Zweiundzwanzig (Stand 2025)
Langsam legte sich eine angenehme Ruhe über das Gelände der Ranch. Das Abendessen war vorbei, und die vertrauten Geräusche des Tages verklangen allmählich. Es war die Zeit, in der die Welt sich ein Stück langsamer zu drehen schien. Ich mochte diese Stunden. Sie gehörten mir – ein Moment, um durchzuatmen, die Gedanken schweifen zu lassen und mich wieder ein wenig zu sammeln.
Heute hatte ich etwas getan, das ich schon viel zu lange vernachlässigt hatte: zeichnen. Es war fast so, als hätte ich vergessen, wie befreiend es sein konnte, einen Stift in der Hand zu halten und Gedanken oder Bilder aufs Papier zu bringen. Seit Maleas Geburtstag, vor gefühlten Ewigkeiten, hatte ich keinen Stift mehr angerührt. Seitdem war einfach zu viel passiert.
Das weiche Kratzen des Bleistifts über das Papier erfüllte mein Zimmer, ein beruhigender Rhythmus in der Stille. Gerade zeichnete ich die Umrisse eines Pferdes, seine Mähne wehte in einem unsichtbaren Wind, als das laute Quietschen meiner Zimmertür die Ruhe durchbrach.
Ohne meinen Blick von der Zeichnung abzuwenden, sprach ich mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme: „Malea, was willst du?"
Ein erstauntes „Wie...?" entwich ihr. Sie klang verwirrt, und ich drehte mich schließlich grinsend zu ihr um. Ihr blondes Haar fiel ihr wild ins Gesicht, und sie hatte diesen neugierigen Ausdruck, den ich bei ihr so gut kannte.
„Warum weißt du, dass ich es bin? Du hast nicht mal hingeschaut," fragte sie und legte den Kopf schief, ihre Hände verschränkt hinter dem Rücken.
Mein Grinsen wurde breiter. „Ganz einfach. Die anderen sind höflich und klopfen, bevor sie reinkommen."
Ihr Gesicht wurde schlagartig rot, und sie senkte den Blick zu Boden. „Tut mir leid," murmelte sie leise, doch anstatt sich zurückzuziehen, trat sie einen Schritt näher. Ihre Augen glitten neugierig über meinen Schreibtisch, und ich konnte sehen, wie ihre Neugier die Oberhand gewann.
Ich lehnte mich zurück und beobachtete sie aus dem Augenwinkel, während sie einen zaghaften Blick auf meine Zeichnung warf.
„Schon gut," sagte ich schließlich und strich mir eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Dabei biss ich mir auf die Lippen, um meinen Frust zu unterdrücken. Manchmal hätte ich am liebsten die Person verflucht, die dafür sorgte, dass meine Haare nie so blieben, wie ich es wollte. Weder glatt noch lockig, sondern irgendetwas dazwischen – ein wahrer Albtraum. Jede Frisur hielt geschätzte 0,5 Sekunden, bevor sie sich in ein zerzaustes Chaos verwandelte. Und wenn es regnete und die Haare wieder trockneten? Dann glichen sie der Katastrophe, die ich innerlich nur „Mein Föhn ist explodiert" nannte.
Es war einfach nur nervig.
„Wolltest du etwas Bestimmtes?" fragte ich schließlich und richtete meinen Blick auf Malea, die vor meinem Schreibtisch stand und mich mit ihren großen, fragenden Augen ansah.
„Ich brauche Hilfe. Kannst du mal kurz mitkommen?" fragte sie mit einer Unschuld in der Stimme, die ich nicht so recht ernst nehmen konnte.
Ich seufzte und schob meinen Stuhl langsam zurück. Die schöne Ruhe am Abend, die ich gerade noch so geliebt hatte, schien endgültig dahin. „Bei was brauchst du denn Hilfe?"
Malea zögerte, ihre kleinen Hände spielten nervös mit einer ihrer blonden Locken. Sie schien fieberhaft nach Worten zu suchen, um ihre Bitte zu erklären. „Das lässt sich nicht so leicht erklären..." murmelte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Ich legte den Kopf schief und musterte sie skeptisch. „Malea, was hast du vor?"
Statt zu antworten, schoss sie plötzlich einen entschlossenen Blick in meine Richtung und griff nach meiner Hand. „Komm einfach mit!" rief sie und zog mich mit einer Energie, die ich ihr nicht zugetraut hätte, aus meinem Zimmer.
„Hey, warte mal! Malea!" protestierte ich, doch sie ignorierte meine Einwände und hastete mit mir durch den Flur.
Ihre kleine Hand hatte eine erstaunliche Kraft, und ehe ich mich versah, hatte sie mich die Treppe hinunter und durch die lange Veranda gezogen. Draußen empfing uns die kühle Abendluft, die nach frischem Heu und feuchter Erde roch. Der Himmel über uns war in ein tiefes Blau getaucht, die ersten Sterne blitzten durch die Dunkelheit.
„Malea, wo gehen wir hin?" fragte ich schließlich, diesmal etwas schärfer, während ich versuchte, mit ihren schnellen Schritten Schritt zu halten.
Sie blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und in ihren Augen lag eine Mischung aus Vorfreude und Sorge. „Du wirst schon sehen. Bitte, Lou. Vertrau mir einfach."
Ich hob eine Augenbraue. Vertrau mir einfach. Diese Worte waren selten ein gutes Zeichen, vor allem aus dem Mund eines Kindes. Doch etwas in ihrem Blick hielt mich davon ab, mich loszureißen und zurückzugehen.
Ich stolperte hinter Malea her, während sie mich eilig den halben Flur entlang zog. Plötzlich blieb sie so abrupt stehen, dass ich ihr beinahe in die Hacken trat. Sie bemerkte es nicht einmal, sondern öffnete mit einer entschlossenen Bewegung die Tür zu einem Zimmer. Gerade wollte sie mich hinter sich hineinziehen, doch ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Halt! Was soll das werden? Das ist Amy's Zimmer!" protestierte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Malea drehte sich um, ihre großen Augen blickten mich unschuldig an, als hätte ich gerade eine Kleinigkeit völlig überbewertet.
„Komm schon, Lou," sagte sie und zog kräftig an meinem Arm.
Ich seufzte schwer und ließ mich widerwillig von ihr in das Zimmer ziehen. Was hatte sie jetzt schon wieder vor?
Das Zimmer war gemütlich, aber schlicht eingerichtet. Ein paar Pflanzen standen auf der Fensterbank, und die weichen Farben der Einrichtung strahlten eine angenehme Wärme aus. Ich hatte dieses Zimmer seit meiner Ankunft auf der Ranch noch nie betreten. Es fühlte sich seltsam an, so plötzlich hier zu stehen.
Amy erschien von der Balkontür her, eine dampfende Tasse in der Hand. Sie trug ein lockeres Shirt und eine Jogginghose, die sie wie immer viel entspannter aussehen ließ, als sie tatsächlich war. Sie sah uns und hob amüsiert eine Augenbraue.
„Da ist sie. Kann ich jetzt mein Eis haben?" fragte Malea fröhlich und hüpfte leicht auf der Stelle.
Amy grinste. „Ja, hol dir eins aus der Kühltruhe. Sag Mama, dass ich es dir erlaubt habe, falls sie fragt."
Zufrieden mit dieser Antwort verschwand Malea aus dem Zimmer, ihre blonden Locken wippten bei jedem Schritt. Sie ließ die Tür hinter sich offen stehen und mich allein mit Amy.
Ich verschränkte die Arme und sah Amy genervt an. „Ernsthaft? Du benutzt deine Schwester, um mich hierher zu locken?"
Amy grinste noch breiter und schob mir die Tasse in die Hand. „Hat doch funktioniert, oder?"
Bevor ich etwas erwidern konnte, spürte ich, wie ein wenig von dem warmen Getränk über den Rand schwappte und meine Hand benetzte. „Pass doch auf!" fuhr ich sie an und fuchtelte ungeschickt mit der Tasse.
Amy verdrehte nur die Augen, ihr Gesichtsausdruck wirkte amüsiert. „Du warst auch schon mal besser gelaunt. Komm mit," sagte sie schließlich, ohne eine Antwort abzuwarten.
Sie drehte sich um und lief in Richtung Balkon. Ich blieb irritiert stehen und sah ihr nach. Was hatte sie jetzt schon wieder vor?
„Lou, wenn du da wie angewurzelt stehen bleibst, wirst du es nie erfahren," rief sie über die Schulter, ohne sich umzudrehen.
Ich knurrte leise, nahm einen kleinen Schluck aus der Tasse – heißer Tee mit einem Hauch Zitrone – und folgte ihr schließlich. Der Balkon war groß, viel größer, als ich erwartet hatte. Von hier aus konnte man die gesamte Ranch überblicken, die in der Abenddämmerung ruhig und friedlich dalag.
Amy lehnte lässig an der Brüstung und sah hinaus auf die dunkler werdenden Felder. Ihre Haltung war entspannt, doch ich erkannte die angespannte Nachdenklichkeit in ihrem Gesicht.
„Setz dich," sagte sie schließlich und nickte auf einen der beiden Korbstühle, die an einem kleinen Tisch standen.
„Was ist das hier? Eine Intervention?" fragte ich trocken, setzte mich aber trotzdem.
Amy schmunzelte leicht, setzte sich dann ebenfalls und stellte ihre eigene Tasse auf den Tisch.
Amy drehte ihren Kopf leicht und spähte über die Lehne ihres Stuhls zu mir. Ihr Blick war sanft, aber fest. „Lou, ich glaube, wir sollten mal reden. Findest du nicht? Ich will dich zu nichts zwingen, und das werde ich auch nicht. Aber..." Sie hielt kurz inne, atmete tief durch und seufzte. „Ich muss ehrlich sein: Ich habe dich inzwischen echt gerne. Und ich habe keine Lust mehr, die ganze Zeit mit dir zu streiten."
Ihre Worte ließen mich innehalten. Ich trat einen kleinen Schritt näher an sie heran, fühlte mich unruhig, aber auch neugierig. „Was genau soll das für ein Gespräch sein?" fragte ich zögernd und stellte die Tasse, die ich die ganze Zeit nervös umklammert hatte, langsam auf den Tisch ab.
Amy richtete sich etwas auf, ihre Hände umklammerten die Armlehnen ihres Stuhls, als bräuchte sie Halt. „Lou, ich weiß, dass du immer noch sauer auf mich bist, weil du denkst, ich würde dich ausspionieren. Aber das stimmt so nicht. Ich schreibe nur meine Eindrücke auf – über dich, über uns alle. Spionieren würde bedeuten, dass ich dir ständig hinterherlaufe oder in deine Privatsphäre eindringe. Das mache ich nicht."
Ihre Stimme wurde sanfter, fast flehend. „Ich verstehe, dass du dich dadurch verraten fühlst oder einfach nur unwohl. Aber bitte, versuch doch zu verstehen, dass ich dir nur helfen will."
Ihre Worte hingen in der Luft, begleitet vom leichten Wippen ihrer Füße, das ihre Nervosität verriet. Meine Augen wanderten zu der langsam untergehenden Sonne, die die Wolken in alle möglichen Farben tauchte.
Am Himmel zogen zwei Flugzeuge weiße Streifen hinter sich her. Früher hatte ich mit meinem Bruder immer gewettet, welches Flugzeug wohl schneller fliegen würde. Es war eine alberne Idee, denn wir hatten nie ein Ziel festgelegt, aber das spielte keine Rolle. Der Himmel, so endlos weit und frei, war damals wie ein Versprechen: unbeschwert, voller Möglichkeiten.
Ich wusste, dass der Himmel in Wirklichkeit schwarz war – eine Leere, die nur durch das Licht der Ozeane in ein strahlendes Blau getaucht wurde. Aber in Momenten wie diesen wollte ich an das glauben, was ich sah, nicht an das, was ich wusste.
Amy riss mich aus meinen Gedanken. „Lou," sagte sie leise, „ich will dir helfen, wieder Frieden mit deiner Familie zu finden. Aber dafür musst du anfangen, das aufzuarbeiten, was dich innerlich auffrisst."
Ihre Worte trafen mich. Ich ließ meinen Blick von den Bäumen in der Ferne abgleiten, die von der untergehenden Sonne in ein tiefes Schwarz getaucht wurden, und sah zu ihr. Sie beobachtete mich aufmerksam, und ihre nächsten Worte waren voller Nachdruck.
„Glaub mir, ich wünschte fast, du wärst einfach eines dieser Teenager, die aus Langeweile Sachen zerstören oder anderen absichtlich wehtun. Das wäre leichter zu begreifen, leichter zu lösen. Aber das bist du nicht. Ich weiß, dass dich etwas beschäftigt. Etwas, das so schwer auf dir lastet, dass es dich aus dem Gleichgewicht bringt. Es verändert dein Verhalten – und das ist nicht die Lou, die du eigentlich bist."
Ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte, und seufzte leise.
„Weiß Nick davon, von diesem Protokoll, meine ich?" fragte ich leise und hob die Tasse mit dem Tee an die Lippen, mehr aus Nervosität als Durst.
Amy schüttelte den Kopf. „Nein, die Familien erfahren in der Regel nichts davon. Sie wissen, dass du hier von Psychologen betreut wirst, aber nicht, was das eigentliche Ziel dieser Betreuung ist. Es könnte sonst passieren, dass Angehörige versuchen, das Ergebnis zu beeinflussen oder euch hier schnell rausholen, bevor irgendetwas Unangenehmes ans Licht kommt."
Sie hielt inne, musterte mich und fügte dann hinzu: „Aber wie ich schon gesagt habe, ich glaube nicht, dass Nick das Problem ist. Ihr übertragt eure Spannungen gegenseitig aufeinander, deswegen streitet ihr ständig. Aber diese Spannungen haben insgeheim nichts mit euch beiden zu tun. Sie kommen von woanders – von einer dritten Person."
Ihre Worte prallten an mir ab wie Regen an einer Fensterscheibe. Keine Regung zeigte sich in meinem Gesicht, obwohl ich ihre Bemühungen bemerkte, mir eine Reaktion zu entlocken.
Amy seufzte und wechselte das Thema. „Lass uns doch mal über deine Eltern reden. Sag mir, warum dir ihr Schicksal so egal ist. Du hast gewissermaßen beide deiner Eltern innerhalb von zwei Tagen verloren. Ich verstehe nicht, wie dich das so kalt lassen kann. Ich glaube, wenn einer meiner Eltern sterben würde... ich wüsste nicht mehr, wo vorne und hinten ist. Dann würde gar nichts mehr funktionieren."
Ich schlug ein Bein über das andere und lehnte mich zurück. Mein Blick suchte den Horizont, aber meine Stimme blieb ruhig, fast gleichgültig. „Zu meinem Vater hatte ich nie ein gutes Verhältnis. Es macht keinen Unterschied, ob er da ist oder nicht. Der einzige Unterschied ist, dass man jetzt einen Teller weniger auf den Tisch stellen muss."
Amy zuckte zusammen, sichtlich schockiert über meine Worte. Für einen Moment glaubte ich, sie würde mich anschreien, wie ich so etwas sagen könnte. Doch sie atmete tief durch und entschied sich für eine andere Taktik.
„Als ich vor ein paar Tagen mit deinem Bruder gesprochen habe, hat er etwas ganz anderes erzählt. Er meinte, ihr hättet euren Vater immer verehrt."
Ich schnaubte leise. „Nick war blind. Er hat es nie verstanden."
Amy ließ nicht locker. „Warum hattest du so ein schlechtes Verhältnis zu deinem Vater?"
Meine Stimme wurde leiser, fast ein Flüstern. „Er hatte Nick. Seinen tollen Sohn. Der, aus dem Mal was werden sollte. Er hat ihn in allem unterstützt, ihm den Weg geebnet. Ellie und ich mussten immer allein kämpfen. Für ihn gab es nur seinen Sohn."
Amy sah mich an, ihre Stimme wurde noch sanfter. „Lou... das ist nicht alles, oder? Was hat er noch getan?"
Ich wich ihrem Blick aus, ließ die Stille für einen Moment zwischen uns stehen. Dann änderte ich das Thema. „Willst du wissen, warum mir das Verschwinden meiner Mutter egal ist?"
Amy seufzte ließ sich aber auf meine Umlenkung des Gespräches ein, sie schien froh zu sein das ich überhaupt etwas erzählte. Sie lehnte sich zurück und nickte. „Erzähl es mir."
Ich starrte in die Ferne, sprach langsam, als würde ich jedes Wort abwägen. „Ich war tatsächlich kurz traurig, als sie verschwand. Sie ging drei Tage vor meinem Geburtstag. Das Einzige, was sie uns hinterlassen hat, war ein Zettel mit den Worten: Sucht nicht nach mir."
Meine Stimme brach fast, doch ich zwang mich, weiterzusprechen. „Ein paar Tage nach meinem Geburtstag kam eine Karte. Eine Geburtstagskarte. Sie war für mich."
Amy sah mich erwartungsvoll an. „Und? Was stand drin?"
Ich spürte, wie meine Hände zitterten. „Es war eine vorgedruckte Karte. Vorne stand: Alles Gute zum 16. Geburtstag."
Amy runzelte die Stirn. „Aber... du bist 17."
Ich nickte langsam, senkte den Blick auf den steinernen Balkonboden. „Genau. Sie war nur ein paar Tage weg – und wusste schon nicht mehr, wie alt ich bin."
„Stand nichts anderes drauf?" fragte Amy, ein kläglicher Versuch, dieser trostlosen Geschichte doch noch etwas Positives abzugewinnen.
Ich schnaubte leise. „Doch. Auf der rechten Seite, ganz unten, stand in fast unleserlicher Schrift: Mama." Ich hielt inne, bevor ich fortfuhr, meine Stimme wurde leiser. „Es wirkte, als wäre sie in irgendeinen Laden gegangen, hätte eine Karte gekauft und noch im Geschäft mit einem alten Kugelschreiber ein Wort darunter gekritzelt. Dann hat sie sie in einen Umschlag gesteckt und abgeschickt. Mehr nicht."
Amy schwieg, und ich blickte in die Ferne, wo die untergehende Sonne den Himmel in ein tiefes Orange tauchte. Das leise Zirpen der Grillen war das Einzige, das die entstandene Stille durchbrach.
„Weißt du," sagte ich schließlich, meine Worte fest, „wenn ich ihr so egal bin, dann ist sie mir auch egal. So eine Mutter brauche ich nicht. Und Ellie braucht sie auch nicht."
Ich hielt inne, spürte, wie die Wut in mir nachließ, nur um einer bitteren Ruhe Platz zu machen. „Irgendwann wird Ellie das auch verstehen. Wir sind ohne sie besser dran."
Langsam drehte ich meinen Kopf wieder zu Amy, meine rechte Hand klopfte unruhig auf die Tischplatte. Ich atmete tief ein. „Ich hatte keine guten Eltern, Amy. Und auch wenn du das nicht verstehen kannst: Sie sind mir egal. Ich würde nicht sagen, dass ich sie hasse, aber wir brauchen sie nicht."
Amy sah mich schweigend an. Ihre Hände ruhten auf ihrem Schoß, die Füße berührten nur mit den Spitzen den Boden. Ihr Blick war ruhig, fast abwägend.
Nach einer Weile sagte sie leise: „Lou, ich habe gestern mit deinem Bruder gesprochen. Und obwohl du behauptest, dass ihr ständig Probleme miteinander habt, hat er fast nur positiv über dich gesprochen. Wie gut du dich um Ellie kümmerst, wie viel du für sie machst." Sie hielt kurz inne. „Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum du dir immer wieder Ärger eingehandelt hast. In deiner Akte steht etwas von Beamtenbeleidigung und kleineren Diebstählen."
Ich seufzte, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Polizei ging mir einfach nur auf die Nerven. Ich habe einen Abschluss, ich bin nicht mehr schulpflichtig. Aber trotzdem haben sie mich jedes Mal auf Nicks Wunsch in die Schule geschleift, weil er ja das Sagen hatte." Ich schüttelte den Kopf, die Erinnerung ließ meine Stimme härter werden. „Ich wollte einfach meine Ruhe. Keine Streitereien. Aber das hat er nie verstanden."
Amy nickte leicht, ihre Augen auf mich gerichtet. Sie sagte nichts, wartete darauf, dass ich weitersprach.
„Und was die Diebstähle angeht..." Ich hielt inne, nahm die Tasse Tee in die Hand, mehr, um mich zu beschäftigen, als um zu trinken. „Das war nie viel. Ein Brötchen, ein paar Cent wert. Aber ich wollte nicht ständig zuhause sein. Ich wollte nicht, dass Ellie uns immer streiten sieht. Also bin ich früh aus dem Haus gegangen, um Nick zu meiden. Irgendwann bekam ich halt Hunger, und dann hab ich mir eben etwas genommen. Es war nicht richtig, ich weiß. Aber ich habe das alles nur gemacht, weil ich das Beste für Ellie wollte."
Amy nickte langsam, ihre Haltung entspannter als zuvor. Sie wirkte, als würde sie meine Worte zumindest ein Stück weit nachvollziehen können.
„Ich habe gestern mit Nick über deine Rückprobleme gesprochen, die du vor ein paar Tagen hattest," begann Amy und sah mich mit einem durchdringenden Blick an. „Er meinte, er könne sich nicht erinnern, dass du dich jemals verletzt hast."
Ich stand langsam auf, meine Bewegungen bedächtig, während ich zur Balkontür schlenderte. Meine Schritte waren klein, fast zögerlich. Ohne mich umzudrehen, erwiderte ich leise: „Man vergisst Dinge. Niemand kann sich an alles erinnern."
Eine kurze Stille entstand, schwer und geladen, bevor ich hinzufügte: „Ich leg mich jetzt hin."
Plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Amy's Atem war nah, fast spürbar in meinem Nacken.
„Lou, du solltest..." begann sie, doch ich unterbrach sie mit einer Stimme, die kühler war, als ich es beabsichtigt hatte.
„Amy, es reicht für heute, okay?" Meine Worte waren fest, eine klare Grenze, die ich zog. Ohne ein weiteres Wort machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer, den Blick starr nach vorn gerichtet.
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