{ 24. Kapitel }
Einen betont unschuldigen Ausdruck auf dem Gesicht tragend, legte ich die kurze Strecke bis zu meinem Bett zurück und ließ mich darauf sinken. Ich begann, meine langen Haare mit meinen Fingern zu entknoten, den engelsgleichen Ausdruck nach wie vor auf meinen Gesichtszügen tragend. ‚Fehlt ja nur noch der Heiligenschein.' Ich tat einfach so, als wäre ich nicht gerade ebe, am frühen Morgen in unser Zimmer gekommen, nachdem ich das erste Mal in meinem Leben wo anders übernachtet hatte. Einen winzigen Moment lang hegte ich die Hoffnung, dass Lilya mich vielleicht nicht darauf ansprechen würde, bis ihre helle Stimme an mein Ohr drang.
„Serenaaa? Gibt es irgendetwas, dass du mir sagen möchtest?" fragte sie gedehnt und klang dabei wie die strenge Mutter, die ich nie gehabt hatte.
Als ich meinen Blick flüchtig zu ihr schweifen ließ, stand sie vor ihrem Bett, die Arme verschränkt, und tippte mit ihren Zehenspitzen ungeduldig auf den Boden, während ihre linke Augenbraue vorwurfsvoll erhoben war.
Ein kleines, schuldbewusstes Lächeln glitt über mein Gesicht und ich probierte es mit einer winzigen Antwort und einem unschuldig wirkenden Augenaufschlag. „Nein?"
„Nein?", wiederholte sie fassungslos, gab ihre strenge Haltung auf, eilte auf mich zu und ließ sich neben mir auf mein Bett sinken. „Und wo warst du dann die ganze Nacht?" Ich setzte zu einer Antwort an, als sie sie sich schon selber gab. „Hmmm, lass mich raten, bei Aryan?" Sie drehte ihren Kopf zu mir, sodass ihr die vom Schlaf zerzausten, blonden Löckchen um die Ohren flogen.
Ertappt ließ ich meinen Kopf sinken, während sich automatisch wieder ein Lächeln auf mein Gesicht stahl, als meine Gedanken zu dem silberäugigen Oreaden wanderten – und seinem gottesgleichen Anblick am frühen Morgen.
Ein unsanfter Stoß gegen meine Schulter riss mich wieder in die Realität zurück und ich hob ruckartig meinen Kopf.
„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, du bist doch sonst so gesprächig! Findest du nicht, dass ich wenigstens ein paar Details verdient habe, jetzt, wo der tollste Neye auf der Akademie nicht mehr verfügbar ist?" Lilyas Augen funkelten neugierig, aber ich entdeckte auch einen leisen Hauch von Trübsal. Ich hatte zwar gewusst, dass meine beste Freundin für Aryan schwärmte, aber nicht, dass es wirklich so ernst gemeint war. Sofort überflog mich ein schlechtes Gewissen, ich zog sie einmal impulsiv in meine Arme und drückte sie fest.
„Natürlich!", antwortete ich ihr, nachdem ich mich wieder aus unserer Umarmung befreit hatte. „Entschuldige!"
Und dann erzählte ich ihr, was seit gestern Nachmittag passiert war. Natürlich ließ ich unsere Mitternachts-Session nicht komplett außen vor – immerhin war Lilya meine beste Freundin – aber ich bezweifelte, dass sie wirklich alle Details hören wollte, weswegen ich meine Erzählung an dieser Stelle stark einschränkte. Während sie mir zuhörte, nickte sie von Zeit zu Zeit aufmerksam und quietschte einmal kurz auf, als ich am Ende noch erwähnte, dass wir nun auch wirklich offiziell zusammen waren. Ich schloss meinen Bericht mit der Erwähnung, dass ich auf meinem morgendlichen Rückweg beinahe erwischt worden wäre, und ihre Augen weiteten sich.
„Und du bist dir sicher, dass dich dieser Jemand nicht gesehen hat?", fragte sie schließlich, nachdem wir einige Sekunden lang ratlos geschwiegen hatten.
Unsicher zuckte ich mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Es wäre möglich, ich habe ja in dem Moment nicht hingeschaut. Aber ich denke, er hätte mich sonst sofort angesprochen."
Sorge zeichnete sich in den waldgrünen Augen der Dryade neben mir ab. „Wollen wir es mal hoffen. Sonst könnte es echt knapp für dich werden. Und ich will gewiss nicht noch einmal damit bangen müssen, dass du mich hier alleine zurück lässt!"
Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Mach dir nicht so viele Sorgen, Lilya! Solange mich Milo nicht gesehen hat, sollte alles in Ordnung sein."
Sofort glomm in ihren Augen wieder eine andere Empfindung auf – Neugierde. „Apropos Milo! Gab es da nicht noch etwas, dass du mir eigentlich schon gestern Abend erzählen wolltest?"
Als ich mich an die Worte des arroganten Nereiden erinnerte, knirschte ich leicht mit meinen Zähnen und ballte unbewusst meine Hände zu Fäusten. „Um es kurz zu machen – er benutzt Ayala tatsächlich nur. Du weißt ja, dass er mir ein Nachspiel angedroht hat, und sie ist offenbar der Würfel, der das Spiel zum Rollen bringen soll." Kurz lachte ich humorlos auf. „Wenn ich heute noch einmal sehe, wie er sie anfasst, dann..."
Lilya legte ihre Hand auf meine Schulter. „Sea, beruhige dich bitte. Jetzt vor Wut den Kopf zu verlieren, hilft doch keinem", erwiderte sie einfühlsam und ruhig mit ihrer zarten Stimme. Erstaunt sah ich in ihre Augen – war sie wirklich so beherrscht, wie sie es vorgab? Diese Ungerechtigkeit konnte doch unmöglich spurlos an ihr vorbeigehen. Ein entschlossenes Funkeln glomm in Lilyas Augen und bestätigte mich in meiner Annahme, dass sie im Grunde so fühlte wie ich, es nur nicht an die Oberfläche treten ließ. „Jetzt mal ganz von vorne, was genau hat Milo denn gesagt, dass dich so denken lässt?"
Während ich ihr den genauen Wortlaut unseres Gespräches wiedergab, begannen wir beide wie auf einen geheimen Wortlaut hin, zeitgleich aufzustehen und uns für den heutigen Tag zurecht zu machen. Zum Glück hatten wir heute beide nur zwei Lehrstunden, da heute der letzte Tag vor den zwei freien Tagen Pause anstand. Schließlich schlüpfte Lilya – feminin und elegant gekleidet wie immer – vor mir durch unsere Tür. Ich betrat kurz hinter ihr den langen Flur und gemeinsam schlugen wir den Weg in Richtung Speisesaal ein. Leise diskutierten wir weiter und kamen schließlich zu einem Entschluss.
„Wir müssen Ayala irgendwie davon überzeugen, dass sie unseren Worten Glauben schenkt. Wir können Milo keine freie Hand mehr lassen, wer weiß, was er mit ihr anstellt", bemerkte Lilya treffend und ich nickte zustimmend.
„Das Problem ist, dass sie gewiss nicht mehr auf mich hören wird." Ich seufzte entmutigt. Ich hatte Lilya bereits von meinem missglückten Versuch erzählt, Ayala reinen Wein einzuschenken.
„Das ist nicht so tragisch. Es gibt schließlich auch noch mich und Nia", antwortete Lilya und lächelte mir aufmunternd zu. Ein Sonnenstrahl drang durch das große Fenster neben uns, welches den Gang erleuchtete und ließ ihre Haare wie flüssiges Gold schimmern.
„Niasura müssen wir dann aber auch erst einmal überzeugen", gab ich zu bedenken. „Gestern war sie definitiv nicht der größte Milo-Gegner in unserer Runde."
Lilya fuhr mit der Hand wild durch die Luft, als wollte sie meine Zweifel fortwischen. „Trotzdem wird sie wissen, was das Richtige ist", entgegnete meine beste Freundin energisch. „Ayala ist ihre beste Freundin, sie wird sie nicht ins Messer rennen lassen, selbst wenn sie sich nicht zu einhundert Prozent sicher ist."
Zeitgleich zu Lilyas letzten Worten betraten wir den großen Speisesaal, dessen große Türen nun aufgeschoben waren und den Duft des harzigen Waldes herein ließen. Ich atmete einmal tief durch und sagte mir selbst, dass wir das schon irgendwie schaffen würden.
Nachdem Lilya und ich uns unser Frühstück geschnappt hatten, suchten wir uns einen kleinen Tisch in der Sonne und ließen und dort nieder. Während ich mir ein Brötchen griff, ließ ich meinen Blick über die versammelten Neyen und Neyinnen schweifen und entdeckte schließlich Ayala – neben Milo.
Ich spürte regelrecht, wie sich meine Gesichtszüge verhärteten und Lilya, die daraufhin meinem Blick gefolgt war, seufzte. „Nachdem du mir das erzählt hast, ertrage ich den Anblick auch nicht mehr." Langsam schüttelte sie den Kopf.
Da Milo und Ayala mehr oder weniger genau in meinem Blickfeld saßen, sah ich, wie er einen Arm um ihre Taille legte und sie noch näher zu sich zog. Ich schlang meine Hände um die Tischplatte und atmete tief durch, um nicht augenblicklich zum Tisch der beiden zu stürmen und sie voneinander zu trennen. Dennoch konnte ich meinen Blick nicht von dem Nereidenpaar abwenden und fixierte sie starr. Ich konnte nicht einmal mehr sagen, ob ich überhaupt noch blinzelte.
„Serena, du siehst aus als würdest jemanden umbringen wollen. Hör bitte auf damit, das ist wirklich unheimlich", erklang Lilyas besorgte Stimme vor mir und ihr helles Gesicht umrahmt von blonden Löckchen schob sich in mein Blickfeld. „Vor Ende des Unterrichts werden wir beide Ayala sowieso nicht alleine erwischen." Ich blinzelte ein paar Mal und mein Blick klärte sich wieder.
Bevor ich ihr antworten konnte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. „Guten Morgen... Serena."
Aryan. Seine Stimme riss mich augenblicklich auch noch das letzte Stückchen wieder in die Realität zurück, und ich überlegte, ob er gezögert hatte, mich bei meinem Namen zu nennen, weil er darüber nachgedacht hatte, mir einen Kosenamen zu geben. Da ich darauf sowieso keine Antwort erhalten würde, weil ich ihn so etwas unmöglich fragen konnte, erwiderte ich lieber seinen kleinen Kuss auf meine Lippen. Danach breitete sich ein glückliches Lächeln auf meinen Zügen aus und ich strahlte ihn regelrecht an – er sah heute wieder zum Anbeißen gut aus.
Mein Freund erwiderte mein Lächeln, schnappte sich einen Stuhl vom unbesetzten Nachbartisch und drehte ihn mit einer flinken Bewegung zu uns, bevor er sich in einer fließenden Bewegung darauf gleiten ließ. Ich bewunderte seinen Anblick in vollen Zügen und warf einen Blick zu Lilya, die auch kaum ihre Augen von ihm lassen konnte. Als sie meinen Blick auf ihr spürte, wandte sie sich verlegen und auch etwas schuldbewusst ab und eine leichte Röte bildete sich auf ihren Wangen. Ich bedeutete ihr mit einem kleinen Schmunzeln, dass alles in Ordnung war und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Schließlich verschwand eine Schwärmerei nicht von heute auf morgen und ich bezweifelte, dass ich Lilya überhaupt jemals wegen so einer Sache grollen könnte.
Der Rest des Frühstücks – Aryan hatte keinen Hunger und sich auch nichts geholt – verlief in einem angeregten Gespräch, das Thema Milo vermieden wir und es gelang mir sogar relativ gut, den unwillkommenen Anblick des Paares zu ignorieren. Es fühlte sich beinahe so an wie früher und als hätte sich nichts zwischen mir und Aryan geändert, jedoch lehnte er sich manchmal in meine Richtung, berührte kurz mit seiner Hand die meine oder lächelte mir einen Tick länger zu, als Lilya – und diese Kleinigkeiten erinnerten mich jedes Mal daran, dass es eben doch nicht mehr so war.
Schließlich erhoben wir uns, Lilya und ich brachten unsere Tabletts weg und wir schlugen den Weg in Richtung westlichem Lehrgebäude ein. Dort fand unsere heutige Stunde im Unterricht „Mythologie" statt, an der wir alle drei gemeinsam teilnahmen. Sowohl Ayala als auch Niasura hatten diesen Kurs nicht mit uns zusammen, Milo jedoch schon.
Als wir den Raum betraten, ließen wir uns auf unsere angestammten Plätze nieder und füllten den noch relativ leeren Raum mit leisen Worten. Nach und nach betraten jedoch immer mehr Neyen den Raum, bis auch der Nereide, dem ich im Augenblick am liebsten die Augen auskratzen würde, sich auf seinen Stuhl eine Reihe vor mir fallen ließ. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn zu ignorieren, doch als er ein süffisantes Lächeln in meine Richtung schickte, war es wirklich schwer, mich noch auf dem Stuhl zu halten und nicht gleich zu ihm hinüberzugehen und ihm das Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. Oder zu schlagen.
„Serena, alles gut? Du bist so rot im Gesicht", erklang es auf einmal neben mir und ich blickte in quecksilberfarbende Augen, die mich besorgt musterten.
Ich setzte mein scheinheiligstes Lächeln auf. „Alles gut!", behauptete ich bestimmt. „Mir... äh... ist nur etwas warm." ‚Vor Wut', fügte ich in Gedanken hinzu.
Aryan runzelte leicht die Stirn. „Achso." Skeptisch schaute er auf mein schwarzes Top und die kurze Hose und rasch tat ich so, als wäre mir wirklich heiß, während ich mir etwas Luft zu fächelte. Als der Oreade immer noch nicht überzeugt schien, stieß ich ausversehen mit meinem Ellbogen an einen Stift und beförderte ihn so auf den Boden.
„Ups", flötete ich unschuldig und beugte mich bewusst langsam hinab, sodass ich Aryan vollen Einblick in meinen Ausschnitt ermöglichte. Ich wusste, dass ich mit unfairen Mitteln spielte, aber als er nur schluckte, sich einmal räusperte und sich dann förmlich dazu zwang, den Blick abzuwenden, wusste ich, dass ich gewonnen hatte und er zumindest für den Moment aufhören würde, Fragen zu stellen.
Ein kleines, durchtriebenes Lächeln umspielte meine Lippen während ich einen leicht vorwurfsvollen, aber gleichzeitig belustigten Blick von Lilya kassierte, die auf der anderen Seite neben mir saß. Ich war mir eigentlich sicher, dass sie diese Taktik nie angewandt hätte, um einer unangenehmen Situation zu entgehen, sie hätte sich etwas Klügeres einfallen lassen, aber man konnte ja nie wissen – bekanntlich waren stille Wasser sehr tief.
Schließlich verstummte das leise Gemurmel, das den Klassenraum erfüllte, als Professor Damy den Raum betrat. Der Nereide unterrichtete uns sowohl in den Aufgaben der Wächter, als auch in Mythologie und ich persönlich fand beide Fächer relativ spannend.
Er ließ sich mit einer eleganten Bewegung auf dem Pult nieder und verschränkte seine Hände, während er uns aus seinen blauen Augen musterte.
„Hallo zusammen! Wir haben uns bereits in der letzten Sitzung mit den Layphen beschäftigt. Wer von Ihnen kann mir sagen, was wir bisher über sie erfahren haben?"
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie neben mir eine Hand hochschoss.
Professor Damy lächelte erfreut und nickte meiner besten Freundin zu.
„Wir haben erfahren, dass die Layphen Nachkommen der Lamien sind. Sie sind ebenso wie wir zur Hälfte menschlich und benötigen... Blut, um zu überleben." Bevor Lilya stockte, sah ich, wie sie ihr Gesicht angeekelt verzog und als ich mich im Raum umblickte, entdeckte ich dieselbe Reaktion gespiegelt auf einigen anderen Gesichtern. Für uns vegetarisch lebende Neyen war es der absolute Horror, uns vorzustellen, auf Blut angewiesen zu sein – es widersprach einfach unserer Auffassung von Ernährung.
„Was noch?", fragte Damy und sah fordernd in die Runde. Eine Neyin in der vorderen Reihe meldete sich zögernd.
„Sie... sind Meister in der Verführung. Sie nutzen Menschenfrauen aus, um sich zu ernähren und unterwerfen sie ihrem Willen."
Der Professor vorne nickte bestätigend zu ihren Worten. „Kann sich irgendwer vorstellen, warum das so ist?"
Ein Neye mit dunklem Haar meldete sich.
„Sie haben keine weiblichen Nachkommen. Sie brauchen die Menschenfrauen, um zu überleben. Sie tragen ihren Nachwuchs aus."
Ein leichtes Frösteln durchlief viele der Neyen und Neyinnen, die vor mir saßen. Ein anderes Wesen seiner Kontrolle zu unterwerfen, war ein fürchterlicher Gedanke.
„Sehr gut. Heute werde ich euch erklären, warum wir uns überhaupt mit den Layphen beschäftigen", sagte Professor Damy, glitt vom Pult und stellte sich aufrecht hin. „Ihr wisst, in der heutigen Zeit zerstören die Menschen immer mehr von unserer Umwelt. Die Naturmagie verschwindet zusehends, doch auf diese sind wir dringend angewiesen. Früher einmal haben die Layphen versucht, uns ebenfalls ihren Willen aufzuzwingen, doch glücklicherweise konnten sich die meisten von uns wehren. Dennoch beschwörte dies ständig Auseinandersetzungen hervor, die unser beider Zahlen weiterhin dezimierten."
Ich warf einen Blick nach links, Aryan lauschte den Worten des Professors aufmerksam, und auch ich konnte mich ihnen kaum entziehen.
„Wir haben uns entschlossen, einen Waffenstillstand einzugehen und beschützen nun durch unsere Naturmagie ihre errichteten Akademien. Im Gegenzug helfen sie zum einen uns bei unserem Kampf gegen die zerstörerische Gewalt der Menschen, zum anderen ernähren sie sich nun auch von Tierblut. Kann sich jemand vorstellen, was diese Zusammenarbeit für Vorteile hat?"
Dieses Mal meldete sich Milo und ich betrachtete den Neyen abwartend. Auf seine Antwort war ich ja jetzt mal gespannt. „Ich denke, dass man zu zweit immer stärker ist als allein. Auch, wenn ich nicht wirklich verstehe, warum wir die Menschenfrauen überhaupt beschützen, schließlich streben sie – wenn auch unwissend – danach, uns zu vernichten."
„Milo, wir sind kein gewalttätiges Volk. Mit deiner ersten Aussage liegst du goldrichtig, allerdings können wir nicht zulassen, dass diese bluthungrigen Wesen sich weiterhin an Mädchen und jungen Frauen laben."
Ich konnte Milos Gesicht von meiner Position aus nicht erkennen, aber ich vermutete, dass er mit dieser Antwort nicht zufrieden war, denn er verschränkte abwehrend seine Arme vor der Brust, während er mit seinem Stuhl leicht nach hinten kippte.
Den Rest der Stunde zeigte uns Professor Damy verschiedene Bilder von den Lamien, den Eltern der Layphen. Es waren ausnahmslos jung wirkende Männer, schaurig schön anzusehen, die sich über den Hals von jungen Frauen beugten und am Ende mit blutverklebten Lippen und verzerrten Zügen wieder den Betrachter ansahen. Ihre Augen waren nach der Blutaufnahme jedes Mal weiß gefärbt, die Iris vollkommen verschwunden. Ein Frösteln überlief mich und Lilya neben mir vergrub teilweise sogar den Kopf in ihren Händen, um die Bilder auszublenden. Ich jedoch konnte meinen Blick nicht abwenden.
Das dargebotene Grauen war schrecklich, dennoch fesselte es mich. Die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Lamien standen in einem so großen Kontrast zu denen unserer Vorfahren, den Nymphen, das es unfassbar schien, dass wir, ihre halbmenschlichen Kinder, nun in einem gemeinsamen Rat saßen und uns – wenn auch widerwillig – tolerierten und unterstützten.
Als es zum Ende der Stunde gongte, konnte ich an Lilyas Gesicht ablesen, dass sie erleichtert war, dass es vorbei war. Sie schüttelte sich einmal kurz. „Brrr. Bin ich froh, dass wir das überstanden haben. Die Bilder waren echt schrecklich. Ich hoffe, ich krieg heute Nacht keine Albträume."
Ich strich ihr einmal beruhigend über den Arm, während Aryan seine Hand um meine Taille schlang, als hätte er nie etwas anderes getan. „Alles gut, Lil, ich pass heute Nacht auf dich auf", erwiderte ich und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Mit einer kleinen Umarmung verabschiedeten wir uns schließlich voneinander und auch Aryan drückte mir einen Kuss auf die Wange, bevor er in eine andere Richtung davon eilte. Das letzte Fach, das wir heute getrennt voneinander haben würden, war Praxisunterricht, beziehungsweise für mich Schwimmen. Ich ging nicht davon aus, dass die beiden geschlechtergetrennten Kurse wieder zusammengelegt werden würden, das hieß also Ruhe vor Milo, aber gleichzeitig auch, dass ich Ayala wieder sah. Lilya und ich hatten heute gemeinsam ausgemacht, dass ich nicht versuchen würde, mit ihr alleine über die Angelegenheit mit Milo zu reden, weil sie mir durch ihre rosarote Brille so oder so keinen Glauben schenken würde und nur noch misstrauischer werden würde.
Meine Schritte trugen mich durch die große Tür nach draußen, und kühle, flache Steine lösten den Holzboden unter meinen Füßen ab. Kleine, vorwitzige Grashalme kitzelten mich unter den Zehen, während mir die Sonne ins Gesicht schien. Auf halbem Weg zu den Umkleidekabinen kam mir schließlich Halio entgegen, warf er mir einen kurzen, grimmigen Blick zu und beachtete mich nicht weiter. Huch, da hatte einer ja mal wieder ganz schlechte Laune. Ich verzog mein Gesicht zu einer kleinen Grimasse. Lilya und er würden sich nun wieder zwangsläufig über den Weg laufen und sie hatte mir während des Frühstücks mitgeteilt, dass sie versuchen wollte, sich wieder mit ihm zu vertragen – schließlich mussten die beiden zusammen ein Referat halten. Ich drückte ihr im Stillen beide Daumen, hatte schließlich das kleine Waldstück passiert und öffnete die Tür zu dem kleinen Holzhäuschen, in dem wir Nereiden uns immer umzogen.
Die einzige Kabine, die zum Umkleiden noch frei war, war die, in der ich vor zwei Tagen von Milo überrascht worden war. Wenn ich jetzt daran zurückdachte, dass er mich geküsst und berührt hatte, erfüllte augenblicklich ein fader Geschmack meinen Mund und ich schluckte und schüttelte mich einmal kurz.
Flink zog ich mich aus, glitt in meinen Schwimmanzug und packte die Sachen in einen Spind. Ich atmete einmal tief durch, strich seitlich an meiner Taille entlang, um mich zu sammeln und öffnete die Tür, die mich zum See führen würde. Meine Gefühle schwankten zwischen Vorfreude und Anspannung – ich wusste, dass ich bald wieder in meinem Element sein würde, aber gleichzeitig würde ich garantiert auch Ayala begegnen. Ich wusste, dass es nicht leicht sein würde, nichts zu sagen, mich zurückzuhalten und möglicherweise immer wieder traurige Blicke von ihr zu ernten, aber ich hatte es Lilya versprochen und sah ein, dass es notwendig war. Ich hoffte nur inständig, dass ich auch in der Lage dazu sein würde, mich wirklich daran zu halten, und dass mir meine impulsive Ader keinen Strich durch die Rechnung machen würde.
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