{ 17. Kapitel }
Am nächsten Morgen erwachte ich ausnahmsweise einmal sehr früh und vor Lilya. Die ganze Nacht hindurch war ich regelmäßig wach geworden, weil mich bittere Schuldgefühle übermannt hatten. Zwei Mal war ich kurz davor gewesen, einfach aufzustehen und so lange an Ayalas Zimmertür zu klopfen, bis sie mir aufmachte und meinen Worten zuhörte.
Da dies jedoch kaum im Bereich des Möglichen gelegen hatte und ich mich an die Anweisungen der Akademie halten wollte, war ich beide Male wieder genervt stöhnend zurück mit dem Kopf aufs Kissen gefallen und unruhig wieder eingeschlafen.
Als irgendwann die ersten Schimmer des Morgengrauens über mein Gesicht krochen, erhob ich mich, rieb mir den Schlaf aus den Augen und betrat das Badezimmer, um mir den gestrigen Höhlenschmutz von meinem Körper und aus meinen Haaren zu waschen. Ich fühlte mich aufgrund der unruhigen Nacht ebenso wie am gestrigen Tage gerädert, aber die warme Dusche trug einen Großteil dazu bei, dass sich diese Empfindung etwas verflüchtigte.
Während ich das Gefühl der warmen Wasserstrahlen, die auf meinen Körper trafen, genoss, schweiften meine Gedanken zu dem vor mir liegenden Gespräch mit Ayala. Ich war um Längen weniger aufgeregt als gestern, als ich auch den ganzen Tag lang nur an Aryan hatte denken können, aber dafür umso niedergeschlagener. Ich hoffte wirklich, dass ich unsere Freundschaft würde zurückgewinnen können.
Umhüllt von meinem Wasserlilien-Duft stieg ich schließlich aus der Dusche, schlang mir ein Handtuch um meinen nassen Körper und griff zum Föhn. Immerhin hatte es auch seine Vorteile, einmal früh aufzustehen, so konnte ich mir nämlich mehr Mühe mit meinem Haar geben und es sorgfältig frisieren, ohne dabei auf Lilyas grandiose Flechtkünste zurückgreifen zu müssen.
Als mir meine Haare in trockenen, weichen Wellen um die Schultern fielen, musterte ich mich kurz zufrieden und betrat dann unser Zimmer. Mein Blick glitt zu Lilya, die in diesem Moment ihre Augen öffnete und einmal herzhaft gähnte, während sie sich die Hand vor den Mund hielt.
„Morgen, Sea. Schon wach?" murmelte sie verschlafen und schwang müde die Beine aus dem Bett, danach klärte sich ihr Blick jedoch sofort.
Wie konnte man morgens nur so schnell wach werden? Man, war die Welt ungerecht.
„Mhm. Konnte irgendwie nicht mehr schlafen", gab ich zu, während ich mich vor meinem Schrank aufbaute, und Kleidung für den heutigen Tag raus suchte. Aryan hatte mir gestern gezeigt, dass er definitiv auch mit meinem ungepflegten, nassen und höhlenstaubverschmutzten Ich klar kam, aber ich hatte immer noch das Gefühl, als müsste ich ebenfalls seine Perfektion erreichen. Deshalb hatte ich meine Haare so sorgfältig frisiert und aus diesem Grund gab ich mir auch Mühe bei der Kleiderauswahl, auch wenn ich diesmal beschlossen hatte, mit meinen eigenen Sachen eine schöne Kombination zusammen zu stellen.
Während ich hörte, wie Lilya leise die Tür zum Badezimmer schloss und nach einem kurzen Moment die Dusche anstellte, griff ich mir ein schlichtes, schwarzes T-Shirt und eine hellblaue, kurze Hose aus dem Schrank. Dazu passend wählte ich schwarze, schlichte Unterwäsche – selbst, wenn ich heute ins Wasser fallen würde, würde immerhin keiner erkennen können, was ich darunter trug.
‚Ganz im Gegensatz zu gestern...', dachte ich, und zog eine Grimasse, als ich an die begierigen Blicke von Milo dachte.
Nachdem ich in meine Klamotten geschlüpft war, betrachtete ich mich im Zimmerspiegel. Ich ließ meinen Blick von oben nach unten über mein Spiegelbild gleiten und wackelte unzufrieden mit meinen Zehen. Irgendetwas fehlte noch...
Ich huschte auf leises Sohlen quer durchs Zimmer und öffnete Lilyas Schmuckkästchen. Sie hatte von uns beiden zum einen mehr Schmuck und zum anderen auch noch den, der schöner war. Ich hatte mir schon lange keinen mehr gekauft, weil ich den Sinn darin nicht wirklich sah – schließlich hatte ich bis zum gestrigen Tage auch noch niemanden beeindrucken wollen. Aus diesem Grund hatte ich in meinem eigenen Schmuckkästchen mehr kitschigen Krimskrams, den sich womöglich ein zehnjähriges Mädchen begeistert umhängen würde, aber keine fast erwachsene Nereide.
Neugierig zog ich ein paar Ketten hervor, bevor ich die fand, die ich insgeheim gesucht hatte. Sie war relativ lang und leuchtete in jedem Licht silbrig auf. Ihr Anhänger war herzförmig und schlicht, aber an der Kette selber verzierten alle paar Zentimeter eingearbeitete, winzige Herzchen das Schmuckstück. Ich persönlich fand sie wunderschön und ich hoffte, dass Lilya nichts dagegen hatte, dass ich sie mir auslieh.
Danach ging ich noch einmal zu meiner eigenen kleinen Schmuckauswahl und zog mir winzige, silbrige Herzchenohrstecker raus. Auch diese würde wohl junge Mädchen tragen, aber ich fand, dass man nie zu alt sein konnte für Herzchenohrringe.
Ich wollte mich gerade umdrehen und mich auf mein Bett fallen lassen, als sich die Badezimmertür wieder öffnete und Lilya hindurchtrat, nur mit einem Handtuch bekleidet. Ihre nassen Haare begannen bereits, sich fröhlich zu kringeln und ich musste über ihren knuffigen Anblick einfach schmunzeln. Sie musterte mich kurz, schenkte mir dann ein kurzes Lächeln und wandte sich ihrem eigenen Schrank zu.
Während sich meine beste Freundin für den Tag fertig machte, betrat ich wieder das Badezimmer und legte schnell noch Hand an mein Make-Up an. Ein wenige Wimperntusche und Lipgloss mussten reichen. Ich griff noch einmal mit der Hand in mein dickes Haar und wuschelte darin herum, bevor ich wieder unser Zimmer betrat. Lilya war fertig angezogen und sah in ihrem altrosafarbenden Kleid mal wieder wunderschön aus, so wie jeden Tag.
Sie lief an mir vorbei ins Badezimmer und ich trat an unser Zimmerfenster und blickte nachdenklich nach draußen, während ich mich mit den Händen an der Fensterbank abstützte. Unser Fenster ging zur linken Seite des Mädchenakademiegebäudes raus und offenbarte mir den Blick auf eine Wegkreuzung. Geradeaus ging es in den Laubwald, der das Trainingsgebiet der Dryaden kennzeichnete, ein schmaler Pfad verschwand in den dunklen Schatten. Der Weg rechts führte wiederum zur Vorderseite des Gebäudes. Diesen Anblick verwehrte mir zwar gerade die Hauswand, aber ich wusste dennoch, dass dort angelegte Wege in alle Richtungen verliefen, die umsäumt wurden von großen Rasenflächen, auf denen sich das ein oder andere Pflanzengewächs breit gemacht hatte. Der linke Weg der Kreuzung führte wiederum in den Nadel- und Mischwald, der direkt hinter dem Mädchenwohnhaus begann und der einen Großteil der Insel ausmachte, auf dem die Akademie errichtet worden war. Allerdings versperrte mir ein Apfelbaum, der schräg links vor unserem Fenster stand - den ich übrigens schon des öfteren für Fluchtsituationen missbraucht hatte -, größtenteils den Blick auf den dunklen Wald.
Während mein Blick nachdenklich einen grünen Apfel musterte, der bald zur Ernte bereit sein würde, dachte ich darüber nach, was ich heute zu Ayala sagen wollen würde. Sollte ich ihr die ganze Geschichte erzählen, die ich gestern auch schon Lilya und Nia erzählt hatte? Schließlich hatten mir die beiden danach auch geglaubt und sich über die Dreistigkeit von Milo empört. Aber würden Ayala die Details nicht nur weh tun? Ich wollte auf keinen Fall, dass sie sich noch schlechter fühlte. Und selbst, wenn sie es nicht tat – würde ich sie überhaupt dazu bringen, mir so lange ihr Gehör zu schenken?
Kopfschüttelnd wandte ich schließlich meinen Blick von dem Apfel ab und starrte geradeaus in den Wald. Diese ganze Grübelei würde mir so oder so nichts bringen. Ich musste einfach darauf vertrauen, dass sie mir zuhören würde und Milo dann hoffentlich in den Wind schießen würde. Ich konnte nur hoffen, dass unsere Freundschaft ihr mehr wert war, als das verletzte Gefühl darüber, das Milo mich ihr vorgezogen hatte und augenscheinlich so oder so nicht dazu in der Lage war, eine ernsthafte Beziehung zu führen. Denn ich wusste, dass es das war, was sie sich wünschte und ebendies konnte Milo ihr nicht geben.
Plötzlich sah ich, wie sich ein kleiner Tropfen auf der klaren Scheibe in mein Blickfeld schob und langsam an ihr herablief, eine lange Spur hinterlassend. Ich richtete meinen Blick in den trüben Himmel, bei dem das Morgenlicht kaum eine Chance hatte, ihn zu erhellen. Langsam fielen immer mehr Regentropfen an die Scheibe, bis sich die Wolken schließlich schleusenartig öffneten und die Erde mit dem lebensspendenden, feuchten Element benetzten.
An manchen Tagen hätte mich nun der Drang überkommen, in den Regen nach draußen zu rennen und die Rinnsale an meinem Körper freudig zu empfangen, aber heute war meine Laune so im Keller, dass ich keinen weiteren Gedanken daran verschwendete.
„Wirklich? Regen? Och nee!" stöhnte Lilya hinter mir auf einmal genervt und als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich sie einen bitterbösen Blick zum Fenster werfen, so, als hätte es tatsächlich irgendetwas mit der ungebetenen Witterungsänderung zu tun.
Ich konnte nicht anders und musste schmunzeln. Meine Freundin kam wirklich mit jeder Art von Wetter klar – sei es Schnee, Hitze oder einfach nur bittere Kälte – aber wenn es regnete, war bei ihr der Spaß vorbei.
Ich schritt auf sie zu und umarmte sie kurzerhand. „Komm schon Lil, zieh nicht so ein Gesicht. Das Fenster kann schließlich auch nichts dafür!"
„Bist du dir da sicher?" grummelte sie und ich spürte an ihrer starren Haltung, dass sie das Fenster immer noch wütend anstarrte.
Ich lachte über ihre Äußerung und löste mich von ihr. „Naja. Nicht zu hundert Prozent", gab ich zu.
„Siehst du!", erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor sie sie plötzlich vor ihrem Gesicht zusammenschlug. „Oh nein! Das kommt ja noch dazu!" jammerte sie auf einmal und ich schaute sie verwirrt an.
„Was kommt dazu?" erkundigte ich mich.
„Wir wollen heute auf die Felder und das Wachstum verschiedener Blumenarten untersuchen, bevor die erste Kälte da ist!" klagte sie verzweifelt.
„Ohh, arme kleine Lilya! Mal einmal gehen die Dryaden nun mal nicht in den Wald, wo die lieben, lieben Bäume sie vor den fiesen, fiesen Tropfen schützen, sondern auf eine Wiese", amüsierte ich mich und zog eine gespielt mitleidige Schnute.
„Serena", sagte Lilya grummelnd. „Könntest du vielleicht aufhören dich über mich lustig zu machen?!" empörte sie sich. „Ist ja schon klar dass du das Problem nicht erkennst, schließlich bist du ein halber Fisch!"
Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich an mir noch nie einen Fischschwanz gesehen habe. Aber hey, das wäre echt cool!"
Frustriert stöhnte sie. „Mit dir kann man echt nicht über dermaßen schwerwiegende Probleme reden!" Plötzlich fing sie an, über ihre eigene Aussage zu lachen und ich stimmte ein.
„Na du? Ist dir jetzt aufgefallen, wie schwerwiegend dein Problem ist?" fragte ich sie schmunzelnd und sie nickte verlegen.
„Naja, vielleicht überlebe ich den heutigen Regentag. Aber wenn nicht, dann...dann...seid ihr, du und dein nichtexistenter Fischschwanz, für meinen grauenvollen Tod verantwortlich!"
„Da du heute ganz brav und mutig dem Regen trotzen wirst und mir heute Abend schön von deinem ach so grässlichen, nassen Tag berichten wirst, kann ich damit definitiv leben!" Frech stupste ich in ihren Bauch.
„Wahrscheinlich hast du Recht, aber wenn nicht, dann wünsche ich dir schon mal viel Spaß mit deinen Schuldgefühlen!" gab Lilya kichernd zurück und wehrte meine Hand ab.
Plötzlich fiel ihr Blick auf meinen Oberkörper. „Aha, aha, aha! Wer hat sich denn da an fremden Sachen vergriffen, hmm?" Provozierend stützte sie eine Hand in ihre Seite und legte den Kopf schief, während sie mich aus ihren waldgrünen Augen betrachtete.
„Naja...ich. Aber was kann ich denn dafür, wenn ich die Zimmernachbarin mit den schönsten Sachen hat? Da kann nun mal keiner widerstehen."
Das Kompliment ließ sie lächeln und sie betrachtete mich von oben bis unten. „Steht dir gut, die Kombination. Aber die Kette und dein Lächeln machen es erst zu etwas Besonderem."
„Danke, Lil", erwiderte ich und zog sie noch einmal in einer Umarmung, die sie fest erwiderte. „Ich hab dich lieb", flüsterte sie in mein Ohr.
„Ich dich auch!" erwiderte ich leise.
Plötzlich durchbrach ein protestierendes Grummeln die Stille.
„Ohje, lass uns mal schnell was essen, bevor dein Bauch mich noch auffrisst", kicherte Lilya - ihre Laune hatte sich schon wieder um einiges gebessert. Naja, so war sie nun mal - dunkle Wolken zogen bei ihr rasch auf, aber genauso schnell wurden sie wieder davongepustet. Flink zog mich die Dryade an der Hand aus unserem Zimmer raus, während ich mit einem gezielten Fußkick die Tür dazu brachte, dass sie hinter uns ins Schloss fiel und mir vorher noch meine Tasche mit den Lernutensilien geschnappt hatte.
Wenige Minuten später erreichten wir die Mensa und betraten sie. Zunächst einmal schnappten wir uns zwei Teller, zwei Tassen und zwei Tabletts. Ich füllte meinen Teller mit einem Brötchen, ein paar Tomaten und Johannisbeer-Marmelade zum Bestreichen, während Lilya sich anstelle der Marmelade etwas Honig in ein Schälchen füllte. Suchend ließen wir unsere Blicke durch die Mensa streifen, bis wir Niasura entdeckten. Eilig liefen wir zu ihr und ließen uns auf die gegenüberliegende Bank fallen.
„Ayala ist nicht hier", erklärte uns Niasura ohne Umschweife, weil sie offenbar die Frage in meinem Gesicht gelesen hatte. Ich verzog etwas enttäuscht mein Gesicht, ich hatte gehofft, noch vor dem Unterricht mit der schüchternen Nereide reden zu können.
„Wo ist sie denn?" erkundigte sich Lilya und goss sich etwas Orangensaft in ihre Tasse.
„Keine Ahnung." Nia zuckte mit ihren zarten Schultern. „Sie ist heute Morgen schon früh aufgestanden und ohne ein Wort zur Tür hinaus. Ich hatte gar keine Möglichkeit, sie zu fragen, wo sie hin wollte, so schnell war sie."
Ich nickte nachdenklich, während ich einen Bissen von meinem Brötchen nahm. Wie flink unsere Ayala sein konnte, hatte ich gestern erst miterlebt. Wo sie wohl so rasch hin gewollt hatte?
„Habt ihr denn gestern noch geredet?", fragte ich Nia schließlich, nachdem ich auch einen Schluck Orangensaft getrunken hatte.
„Ne. Sie lag schon im Bett und hat geschlafen – oder zumindest so getan. Ich hätte auch ehrlich gesagt gar nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen – das ist immerhin eine Sache zwischen euch beiden die ihr erst mal klären solltet."
Nachdenklich legte ich einen Finger an mein Kinn. Da hatte sie womöglich Recht. Und welchen Grund sollte Ayala gehabt haben, nicht mit ihrer Zimmerpartnerin zu reden? Immerhin hatte sie selbst Niasura und Lilya zu mir geschickt, damit ich ihnen von der Sache erzählen konnte.
„Sie hätte auch keinen Grund, nicht mit dir reden zu wollen", sprach ich meine Gedanken nach einer kurzen Pause aus und blickte Nia an, die auf meine Worte hin bestätigend nickte.
„Genau, wir haben schließlich nicht mit Milo rumgemacht und Yal wollte ja nicht mit uns reden, obwohl wir gefühlte hundert Mal an ihre Tür geklopft haben."
Ein wenig verärgert sah ich sie an. Kam es nur mir so vor, als würde sie extra nochmal bei jedem Satz betonen, dass die Schuld bei mir lag?
„Möglicherweise war sie verletzt oder traurig, weil wir so lange bei Sea geblieben sind? Vielleicht hat Ayala gehofft, dass wir uns nur kurz die Story anhören und dann wütend abdampfen um sie zu trösten?" gab Lilya zu bedenken und ich vergrub – mal wieder – das Gesicht in meinen Händen.
„Hoffentlich nicht. Das wäre echt mies. Ich will wirklich nicht verantwortlich sein, dass ihr Streit habt", murmelte ich und seufzte, während ich meine Hände wieder vor mir ablegte und mit meinen Finger einen kleinen Rhytmus auf die Tischplatte klopfte. Nachdenklich steckte ich mir nacheinander zwei Tomaten in den Mund, während ich meinen Blick durch die Mensa schweifen ließ. An unserem kleinen Tisch war Ruhe eingekehrt; Niasura fokussierte die Tischplatte und Lilya hatte ihre Finger um die Tasse geschlungen und starrte nach rechts aus dem Fenster in den Regen.
Ich wandte meine Augen von den beiden ab und schaute ohne ein gewisses Ziel in dem großen Raum herum. An den Seiten standen große, grüne Pflanzen in Blumenkübeln, und rundherum in der Mensa verteilt reihten sich Gruppentische an Gruppentische, aber so, dass eben jeder noch über eine gewisse Privatsphäre verfügte. Am heutigen Tag waren die Schiebewände aus Holz ausgefahren und begrenzten den Raum, an sonnigen Tagen ermöglichten sie den Blick nach draußen und jeder, der wollte, konnte sich seinen Tisch und seine Leute schnappen und beim Essen die frische Luft genießen. Alle fühlten sich eben in der Natur am wohlsten und bei der Errichtung der Akademie hatte man die Gebäude möglichst offen und nahe am Geschehen außerhalb errichtet.
Plötzlich spürte ich, wie mich jemand an stupste.
„Serena. Dein Prinz Charming nähert sich auf sechs Uhr", flüsterte Lilya und zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Ich drehte mich um und erblickte Aryan, der sich seinen Weg durch die Mensa hindurch bahnte und auf unseren Tisch zusteuerte. Aufgeregt fuhr ich mir noch einmal durch die Haare, während ich aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich Lilya und Nia einen vielsagenden Blick zuwarfen. Offenbar war das Thema Ayala für den Moment abgehakt.
„Was bist du denn bloß so aufgeregt?" neckte mich Niasura und ich schnitt ihr eine Grimasse, nachdem ich mich wieder zu ihr umgewandt hatte. Eigentlich hatte sie ja Recht. Ich meine...es war Aryan. Mein bester – äääh ich meine fester – Freund. Oh man, daran musste ich wirklich noch gewöhnen. Aber im Grunde genommen gab es für mich wirklich keinen Grund, aufgeregt zu sein. Ich meine, die Sache war geklärt, und es war alles... gut zwischen uns.
Aber Himmel, wir hatten uns geküsst und außerdem stieg bei seinem Anblick ein Kribbeln in mir empor, dass ich vorher nie empfunden hatte! Und ohh, sah er heute wieder gut aus, das hatte ich bei meinem kurzen Blick eben schon bemerkt.
Ich drehte mich zu ihm um, als er sich schließlich hinter mir räusperte. „Guten Morgen Sea, Niasura und Lilya." Er ließ seinen Blick über uns alle schweifen, aber bei mir blieb er hängen. Erst zögerte er noch und hob seine Hand, die unschlüssig in der Luft hing, bevor er sie durch sein dunkles Haar gleiten ließ. Dann fasste er sich offenbar ein Herz, trat noch einen Schritt näher zu mir, beugte sich vor und drückte mir, bevor ich es wirklich fassen konnte, einen kleinen, brennenden Kuss auf die Wange.
„Oh", erwiderte ich nur und spürte, wie die verräterische Röte wieder in mir emporstieg. „Hey... Aryan."
„Morgen, Aryan!" begrüßten ihn auch Lilya und Nia, als hätten sie es vorher einstudiert, und ließen ihre Blicke neugierig über uns beide hin und her wandern.
‚Okay, reiß dich zusammen, Serena!'
„Also, was willst du hier?" fragte ich ihn, so, als ob nie etwas Ungewöhnliches zwischen uns passiert wäre.
Er lachte kurz auf. „Charmant wie eh und je, meine liebe Sea." Er grinste mir kurz zu und ich erwiderte seine Reaktion. Ja, das war vertrautes Terrain, auf dem wir uns hier bewegten.
„Eigentlich wollte ich dich abholen, damit wir zur ersten Stunde gehen, aber wenn du nicht willst..." Er drehte sich um und tat so, als würde er wieder weggehen.
„Hey Großer! Warte auf mich!"
Als wir uns kennengelernt beziehungsweise angefreundet hatten, war ich mit meinen neun Jahren gefühlt das winzigste Mädchen auf der Akademie gewesen und er hatte immer schon zu den Jungs gehört, die keine Pubertät benötigten, um andere zu überragen. Gut, irgendwann hatte ich nachgelegt und er hatte aufgehört, zu wachsen, aber trotzdem war Aryan immer noch einen Kopf größer als ich. Nicht schwer vorstellbar also, warum wir bei unseren alten Kinderspitznamen geblieben waren.
Tatsächlich blieb Aryan stehen. Ich winkte meinen beiden Freundinnen zum Abschied zu, dann richtete ich meinen Blick noch einmal kurz auf Niasura. „Keine Sorge, wenn ich sie sehe, rede ich sofort mit ihr." Sie war diejenige, die mit Lilya am wenigsten dafür konnte, aber auch am besten mit Ayala befreundet war. Es musste unglaublich mies für sie sein, dass ihre beste Freundin einfach so verschwand, ohne ein Wort zu sagen.
Niasura lächelte mir schwach zu und formte mit ihrem Mund ein „Danke". Lilya sprang kurz auf und umarmte mich zum Abschied.
„Wow, das grad am Anfang war echt komisch, aber ihr seht süß zusammen aus", wisperte sie mir ins Ohr und grinste.
Ich war unendlich froh darüber, dass es ihr jetzt nicht schlecht ging, weil sie dieses kleine, harmlose Begrüßungsbussi gesehen hatte und lächelte ihr zu. „Danke."
Dann löste ich mich von ihr, schnappte mir mein Tablett und eilte zu Aryan. Während des Laufens hatte ich mir noch die letzte Tomate in den Mund gesteckt.
„Ihf muhf daf nohf kurf wägbringfn!" erklärte ich ihm mit halbgeschlossenen Mund tomatenkauend. Mit dem Kinn deutete ich auf das Tablett in meinen Händen und er schüttelte nur lachend den Kopf.
Erst an der Tablettausgabe angekommen, fiel mir auf, dass ich ja mit vollem Mund gesprochen hatte. Ich spürte, wie ich leicht rot anlief und schlug mir innerlich mit der Hand vor die Stirn.
‚Aber wieso ist mir das eigentlich so unangenehm? Es war ja nicht das erste Mal, dass er mich so gesehen hat', dachte ich schließlich und drehte mich wieder zu ihm um.
Aber je näher ich dem so gut aussehenden Oreaden kam - er wartete am Ausgang auf mich - desto peinlicher wurde mir die Sache wieder. Denn er war nicht mehr Mein-bester-Freund-Aryan – und das musste mir jetzt wirklich mal klar werden – sondern Mein-zukünftiger-Gefährte-und-Sýntrofo-Aryan. Und auf ihn musste ich nun mal den bestmöglichen Eindruck machen, denn das tat er mit seiner Perfektion schließlich auch auf mich.
‚Also, keine peinlichen Geschichten mehr ab jetzt!' nahm ich mir vor und schaute ihn fest an, während ich vor ihm zu stehen kam.
„Na, fertig du kleiner Nuschelmund?" erkundigte er sich grinsend und zog eine Augenbraue hoch. ‚Irgendwie würde das besser klappen, wenn er mich nicht daran erinnern würde'.
Ich sagte nichts mehr, sondern lächelte ihn nur süß an und tat so, als ob nichts gewesen wäre. Dann ergriff ich seine Hand und zog ihn aus der Mensa hinaus in den Regen.
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