Kapitel 16 - Die Kaninchen und die Schlange
Der Mann war etwa so groß wie Kakuzu. Die Falten in seinem Gesicht verrieten, dass er Ende fünfzig oder Anfang sechzig sein musste. Seine Gestalt war dennoch beeindruckend, was durch den von einer goldenen Fibel zusammengehaltenen Hermelinmantel noch unterstrichen wurde. Sein dunkelblondes, grau meliertes Haar und der gleichfarbige Bart waren akkurat gestutzt. Er betrat gelassen den Gastraum. Into, der bis eben noch am Tresen gestanden hatte, verschwand in seine Privaträume. Eine bedrückende Stille breitete sich aus.
„Nachdem wir uns jahrelang nicht gesehen haben, hatte ich mit einer freudigeren Begrüßung gerechnet", sagte der Mann und lächelte kalt.
Sein Blick ruhte auf Shouta und Ára, die ihn anstarrten wie das Kaninchen die Schlange. Shouta war in der Bewegung eingefroren. Er war kreidebleich und umklammerte den Tonbecher in seiner Hand.
Ára hatte einen Dolch gezogen, doch hens Hände zitterten so sehr, dass er hen beinahe aus der Hand fiel. Sie sahen beide aus, als würden sie am liebsten fliehen.
Ohne, dass es jemand aussprach, war sich Kakuzu sicher, dass das Sadao sein musste. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Shouta vor einem anderen Menschen solche Angst hatte.
Sadao schritt an den Dieben vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er warf seinen Mantel über den Tresen. Staub wirbelte in einer kleinen Wolke auf und er verzog missmutig das Gesicht. Unter dem Hermelin trug er ein purpurnes Hemd, darüber eine golddurchwirkte weiße Weste. Fremd und viel zu hell für den heruntergekommenen Rattenspuck.
Sadao lehnte sich an den Tresen, zog ein goldbeschlagenes Trinkhorn aus der Mantelinnentasche und füllte es mit Met aus dem Zapfhahn. An seiner rechten Hand blitzen massive Goldringe. Der Ring an seinem Zeigefinger war ein Siegelring. Ohne es mit Gewissheit sagen zu können, war sich Kakuzu sicher, dass die Briefe dieses Siegel getragen hatten.
Er konzentrierte sich aufs Einschenken, als störte es ihn nicht, dass sein Verhalten und seine Aufmachung alle Blicke auf sich zogen.
Es war still, bis Ára die Stimme wiederfand: „Was willst du hier?"
„Ára, Liebes", sagte Sadao, ohne hen anzusehen. „Steck den Dolch weg."
Eine unterschwellige Schärfe lag in seiner Stimme, doch Ára gehorchte nicht. Shouta hingegen trat zurück.
„Nach allem, was ich für dich getan habe?"
Sadao näherte sich hen. Ára, sowieso schon winzig, schien mit jedem Schritt weiter zu schrumpfen. Dennoch lag der Dolch sicher in hens Hand. Ára zitterte nicht mehr und in den dunklen Augen funkelte Hass.
„Hen hat dich was gefragt", sagte Shouta. Seine Stimme war belegt und ungewohnt leise. „Antworte."
„Lustig, dass ausgerechnet du dich einmischst", sagte Sadao. Er wandte sich schwungvoll von Ára ab – hen stieß lautlos Luft aus – und kam auf Shouta zu. Er blieb so dicht vor ihm stehen, dass ihre Körper sich beinahe berührten. Shouta wich zurück.
„Wie meinst du das?", fragte Shouta so leise, dass Kakuzu ihn kaum verstehen konnte.
„Du und deine Freunde habt diesen Hinterwäldlern in den Bergen in ziemliche Aufregung versetzt. Sie reden nur noch von einem weißhaarigen Dämon", sagte Sadao und deutete auf Hidan. „Ich nehme an, das war er."
„Der Dämon kann dich in Stücke reißen!" Hidan sprang auf. Seine Sense lehnte hinter ihm an der Wand, doch Kakuzu wusste, dass Hidan dazu keine Waffe brauchte.
„Könnte er", sagte Sadao, herablassend lächelnd. „aber ich habe Kontakte, die wissen, dass ich hier bin und sollte mir etwas passieren, werdet ihr es mit der gesamten Stadtwache zu tun haben."
„Ich werde dir zeigen, was ich kann!"
„Lass es", unterbrach Kakuzu Hidan. „Er hat Recht."
Er stimmte Sadao ungern zu, doch welche Optionen hatten sie? Sich durch das gesamte Reich metzeln und riskieren, dass der Stein an einen anderen Ort gebracht wurde? Die Mission nahm auch Verfolgung des Militärs zu viel Zeit in Anspruch.
Hidan stieß einen Fluch aus und ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen, wo er etwas von Jashin faselte, doch Kakuzu achtete nicht auf ihn.
„Dachte ich mir."
„Du hast die Frage nicht beantwortet", grollte Kakuzu.
Sadao warf Kakuzu einen gelangweilten Blick zu und wandte sich wieder an Shouta: „Ich wollte euch warnen, besonders dich. Es ist mir egal, was du mit den Fremdländern willst, komm mir nur nicht noch einmal in die Quere."
„Noch einmal?", fragte Shouta.
Sadao tätschelte Shoutas Wange. „Du warst immer ein kluger Junge, du weißt sicher, was ich meine."
Tonbecher und Trinkhorn polterten zu Boden. Met spritzte, der Tonbecher zersprang, und Sadao taumelte zurück. Kakuzu brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Shouta Sadao geschlagen hatte. Und zwar mit solcher Kraft, dass Sadao endlich auf Abstand zu ihm gehen musste. Blut lief an seinem Mund herunter.
„Das wirst du bereuen!", zischte Sadao. Shouta zuckte zusammen und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, als wäre er selbst überrascht von seiner Tat. Er wich soweit zurück, bis er an die Wand stieß und zog den Kopf ein.
„Verschwinde von hier", sagte Shouta flehentlich.
„Heb das Horn auf, und vielleicht vergesse ich, was du getan hast."
Shouta rührte sich nicht.
„Ára."
Auch hen reagierte nicht.
„Verstehe", sagte Sadao gefährlich ruhig. Er überwand den Abstand zwischen sich und Shouta unvermittelt, die Rechte zum Schlag erhoben. Doch er traf nicht.
Shouta fing den Schlag ab. Sie rangen miteinander und Shouta hielt ihn mühelos von sich. Sadao mochte jünger als Kakuzu sein, doch er war bereits dem Alter unterworfen. Die Kraft verließ ihn und Shouta war jung.
„Du wirst mir nicht noch einmal in den Weg geraten. Da haben wir uns verstanden, nicht wahr?", presste Sadao hervor.
Shouta stieß ihn von sich und zog seinen Dolch.
„Haben wir uns verstanden?", wiederholte Sadao langsam.
Kakuzu reichte es. Sadaos Drohung galt nicht nur Shouta und Ára, sondern auch Hidan und ihm selbst. Er erhob sich und knurrte: „Raus hier."
Sadaos Blick huschte zu ihm, dann fixierte er wieder Shouta.
„Es ist mir egal, dass du der Liebling eines Neuen bist."
Er beugte sich zu Shouta, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Shouta wurde grau im Gesicht und sah aus, als müsste er sich übergeben. Er senkte den Dolch und sein Körper wurde schlapp.
Sadao kehrte Shouta den Rücken zu, trat an den Tresen und wischte sich seelenruhig mit einem blütenweißen Tuch das Blut aus dem Gesicht.
„Das Trinkhorn kannst du behalten, Shouta", sagte Sadao. „Ich schenke es dir. Du kannst es sicher gut gebrauchen, oder?"
Shouta gab keine Antwort.
Sadao warf sich den Mantel über.
„Es gab Zeiten, in denen du mir geholfen hättest."
Das galt Ára, hen Sadao niederstarrte. Hen hielt seinen Blick nur kurz stand und senkte dann den Kopf.
„Ich bin enttäuscht." Zu Kakuzus Überraschung klang Sadao aufrichtig verletzt.
Sadao blickte in die Runde. Für einen Moment fixierte er Kakuzu, der unbeeindruckt zurückstarrte. Sadao war nur ein alter Mann in teurer Kleidung. Jede weitere Dominanzgeste wäre verschwendet.
„Denkt daran, kommt mir nicht in den Weg", sagte er und verließ den Rattenspuck.
Shouta brüllte einen Fluch und warf den Dolch nach der Tür, wo er bis zum Heft ins Holz eindrang und steckenblieb. Er stolperte zum Tresen, griff sich wahllos eine Flasche und nahm einen tiefen Zug. Er sackte in sich zusammen und seine freie Hand klammerte sich an den Tresen als würde er ansonsten stürzen.
„Was sollte das?", fragte Kakuzu.
Hidan schnaubte verächtlich. „Könnte man dich auch fragen."
„Ich habe nicht mit dir gesprochen, Hidan. Halt die Schnauze", erwiderte Kakuzu ungeduldig.
Er wandte sich an Shouta. Der trank weiter. „Warum hast du ihn geschlagen?"
„Ist egal jetzt."
„Du hast die Mission gefährdet."
„Scheißegal", sagte Shouta. Seine Stimme zitterte, als wäre er kurz davor zu weinen. Die Flasche war bereits halb leer.
Kakuzu fiel keine Antwort ein. Er wollte wütend werden, er wollte eine Antwort, irgendetwas, aber bei Shoutas jämmerlichen Anblick blieben ihm die Worte im Halse stecken.
Shouta ließ die Flasche auf den Boden fallen. Sie rollte unspektakulär über den Boden. „Ich geh planen oder so."
Er verschwand ins Obergeschoss und ließ einen stillen Gastraum zurück. Ára war unauffindbar.
Und das verzierte Trinkhorn lag auf dem dreckigen Boden.
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