{ 47. Kapitel }
Am nächsten Morgen galt mein erster Blick der Balkontür, die gräulich-blaues Dämmerlicht in mein Zimmer schickte. Als ich mich erhob, die Tür nach innen hin öffnete und auf den Balkon trat, sog ich die kühle Luft des beginnenden Tages tief in meine Lungen. Ein leichtes Frösteln lief über meine Arme und mein Dekolleté. Ich hatte zum Schlafen nur ein dünnes Top angezogen, das für diese Witterung eindeutig nicht geeignet war. Ein frischer Wind blies mir ein paar meiner dunklen Strähnen ins Gesicht, der Himmel war bedeckt, dicke Wolken gingen Grau in Grau ineinander über und den Stand der Sonne konnte man nur erahnen. Vielleicht ändert sich das Wetter bis zur Nacht nicht und ich entgehe der Gefahr, in meine Mondtrance zu verfallen. Aber bei meinem Glück wird sich pünktlich zum Sonnenuntergang der Himmel öffnen und mir eine tadellose Sicht auf alle nächtlichen Himmelskörper ermöglichen. Mein zunächst hoffnungsvoller Blick wurde leicht säuerlich, als meine Gedanken eine Kehrtwende machten und mit einem tiefen Seufzer wandte ich mich von der Balustrade ab und ging zurück in mein Zimmer.
Nach einer ausgiebigen Dusche, in der mir einmal mehr auffiel, wie sehr mir mein vertrauer Wasserlilien-Duft fehlte, machte ich mich auf den Weg in den Speisesaal. Bei einem routinierten Blick in den Spiegel war mir bewusst geworden, dass die Zeichen des Angriffs von Sakras mittlerweile nicht mehr als Bissmale zu erkennen waren. Aus diesem Grund trug ich nun ein einfaches schwarzes, dem Wetter angepasstes Langarm-Shirt, welches nicht mehr so hochgeschlossen war wie diejenigen, die ich in den letzten Tagen getragen hatte. Ich musste zugeben, ich hatte mich in dadurch ein wenig eingeschränkt gefühlt und auch nicht sonderlich sehr wie ich selbst. Zuhause hatte ich nie etwas Hochgeschlossenes getragen und auch nicht mit meinen Reizen gegeizt. Allerdings war es unter den Umständen hier nicht möglich gewesen, meinen Hals offen zu präsentieren und ich war mir auch nicht sicher, ob ein wenig Ausschnitt die Verlockung meiner Kehle nicht noch weiter betonte. Merkwürdigerweise verlieh mir die gewohnte Kleidung, die ich stets in der Neyen-Akademie getragen hatte, jedoch trotz der Umstände ein Gefühl von Selbstsicherheit und auch von Selbststärke und deshalb beschloss ich, keinen Schal oder Ähnliches zu verwenden, um meinen Ausschnitt sowie die Region rund um mein Schlüsselbein zu verbergen.
Als ich nun nach draußen trat und das Wohngebäude hinter mir ließ, genoss ich die Brise, die über die Stellen meines Oberkörpers strich, die nicht von Kleidung abgeschirmt war. Meine Beine zierte eine dunkelblaue Jeans und meine Füße...nun, sie waren wie immer nackt. Ich musste zugeben, dass ich mir unter all den layphischen Schuhträgern in den letzten Tagen immer merkwürdiger vorgekommen war, aber allein der Gedanke an ein Material, das den direkten Kontakt zwischen mir und dem Boden unterbrach, verursachte mir eine Gänsehaut der unguten Art.
Wenige Momente später betrat ich den Speisesaal und wollte mir meinen Teller wie gewohnt mit dem Deko-Obst und dem Deko-Gemüse füllen, als ich bemerkte, dass auf einem kleineren Beistelltisch am Rande des Büfetts ein Müslispender, kleine Brötchen, Marmelade und ein paar Croissants aufgetischt waren, zusammen mit einem kleineren, durchsichtigen Gefäß, das Milch enthielt. Mit großen Augen schritt ich darauf zu und ließ meinen Blick beinahe fassungslos über die Speisen gleiten, die ich seit knapp einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte und das Wasser lief förmlich mir im Mund zusammen.
„Ist etwas für dich dabei?" Aus dem Nichts heraus erklang Navarras seidenweiche Stimme hinter mir und ich konnte ein leichtes Zusammenzucken nicht unterdrücken. Ich atmete einmal tief durch, um den kleinen Schreck aus meinen Gliedern und meinem Gesicht zu vertreiben, wandte mich anschließend zu ihm um und nickte.
„Auf jeden Fall. Danke", antwortete ich ihm schlicht und ehrlich. Ich war wirklich dankbar. Oftmals hatte sich bereits vor der Mittagszeit wieder ein Magenknurren bei mir eingestellt, was ja auch nicht wirklich verwunderlich war, wenn man bedachte, dass das wenige Obst und Gemüse einige Tage lang meine einzige Nahrungsquelle gewesen war. Diese Auswahl jetzt vor mir zu sehen...damit hatte ich schon gar nicht mehr gerechnet oder gar darauf gehofft.
„Dank nicht mir, sondern Cyrion." Navarra nickte in Richtung des Ecktisches, an dem sich Brax und sein lockenköpfiger Freund zusammen mit zwei anderen Layphen bereits eingefunden hatten.
„Cyrion?" Ich blinzelte überrascht und warf dem Akademieleiter einen fragenden Blick zu.
„Er hat mir verraten, dass er dir ein wenig das Kämpfen lehren möchte und war der Ansicht, dass das, was auf unserem Büfett für dich angeboten wurde, nicht nährreich genug war." Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen, das sie ein wenig raubtierhaft verzerrte. „Du kannst dich glücklich schätzen. Er ist sehr talentiert." Beinahe väterlich anmutend hob Navarra eine Hand und legt sie auf meine Schulter. Als ich sie ein wenig überrumpelt musterte, jedoch keine Anstalten machte, zurückzuweichen, bildete sich ein erneutes, wohlwollendes Lächeln auf Navarras Lippen. Er entfernte seine Hand von mir, nickte mir zu und verschwand durch eine kleine Seitentür, die ich bis dato noch gar nicht wahrgenommen hatte.
Unzählige Gedanken huschten durch meinen Kopf. Ich fühlte mich nach dieser Situation komplett überfordert, weil ich ein derart freundliches Verhalten von den neyischen Professoren absolut nicht kannte. Und mich irritierten meine Gefühle, denn Navarras Berührung hatte weder Abscheu noch Furcht oder Unwohlsein in mir ausgelöst. Natürlich hatte ich auch keine warmen oder positiven Empfindungen wahr genommen, aber dennoch...er war ein Layph. Zudem der Akademieleiter. Und der, vor dem ich an meinem ersten Tag auf die mächtige Buche geflüchtet war. Für mich glich meine Reaktion einem kleinen Meilenstein und ich wusste, dass noch ein Teil von mir wieder an seinen Platz gerückt war.
Als ich nun meinen Blick durch den Saal gleiten ließ, bemerkte ich, dass mich kaum ein Layph in einer außergewöhnlichen Art und Weise musterte oder gar anstarrte. Sie waren alle mit sich selbst oder ihren Sitznachbarn beschäftigt. Inmitten dieser Horde fühlte ich mich...erstaunlich normal. Ich musste gegen keinen Fluchtdrang ankämpfen oder befürchtete, dass mir einer etwas antun würde. Die informativen Gespräche der vergangenen Tage, die Trainingseinheiten mit Cyrion und Brax und die schwindenden Anfeindungen durch Dasyl hatten dazu geführt, dass ich einen Großteil meiner Scheu verloren hatte und dass meine Angst, die durch den Angriff Sakras geschürt worden war, großflächig abgeklungen war – zumindest, wenn ich nicht nachts allein umherstreifte.
Mit einem kleinen Lächeln füllte ich meinen Teller und schnappte mir eine Schale, die ich mit Müsli und Milch begoss. Dann überwand ich die Distanz zwischen mir und meinem „Stammtisch", ließ mich auf den freien Platz neben Brax sinken und begann glücklich, meine erste reichhaltige Nahrung in mich hinein zu löffeln. Für einen kurzen Moment schien meine Welt wieder in Ordnung zu sein, obwohl ich in einer nach wie vor fremden Akademie, die von ausschließlich männlichen und weitestgehend unbekannten Wesen, die direkt neben mir Blut in sich hinein schütteten, gefangen war. Beinahe wie von selbst flog mein Blick zu Cyrion, der in seinem Kauen innegehalten hatte und mich einen kurzen Moment lang mit einem winzigen, schiefen Lächeln betrachtete, bevor er seine Augen von mir abwandte und dem Layph, der rechts von ihm saß, antwortete. Und allein der Gedanke, dass der stille, unnahbar wirkende Krieger dafür verantwortlich war, dass ich mich endlich wieder satt essen konnte, führte dazu, dass sich exakt das gleiche Lächeln für einen kurzen Moment auch auf meinen Lippen formte.
***
Gut eine halbe Stunde später wartete ich mit Brax und zwei anderen, mit Gepäck und Proviant ausgestatteten Layphen namens Kol und Quil vor der Akademie auf den letzten Layphen, der uns begleiten würde. Brax hatte mir bereits gesagt, dass Cyrion uns auf dieser Tour nicht begleiten würde und ich wusste nicht ganz, was ich davon halten sollte. Einerseits löste der Layph mit dem goldfarbenden Haar in mir größtenteils ein Gefühl der Sicherheit aus, welches vermutlich daher rührte, dass er mich vor Sakras gerettet hatte. Und dieses Gefühl hätte ich heute inmitten der fremden Layphen und der fehlenden Akademieumgebung gut gebrauchen können. Abgesehen von Brax war er auch der Layph, mit dem ich am meisten Zeit verbrachte und den ich vermutlich auch am ehesten zu meinem winzigen Freundeskreis dazu zählen konnte.
Andererseits besaß Cyrion diese merkwürdige Eigenschaft, mich ständig zum Grübeln zu bringen – vor allem, was ihn selbst betraf. Er hatte irgendeine Art an sich, die mich forderte und faszinierte, vermutlich, weil ich ihn noch nicht allzu gut einschätzen konnte und er ein kleines Rätsel war, dass ich noch nicht in der Lage gewesen war, zu entschlüsseln. Ganz davon abgesehen war ich nicht sonderlich scharf darauf, mich ihm in einer wiederholten Mondtrance zu präsentieren, und da dies am heutigen Tag ganz und gar nicht unwahrscheinlich war, war es vermutlich von Vorteil, dass er und ich heute getrennte Wege gingen.
Mit den Zehen grub ich immer wieder kleiner Mulden in die weiche Erde vor mir, während ich gedankenverloren zum Waldrand starrte. Wir würde heue wohl nur kurz den Duft der harzigen Kiefern genießen können, weil Brax mir erklärt hatte, dass hinter dem östlichen Wald die lange Reihe an Feldern begann, die den Wildtieren und gleichzeitigen Blutlieferanten der Layphen als Lebensraum diente. Als hinter mir Stimmen laut wurden, drehte ich mich um, mittelmäßig gespannt darüber, wer uns heute noch begleiten würde.
Noch bevor ich sah, dass sich Brax' Kiefermuskeln anspannten, wusste ich, wer uns entgegen kam und ich stöhnte genervt auf. Warum er? Hätte es nicht einer der anderen gefühlt hundert Layphen sein können, die ich kaum kannte und die vermutlich nichts gegen mich hatten?
Auch Dasyl zog eine Miene, die tatsächlich noch schlechter war als das Wetter am heutigen Tag. Missmutig warf er den anderen einen Blick zu, mich ignorierte er vollkommen. Tatsächlich wäre es mir lieber gewesen, wenn er mir einen provokanten oder abfälligen Spruch entgegen geworfen hätte. Es gab kaum etwas, das mich mehr aufregte, als ignoriert zu werden und das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass man nicht anwesend sei.
„Dir auch einen schönen Guten Morgen, Dasyl", zwitscherte ich betont fröhlich und wartete darauf, von seinen funkelnden Augen durchbohrt zu werden, doch er zeigt nach wie vor keine Reaktion sondern stapfte einfach an allen vorbei in Richtung des östlichen Waldgebietes.
Als ich Brax einen Blick zuwarf, der mehr als tausend Worte sagte, schüttelte er nur den Kopf und rollte mit den Augen. Das kann ja eine heitere Tour werden.
Schweigend machte auch der Rest von uns sich dazu auf, dem dunkelhaarigen Hünen zu folgen, während die dichte, graue Wolkendecke am Himmel uns begleitete.
***
Nach etwa einer halben Stunde Wanderung hatten wir den erdigen Waldweg hinter uns gelassen. Als wir das offene Feld betraten, welches zur rechten Seite von einem dunkelbraunen, bereits stellenweise leicht verwitterten Holzzaun begrenzt wurde, begrüßte uns ein leichter Nieselregen, der Brax dazu veranlasste, sein Gesicht zu verziehen und eine Kapuze über seinen Kopf zu streifen. Mitfühlend tätschelte ich ihm die Schulter und als er mir das Gesicht zuwandte, reckte ich meines in den Regen und genoss es, die zarten Wassertropfen auf meiner warmen Haut zu spüren. Das Gras unter unseren Füßen glich einer zarten Melodie, die mit meinen Zehen spielte und die Feuchtigkeit, die sowohl der Regen, als auch der Morgentau darauf hinterlassen hatte, belebte jeden Teil in mir. Beinahe beschwingt setzte ich einen Schritt vor den anderen und ließ mich sowohl von Brax' als auch von Dasyls mieser Laune nicht mehr im Geringsten beeinflussen.
Hin und wieder legten wir einen Stopp ein, um schiefe Masten mit einem Hammer, den Quil mitgenommen hatte, zu richten oder überprüften den Drahtzaun, der teilweise nur noch auf halber Höhe hing. Aus der Ferne entdeckte ich hin und wieder ein Pferd, eine Kuh oder ein Schaf und ich war unglaublich froh, dass wir heute nur ihre Gehege überprüfen mussten und ihnen kein Blut abzapfen sollten – oder wie auch immer die Layphen an ihr Grundnahrungsmittel kamen.
Während wir unermüdlich weitergingen kam ich dann und wann nicht umhin, mich zu fragen, auf welchem Wege Sakras von der Insel verschwunden war. War er möglicherweise denselben Weg lang gelaufen, den wir gerade beschritten? In meine Überlegungen schlichen sich immer und immer wieder seine grün blitzenden Augen. Cyrion hatte behauptet, dass so etwas nicht möglich sei, aber war er ehrlich zu mir gewesen? Würde Brax vielleicht mehr wissen? Und wenn ja, würde er mir die Wahrheit sagen? Ich suchte nach einer Möglichkeit, ihn ungestört danach zu fragen, aber Brax' Laune schien von Minute zu Minute schlechter zu werden. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es möglicherweise nur an Dasyls Anwesenheit lag, denn der Layph mit dem flachsblonden Haar starrte unerbittlich auf den Rücken des Hünen und schien schwer damit beschäftigt zu sein, ihm Todesblicke zuzuwerfen. Eine zweite Ursache mochte eventuell der Regen sein, der nach wie vor unermüdlich vom Himmel fiel. Was auch immer der Grund war – es erschien mir ganz und gar nicht angemessen oder hilfreich, Brax nun nach grün schimmernden Augen zu fragen.
Als irgendwann meine Füße ein wenig zu schmerzen begannen und die Zaunreihen kein Ende zu nehmen schienen, hatte der Wind schon längst aufgefrischt. Die langen Halme auf den Feldern bogen sich stark der Erde entgegen und entferntes Laubrascheln vereinsamter Bäume auf den weiten Wiesen klang melodisch an mein Ohr. Gleichzeitig wurde der Himmel dunkler und der Regen stärker. Es schien ganz so, als würde sich mein Wunsch bezüglich dem Bedecktheitsgrad des Himmels am heutigen Tag erfüllen. Obwohl ich eine Nereide war und das Wasser liebte, wurde mir der Sturm, der mit der Zeit immer stärker zu werden schien, irgendwann ein wenig zu stark. Die Böen peitschten mir meine klatschnassen Haare immer wieder ins Gesicht und ich musste mich dem Wind beinahe entgegen stemmen. Zudem nahm das Tageslicht merklich ab.
Brax' Gesicht, das unter seiner dunklen Kapuzenjacke hervor lugte, wurde immer griesgrämiger. „Lasst uns Schluss machen für heute!", brüllte er dem Sturm entgegen. „Den Rest schaffen wir morgen!"
Dasyl, der immer noch an der Spitze unserer Truppe ging und den ganzen Tag kaum drei Worte verloren hatte – nicht einmal während der kurzen Rast, die wir gegen Mittag eingelegt hatten – drehte sich zu Brax' um und funkelte ihn so zornig an, als trüge der Layph mit dem flachsblonden Haar die alleinige Schuld an der augenblicklichen Witterung. „Wir halten erst an, wenn ich es sage!", rief er mit lauter Stimme zurück, die keinen Widerspruch zu dulden schien.
„Wer hat dich zum Anführer gemacht?", stand ich Brax' bekräftigend zur Seite und erwiderte Dasyls Blick mit Härte in meinen blauen Augen.
Dessen Blick troff förmlich vor Hohn und Spott meiner Person gegenüber. „Ich schätze, am ehesten Navarra. Er hat mir befohlen, heut auf dich Acht zu geben – frag mich nicht warum. Abgesehen davon geht es mir auch am Arsch vorbei. Da es dir noch gut geht, gehen wir weiter." Der Wind hatte einzelne Wörter von seinen Lippen geweht, doch dank seiner dunklen, durchdringenden Stimme war es mir trotzdem möglich gewesen, jedes seiner Worte zu verstehen. Während er zu uns gesprochen hatte, war er näher gekommen, sodass ich zu ihm aufschauen musste. Nun schickte er mir noch einen eiskalten Blick, bevor er sich umdrehte und zum Gehen wandte.
Kols Hand, der sich um seinen Arm schlang, hielt den zornigen Layphen zurück. „Hey, Dasyl, warte doch mal. Das Wetter ist echt beschissen. Wenn wir unsere Zelte jetzt nicht aufschlagen, weiß ich nicht, ob wir später noch dazu in der Lage sein werden."
Zähneknirschend ließ Dasyl den Blick an Kol hinab gleiten, dessen schwarzes Haar in seiner Kapuze verschwand. Nun gab auch Quil seinen Senf dazu.
„Sei nicht so stur, Alter." Der Regen malte seine Spuren auf Dasyls Wangen, der als Einziger der Layphen seinen Kopf nicht bedeckt hatte, obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, denn auch er trug eine Jacke inklusive Kapuze. War er zu stolz, war er zu stur, oder war es ihm zu lästig? Ich konnte es nicht sagen.
Die Härte, die sich in seinem Blicke zeigte, wich weniger starkem Widerwillen und er fuhr sich mit der rechten Hand zornig durch die Haare, wobei er Kols Hand mit einem Ruck entfernte.
„Von mir aus. Aber der Neyin helfe ich nicht."
Waren wir wieder zu unseren Anfängen zurück gekehrt? Zweifellos.
„Keine Sorge. Ich brauch' deine Hilfe nicht." In Wahrheit wurde mir ein wenig mulmig. Tatsächlich hatte ich in meinem Leben noch nie gezeltet – wir Neyen hatten immer unter freiem Himmelszelt geschlafen. Ganz abgesehen davon, dass es unheimlich windig war und wie aus Kübeln goss – ein Zustand, bei dem ich noch nicht draußen übernachtet hatte – war mir der Gedanke nicht ganz geheuer, ungeschützt zu schlafen. Da blieb im Prinzip nur noch die Frage, wie ich es schaffen sollte, mein Zelt aufzubauen.
Während die Layphen mit vereinten Kräften die Planen fest hielten und die Heringe in die Erde schlugen, zog auch ich mein Zelt aus dem dunkelblauen Rucksack hervor, den mir Brax vor unserem Ausflug in die Hand gedrückt hatte. Beinahe augenblicklich blies der Wind so stark gegen die ebene, dünne Fläche, dass sie mir fast aus den Händen gerissen wurde. Sofort verfestigte ich meinen Griff, während ich gleichzeitig versuchte, die Heringe aus der Tasche zu ziehen. Bis ich endlich einmal einen der hakenähnlichen Gegenstände einhändig aus einer Tüte gefummelt hatte, hatte meine Hand, die krampfhaft die Plane fest hielt, einen beinahe starren und unbeweglichen Zustand angenommen.
Auf einmal spürte ich, wie eine andere Hand mir behilflich wurde und ich warf Brax einen dankbaren Blick zu. Ein Zelt der Layphen stand bereits und offenbar benötigten die drei anderen seine Hilfe nicht mehr, während sie sich an das Zweite machten.
Während der Layph mit den flachsblonden Haaren die Zeltplane fest hielt, schlug ich die ersten beiden Heringe in die eine Seite des Zeltes und signalisierte ihm mit einem erhobenen Daumen, dass auf meiner Seite alles klar war. Während ich aufstand und um das Zelt herum ging, griff Brax mit seiner freien Hand nach den nächsten Heringen. In diesem Moment rutschte ihm das Zelt – möglicherweise aufgrund der Feuchtigkeit, die sich wie ein Schmierfilm auf der Oberfläche abgelegt hatte – aus den Fingernund die Plane flatterte auf die Seite, an der sie die Heringe festhielt. Es dauerte tatsächlich keine zwei Sekunden, da riss sich das Zelt aus den Verankerungen und flog davon.
Geschockt starrte ich der Plane hinterher, die munter über die Ebene getragen wurde und unternahm nicht einmal mehr den Versuch, ihr hinterher zu jagen. Brax und ich starrten uns aus großen Augen an und er kratzte sich ratlos am Kopf. „Hast du jemals zuvor schon mal ein Zelt aufgebaut?"
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Das hat man gesehen. Die Heringe...du musst sie schräg in die Erde hauen. Ansonsten halten sie nichts."
„Hab ich gesehen", erwiderte ich nur schwach.
Ein raues Lachen erklang hinter uns und wurde vom Wind verstärkt an meine Ohren getragen. „Zu unfähig, ein Zelt aufzubauen. Warum überrascht mich das jetzt nicht?" Dasyl warf mir einen abfälligen Blick zu. „Glaub' bloß nicht, dass ich dich in meinem Zelt schlafen lasse." Ablehnung blitzte in seinen Augen auf.
„Keine Sorge. Da bleib' ich die Nacht über lieber draußen", erwiderte ich giftig. Sein Verhalten regte mich unheimlich auf und zudem frustrierte es mich, dass er mich zum einen beim Scheitern beobachtet hatte und zum anderen, dass ich nun tatsächlich nicht wusste, wo ich schlafen sollte. Dasyl winkte nur ab und verschwand im Eingang des ersten Zeltes.
„Du kannst in meinem Zelt übernachten, wenn du möchtest." Freundlich erklang Brax' Stimme und ich wandte mich zu ihm um. Ganz geheuer war es mir nicht, mit ihm und seinem Zeltpartner – wer auch immer das von den zwei übrig gebliebenen sein würde, zu schlafen, aber mir blieb kaum eine andere Wahl und ich wollte mich definitiv nicht anstellen oder undankbar wirken. Schließlich war es allein meine Schuld, dass ich nun – im wahrsten Sinne des Wortes – heute kein Dach über dem Kopf haben würde.
„Danke. Das Angebot nehme ich gern an." Ein Gedanke kam mir in den Kopf und ich war kurz davor, ihm zu sagen, dass ich dies nur tun würde, wenn er wenigstens eine Hose anbehalten würde, aber ich biss mir auf die Zunge und verkniff mir den Kommentar.
Bevor ich in das zweite Zelt kletterte, welches mittlerweile auch fertig aufgebaut war und dem nach wie vor starken Wind trotzte, ließ ich das Regenwasser an mir hinab rinnen und betrat beinahe vollständig getrocknet den geschützten Ort.
Brax' nasser Kopf drängte sich durch den runden Eingang. „Kannst du das bei mir auch tun? Das wäre echt praktisch." Aus großen Augen starrte er mich bittend an und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Wie hätte ich ihm diesen Wunsch abschlagen können?
Einige Augenblicke später ließ sich Brax auf den Boden des Zeltes fallen und seufzte genießerisch auf. „Das ist die beste Fähigkeit, die es gibt. Mit Abstand."
Ich wollte gerade ebenfalls seine gemütliche Position einnehmen – meine Füße und mein Körper würden es mir danken – da schob sich Quil ebenfalls ein Stück ins Zelt. „Serena?", wandte er zögerlich das Wort an mich. „Könntest du vielleicht auch bei mir...?"
Ich seufzte, jedoch halb belustigt. „Klar."
Auch bei Quil führte ich meine Hände dicht an seinem Körper vorbei und zog so die Nässe aus seiner Kleidung und von seiner Haut. Erstaunen und etwas wie Wissbegierde blitzte in seinen Augen auf, als sich das Kribbeln in seinem Körper ausbreitete, von dem Lilya mir berichtet hatte, als ich diese Fähigkeit bei ihr angewandt hatte.
„Erstaunlich." Ich war gerade bei seinen Füßen angelangt und blickte lächelnd empor. Ich traf auf seinen Blick, der auf der Sicht ruhte, die ihm meine Position ermöglichte – mein Ausschnitt – und verpasste ihm einen kleinen Schlag gegen das Schienbein. „Such dir einen anderen Ausblick, ansonsten bist du gleich wieder nass." Kopfschüttelnd erhob ich mich, als ich fertig war und Quil schaute ertappt weg.
„'Tschuldige", murmelte er kleinlaut und schob sich schnell durch die Zeltöffnung hinein zu Brax. Ich rollte einmal kurz mit den Augen. Hier gibt es eindeutig zu viele männliche Hormone. Trotzdem war ich froh, dass es Quil war, der mit mir und Brax in einem Zelt schlafen würde, denn er wirkte harmlos und freundlich. Außerdem schien er nichts gegen mich zu haben. Und Kol schien einer der Freunde Dasyls zu sein, oder zumindest jemand, mit dem der Hüne nicht im Zwist lag.
Während der Regen gegen das Zelt prasselte und es zusehends dunkler wurde, erfüllten unsere Gespräche den geschützten Raum, den das Zelt uns bat. Ich lag am Rand neben Brax, welcher wiederum an seiner linken Seite von Quil begrenzt wurde. Ich erfuhr, dass Quil einer der jüngeren Layphen dieses Jahrgangs war und tatsächlich, dass Brax bald das Alter erreicht haben würde, an dem ihm eine Partnerin zustand. Ich verdrängte meinen Gedanken an eine Zeit ohne Brax in der Layphen-Akademie und an ihn, wie er bluttrinkend am Hals einer jungen Frau klebte. Da das Thema schnell auf meine alte Akademie und die Neyen fiel, war dies nicht allzu schwer. Aber ich wusste ganz genau, dass mir ebenjene Gedanken in den nächsten Tagen immer wieder in den Kopf schießen würden.
Irgendwann verlor der Sturm an Kraft und unsere Gespräche verstummten. Meine Schulter berührte hauchzart diejenige von Brax, denn das Zelt bot nicht allzu viel Platz, da es eigentlich nur auf zwei Personen ausgelegt war. Bald schon erfüllten ruhige Atemzüge die Luft und auch ich spürte, dass meine Augen immer schläfriger wurden, bis sie sich schließlich erschöpft schlossen und ich in einen leichten Schlaf fiel. Irgendwann spürte ich unterbewusst, dass sich der Himmel auflockerte und der Mond sich wie von Geisterhand aus der Dunkelheit der letzten Wolken erhob. In der Bewusstlosigkeit meines Seins war ich wehrlos gegen die starke Wirkung, die der weiße Himmelskörper auf mich hatte, welche durch die beinahe unberührte Natur um mich herum nur noch intensiviert wurde. Die Schwärze meiner Gedanken wurde langsam von einem Blau abgelöst, das mich in die tiefsten Tiefen meines Geistes entführte...und intime Vorstellungen in meinen Kopf projizierte, als wäre er die Leinwand und mein Unterbewusstsein ein wehrloser Regisseur.
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