25) Erinnerungen?
„Konzentriere dich."
Tildas Stimme war wie immer unfassbar sanft, gleichzeitig jedoch schneidend genug, um in mein überfordertes Bewusstsein vorzudringen.
Ihre grauen Augen glänzten erwartungsvoll, und je länger ich den Blickkontakt aufrechterhielt, desto mehr hatte ich das Gefühl, sämtliche Farbnuancen darin wahrnehmen zu können.
Hellgrau, Dunkelgrau, Silber. Ein leichter Schimmer von Hellblau?
Ich zwang mich, die Farben zu ignorieren. Es nutzte mir gerade herzlich wenig, Tildas Iriden zu analysieren.
„Woran denke ich?" Kurze Pause. „Niall?"
Ich hatte Kopfschmerzen.
Zwar bei weitem nicht so überwältigend wie bei meinen Versuchen mit der Telekinese, aber stark genug, um meine so dringend erforderliche Konzentration schwinden zu lassen.
Zudem lag mir auch noch die Auseinandersetzung mit Harry von vorhin im Magen – immer wieder tauchte sein verletzter Gesichtsausdruck vor mir auf, die Fassungslosigkeit in seinen Augen.
Und dann war da natürlich noch diese Unwissenheit, was meine Zukunft betraf, die Sinnlosigkeit, mit der ich kämpfte. Das Gefühl, auf ewig im Verborgenen vor mich hin zu vegetieren, ohne wirklich eine Möglichkeit zu haben, etwas daran zu ändern. Die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer Leute, ohne selbst einen Einfluss darauf zu haben.
Tildas Seufzen riss mich aus meinem toxischen Gedankenstrudel.
„Junger Mann, deine Aufgabe ist, in meinen Kopf gelangen, anstatt mir den Inhalt von deinem hinzuwerfen." Sie hielt inne. „Was auch immer du für einen Zoff mit Harry am Laufen hast, ich bin sicher, ihr könnt ihn lösen."
Missmutig brach ich den Blickkontakt und damit den Versuch, ihre Gedanken zu erreichen.
„Ich kann es nicht." Meine Frustration erreichte nach und nach ein Höchstmaß. „Wieso kann ich es denn nicht? Davor habe ich ständig alles gehört und gespürt, ohne es überhaupt zu wollen. Jetzt bekomme ich ohnehin nur noch wenig mit, und sobald ich es gezielt versuche, ist es ganz vorbei. Ich dachte noch, dieser telepathische Kram wird ein Heimspiel!"
Tilda wirkte nicht sehr beeindruckt von diesem Ausbruch. Wer wusste schon, mit welchen Aggressionen sie von ihren anderen Schülern konfrontiert wurde.
„Dass dein Geist zuvor wahllos alles aufgefangen und angezapft hat, was er erreichen konnte, liegt daran, dass er sich im Kampf gegen das Medikament befand und somit hochaktiv war. Dieser Kampf ist vorbei. Jetzt liegt es an dir, deine Fähigkeiten bewusst zu aktivieren. Du kontrollierst sie, nicht umgekehrt."
Diese Erklärung war zwar interessant, für die Praxis aber irrelevant und nutzlos.
„Ich weiß aber nicht, wie." Ich war mir meines quengeligen Tonfalls nur zu bewusst, konnte ihn aber trotzdem nicht abstellen. „Was bringen mir diese Fähigkeiten, von denen ich angeblich so viele habe, wenn ich sie nicht nutzen kann? Das ist doch absurd."
Aus den Augenwinkeln erregte der viel zu bunte, viel zu gefiederte Elton John meine Aufmerksamkeit, und ich musste den verkleideten Plüschbären zur Seite schieben, bevor ich ihn womöglich aus dem Fenster warf. Das arme Vieh konnte ja nichts für meinen Frust.
„Gib mir deine Hände." Tilda streckte mir ihre eigenen über den Schreibtisch hinweg entgegen. „Los."
Zögerlich kam ich der Aufforderung nach, unsicher, was mir nun wohl wieder blühen mochte. Tildas Hände waren warm, ihr Griff fest, als sie meine Finger umfasste.
„Bereit?"
„Ähm." Unruhig rutschte ich in meinem Stuhl umher. „Wofür?"
Der Seitenblick, den sie mir daraufhin zuwarf, war eine Mischung aus verständnisvoll und vernichtend.
Garantiert war ich einer ihrer schlimmsten Schüler überhaupt.
„Da ich ja nicht direkt in deinen Kopf komme und dir Bilder vorführen kann, werde ich dir jetzt zumindest das Gefühl der Gelassenheit vermitteln. Jene Gelassenheit, die du brauchst, um dich auf deinen eigenen Kopf und auf dich selbst einzulassen. Das ist ..." Sie zögerte. „Das hat schon einmal funktioniert. Bei jemandem, der dir sehr ähnlich war. Zwar etliche Jahre jünger, aber ähnlich."
Ich war viel zu nervös, um mir über ihre Wortwahl Gedanken zu machen. „Okay."
Fuck.
Ihr Griff um meine Hände verstärkte sich und als sie die Augen schloss, tat ich es ihr unwillkürlich nach, noch immer ein wenig bang vor dem, was sie nun vorhatte. Glücklicherweise verzichtete sie darauf, einen spitzigen Kommentar zu meiner Panik abzugeben.
Stattdessen dauerte es nicht lange, da machte sich schon eine Empfindung in mir breit. Fremd und ungewohnt, aber unverkennbar warm und mit freundlicher Gesinnung. Fast sofort verflüchtigte sich ein Teil meiner Anspannung und machte Platz für ...
Freiheit.
Das war es, was Tilda mir vermittelte.
Freiheit, die bis in meine Zehenspitzen vordrang, sich in meiner Brust ansiedelte und meinen Nacken kribbeln ließ. Meine Sinne schienen sich zu entfalten, mein Geist schien sich auszudehnen, schien in Ecken meines Kopfes vorzudringen, in die er es bisher nie geschafft hatte.
Wie von selbst beschleunigte sich meine Atmung, als könnte es meinen Lungen gar nicht schnell genug gehen, Sauerstoff in sich aufzunehmen.
Bilder flimmerten vor meinen Augen, Wortfetzen nicht identifizierbarer Stimmen hallten in meinen Ohren wider, längst vergangene Emotionen kochten in mir hoch.
Mit einem Keuchen registrierte ich, womit ich es hier zu tun hatte.
Erinnerungen.
All das, was mein Geist hier aus seinen Tiefen hervorkramte, waren Erinnerungen. Bruchstückhaft und längst vergessen, abgeschottet oder verdrängt, und doch schaffte er es mit Tildas Hilfe, alles an die Oberfläche zu bringen und zurück in mein Bewusstsein zu schleudern.
Es war wundervoll.
Jedenfalls so lange, bis es plötzlich in Überforderung umschlug.
Es fühlte sich falsch an. Falsch und richtig zugleich.
Da waren Dinge, von denen ich nicht ansatzweise gewusst hatte, dass sie in meinem Kopf existierten.
Plötzlich erschien mir das Gefühl von Tildas Geist viel zu vertraut. Tildas Griff um meine Hände war bekannt. Ebenso der silbrige Farbverlauf ihrer grauen Augen, ihre vereinnahmende, selbstsichere Präsenz.
Ein erstickter Laut entschlüpfte mir, als ich reflexartig zurückzuckte und mich der Berührung entzog, in dem Versuch, die Bilder und Stimmen und Gedanken in meinem Kopf zu stoppen.
Vergeblich.
Verzweifelt presste ich mir die Handballen an die Schläfen, einen schweren, pfeifenden Atemzug nach dem anderen nehmend, und dann zuckte flammender Schmerz blitzartig durch meinen Kopf. Wie eine Art Kurzschluss.
Grelles Licht flimmerte vor meinen Augenlidern, und offenbar war ich irgendwann während dieser Tortur von meinem Stuhl aufgesprungen und rückwärtsgestolpert, denn meine Beine kamen mit irgendeinem Gegenstand in Kontakt und ließen mich endgültig zu Boden gehen.
Den Aufprall spürte ich gar nicht, lediglich ein zusätzliches, dumpfes Pochen meldete sich in meinem Hinterkopf zu Wort.
Metallischer Geschmack füllte meinen Mund, warme Flüssigkeit benetzte meine Lippen, das Rauschen in meinen Ohren schwoll zu einem unerträglichen, betäubenden Tosen an...
Und dann war nichts mehr.
Vorerst.
-------------------------
Kurzes Kapitel. Ich versuche, das nächste so schnell wie möglich zu überarbeiten ^-^
Kleine Meldung: Falls jemand Bock auf einen weiteren Bookstagram-Account hat, kann ich den von bookmuse_ , moontosun und mir anbieten - man findet uns auf Instagram unter die_buecherkommissare 😇 Wir sind noch beim Aufbau, aber aktuell findet man dort unter anderem Buchmeinungen & Zitate. Schaut gern vorbei, wenn ihr mögt😊
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!
Andi❤
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro