selbst ersticken zu müssen.
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Obwohl es kurz ist, ist das einer meiner Lieblingskapitel👀
Vielen Dank für alles und liebe Grüße!
Andi♡
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