Sechsundzwanzig (2025)
Das Geschirr klirrte, als ich es in einem Rutsch in die Spüle gleiten ließ. Gerade hatten wir gefrühstückt, und nun hatte sich alle aus dem Staub gemacht. Amy und ich hatten seit zwei Wochen nicht mehr über meine Vergangenheit gesprochen. Sie sagte immer, dass sie irgendetwas klären musste, doch was genau, wusste ich nicht. Seitdem ich alles ausgesprochen hatte, waren die Nächte wieder ruhiger geworden. Mit einem Schwamm bewaffnet begann ich, die Teller von Brötchenkrümeln und dem ein oder anderen Marmeladenfleck zu befreien. Heute war Samstag, das bedeutete, dass alle zu Hause waren, also wunderte es mich nicht, als ich hörte, dass die Tür aufging.
Ich schielte über meine Schulter und sah aus dem Augenwinkel Nick hinter mir stehen, der Amy gerade in die Küche gefolgt war.
Ich ließ den Teller wieder in die Spüle fallen und drehte mich herum.
„Nick, was machst du hier?", fragte ich und sah zwischen ihm und Amy hin und her. Sein Blick war ernst auf mich gerichtet. Den Bart, den er das letzte Mal noch getragen hatte, hatte er wieder abrasiert, und nun sah er wieder aus wie 21, die er auch tatsächlich war.
„Frau Holstein meinte, du bist bald so weit, dass du wieder nach Hause kannst", sagte er mit tiefer Stimme. Seine Hand lag auf der Lehne eines der Flechtstühle.
„Aber vorher müssen wir ein gemeinsames Gespräch führen", sagte Amy ernst und wies mir mit einer Geste an, mich an den Tisch zu setzen.
„Ich habe noch nicht einmal fertig abgewaschen", sagte ich abwehrend. Die Tatsache, dass Amy meinen Bruder einfach herbestellt hatte, ohne es mir zu sagen, gefiel mir nicht, und dass sie nun ein Gespräch mit uns führen wollte, noch weniger. Ich konnte mir schon vorstellen, was das Ziel dieses Gespräches war, und das gefiel mir nicht.
„Das mache ich später fertig. Das eilt nicht. Setz dich", sagte Amy ruhig, und mein Blick wanderte zu meinem Bruder, der sich bereits auf einem der Stühle niedergelassen hatte.
„Ist Ellie auch hier?", fragte ich und sah Nick in die Augen.
Er nickte. „Sie erkundet mit Anna und diesen beiden Mädchen den Hof", brummte er mit seiner tiefen Stimme.
„Mit Anna", wiederholte ich murmelnd und ließ mich langsam am Küchentisch nieder.
„Ja. Anna und ich sind ein Paar", sagte er leise, ohne mir dabei in die Augen zu schauen.
„Das wusste ich schon, bevor ich hierherkam", sagte ich, und er schien überrascht über diese Antwort. Anna war seine Kollegin. Seit zwei Jahren fuhren sie gemeinsam Streife, und sie war von Sekunde eins an in ihn verliebt gewesen. Nick hatte über eineinhalb Jahre gebraucht, um das zu kapieren.
Mein Bruder zog eine Augenbraue hoch. „So? Dann wusstest du das ja früher als ich", sagte er, und ich musste grinsen. In der Tat...
Amy war damit beschäftigt, Gläser und Getränke auf den Tisch zu stellen, und blickte dabei immer wieder zwischen mir und meinem Bruder hin und her. Wir schwiegen beide.
Seufzend setzte sich Amy zu uns. Sie nahm Platz am Kopfende des Tisches, sodass wir in einem Dreieck saßen.
Amy versuchte vergeblich, mir mit Blickkontakt das Wort zu erteilen, aber ich schwieg und sagte nichts.
Sie blickte nun zu Nick. „Lou wurde während ihres gesamten Aufenthaltes hier von einer Psychologin betreut", erklärte Amy mit sachlicher, fester Stimme und hielt dabei Blickkontakt zu meinem Bruder. Er schien jedoch im Gegensatz zu mir keinerlei Verwunderung darüber zu zeigen. Wahrscheinlich dachte er, dass das normal war und einfach dazugehörte. „Das Ziel dabei war herauszufinden, warum Lou so handelt. Warum sie plötzlich eine solche Wandlung durchlebt hat. Dabei ist einiges ans Licht gekommen. Es ist nun aber auch wichtig, dass Sie erfahren, was wirklich geschehen ist, damit Sie anders mit ihr umgehen, als Sie es bisher getan haben", sagte Amy ernst. Ich sah, dass Nick zum Sprechen ansetzen wollte, aber Amy sprach weiter, bevor er zu Wort kam. „Sie anzuschreien gehört nicht zu einem Umgang, der ihr guttut. Im Gegenteil", sagte Amy, und ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie einen kurzen Blick auf mich warf.
Ich hatte meinen Blick auf den Tisch gerichtet. Das war mir jetzt schon unangenehm, und das Gespräch hatte noch nicht einmal richtig begonnen.
Es herrschte Schweigen. Keiner sagte etwas, bis schließlich Nick das Schweigen brach.
„Du musst schon was sagen. Zu einem Gespräch gehört, dass jemand etwas sagt, und ich kann nicht anfangen, weil ich keine Ahnung habe, worum es hier geht", sagte er leicht genervt.
Na super, das ging ja gut los...
Amy blickte zu mir und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Lou, du solltest jetzt etwas sagen", sagte sie leise, und ich richtete meinen Blick auf sie und stand auf.
„Nein, muss ich nicht! Ich werde hier von dir überrumpelt. Du hättest mir erzählen können, dass er kommt, aber du hast nichts gesagt!", sagte ich wütend über Amys Schweigen.
„Lou, das wurde spontan entschieden. Das war nicht meine Entscheidung, sondern die von Frau Schulz. Wenn du das hier hinter dich gebracht hast, kannst du wieder nach Hause. Dann kannst du wieder zu deiner Familie", sagte Amy immer noch ruhig. Dennoch merkte ich, dass sie nervös war. Sie ließ ihre Finger auf der Tischplatte tippen und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl umher.
„Nein, ich will das aber nicht", murmelte ich und trat vom Tisch zurück.
Nick riss frustriert die Arme hoch. "Mann, Lou! Kannst du dich nicht einfach mal benehmen? Ich dachte, die Zeit hier hätte dir gutgetan und du hättest dich verändert, aber anscheinend war das eine Illusion!"
Ich drehte mich langsam zu ihm um. Mein Blick war kühl, distanziert. Schließlich ließ ich meinen Blick auf Amy ruhen. "Es hat keinen Sinn. Mit Nick kann man nicht reden. Er wird mir nie glauben. Für ihn war ich immer diejenige, die spinnt. Er hat eine ganz andere Sicht auf die Dinge. Wenn ich nur den Hauch einer Chance gesehen hätte, dass er mich unterstützt, hätte ich es versucht. Aber diese Chance existiert nicht. Ich weiß jetzt schon, wie er reagieren wird – noch genervter, noch wütender als jetzt."
Amy seufzte leise, während Nick mit zusammengebissenen Zähnen die Hände zu Fäusten ballte. "Kannst du mir dann mal erklären, wieso ich fast drei Stunden hergefahren bin, wenn du mir jetzt doch nichts sagen willst?", fragte er scharf.
Ich sah ihn mit einem bitteren Lächeln an. "Weil du es hören musst."
Amy legte ihre Hand beruhigend auf meinen Arm. "Lou, bitte. Setz dich wieder zu uns." Sie blickte dann auffordernd zu Nick. "Und Sie, Nick, hören bitte einfach nur zu. Ohne dazwischenzureden." Ihre Stimme war ruhig, aber bestimmt.
Nick presste die Lippen zusammen, bevor er sich wortlos auf einen Stuhl sinken ließ. Ich folgte widerwillig. Einen Moment herrschte Stille, dann begann Amy zu sprechen.
"Lous Verhalten, so wie Sie es kennen, hat sich über viele Jahre entwickelt. Die Ursache liegt in ihrer Kindheit. Vor allem bei ihrem Vater." Ihr Blick wanderte prüfend zwischen Nick und mir hin und her. "Lou hat über Jahre hinweg Gewalt erfahren, die von Ihrem Vater ausging."
Nick schüttelte den Kopf. "Das ist doch absurd! Unser Vater ist tot, und jetzt, Jahre später, ziehst du seinen Namen in den Dreck?", fragte er mit kalter Stimme.
Ich erwiderte seinen Blick unerschrocken. "Ich wünschte, ich hätte es mir ausgedacht. Für dich war er immer der perfekte Vater, der dir alles ermöglicht hat. Aber für mich? Ich war nur eine Tochter, die er nie wollte."
Nick wich meinem Blick nicht aus, doch seine Hände ballten sich fester um die Armlehnen des Stuhls. "Das glaube ich nicht."
"Es ist die Wahrheit. Er hat dich geliebt, dich unterstützt. Aber mich? Er hat mich gehasst. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der es anders war. Wenn ich etwas tat, das ihm nicht passte, schlug er mich. Er sagte immer, dass ich sonst meine Grenzen nicht kennen würde. Ich war gerade eingeschult worden, als ich verstand, dass das nicht normal ist – aber er hat mich zum Schweigen gebracht."
Nick lehnte sich zurück, atmete schwer. "Sowas hätte ich doch gemerkt..."
"Hast du? Hast du dich je gefragt, warum ich nie Freunde nach Hause gebracht habe? Warum er mir nie ein freundliches Wort geschenkt hat?" Ich hielt inne und sah, wie sich in seinen Augen Unruhe regte. "Erinnerst du dich an die Ferien, als Mama mit Ellie schwanger war? Du warst mit ihr bei Oma, ich war mit Papa allein. Wir haben im Garten gearbeitet. Irgendetwas habe ich falsch gemacht – in seinen Augen. Er hat nach mir geschlagen. Etwas getroffen, irgendeine Chemikalie. Sie hat meine Haut verätzt. Er hat mich ins Krankenhaus gebracht mich versorgen lassen und mich dann gegen Ärztlichen Rat entlassen lassen und ist mit mir wieder gefahren – aber nicht nach Hause. Sondern in eine Hütte mitten im Nirgendwo. Erst als die Schmerzen nachließen, brachte er mich zurück. Und du... du warst wütend auf mich, weil du dachtest, ich hätte ihn darum gebeten, mit mir alleine Urlaub zu machen."
Nick sah mich fassungslos an. "Ich kann mich erinnern... aber das... das hätte doch jemand merken müssen. Mama? Sie hätte doch nicht einfach zugesehen!"
Ich schüttelte den Kopf. "Doch, sie wusste es. Ich habe es in ihrem Blick gesehen, wenn er mich geschlagen hat. Aber sie hat es geschehen lassen. Deshalb ist sie nach seinem Tod gegangen. Sie wollte nicht, dass ich ihr Vorwürfe mache."
Nick rieb sich mit den Händen übers Gesicht. "Lou, das... das kann ich einfach nicht glauben..."
Ich legte vorsichtig meine Hand auf seine. "Ich weiß. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe nie gewollt, dass Ellie eine Mutter hat, die so wegsieht. Und ich wollte nicht, dass du sie suchst. Sie war immer nur mit sich selbst beschäftigt."
Nick schluckte hart. "Und Ellie? Hat er ihr auch wehgetan?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe sie beschützt. Ich wusste, wenn ich nichts tue, könnte es auch ihr passieren. Also habe ich alles auf mich genommen. Ich habe sie nie absichtlich verletzt. Aber an dem Tag, als du mich angeschrien hast und mich festhieltest... da habe ich ihn in dir gesehen. Ich hatte Panik."
Nick sah mich lange an. "Warum hast du mir das nie gesagt? Ich bin dein Bruder, Lou! Ich bin Polizist. Ich hätte dir helfen können."
Ich schüttelte traurig den Kopf. "Wärst du ehrlich zu dir selbst – hättest du mir geglaubt? Für dich war Papa ein guter Mann. So wie für alle anderen. Aber er hat mich zerstört, Nick. Ich kann ihn nicht vermissen. Ich bin froh, dass er nicht mehr da ist."
Stille legte sich über den Raum. Dann atmete Amy tief durch. "Dieser Schritt war wichtig – für euch beide." Sie richtete sich auf. "Lou, deine drei Monate hier sind um. Du darfst mit deiner Familie nach Hause gehen."
Ich blinzelte überrascht. So plötzlich? Mein Blick glitt durch den Raum. Es fühlte sich noch nicht real an.
Amy lächelte sanft. "Deine Familie kann über Nacht hierbleiben. Morgen könnt ihr einen schönen Tag verbringen. Und du hast Zeit, dich von allen zu verabschieden."
Nick stand langsam auf und gab Amy die Hand. "Danke. Mir war das alles nicht klar."
Dann wandte er sich mir zu. "Wollen wir nach Ellie sehen?"
Ich nickte, blieb aber noch einen Moment sitzen. Amy legte ihre Hand auf meine. "Du bist hier immer willkommen. Ich weiß, du magst Pferde nicht, aber vielleicht möchtest du trotzdem mal wiederkommen?"
Ich lächelte schwach. "Am Ende der Welt ist es schöner, als ich dachte."
Amy schmunzelte. "Und ich will nie wieder hören, dass du Ärger mit der Polizei hast."
"Ich gebe mir Mühe."
Ihre Stimme wurde sanfter. "Lou, rede über deine Probleme. Ein Körper kann nur eine gewisse Belastung aushalten, bevor er zerbricht."
Ich nickte langsam. Sie zog mich in eine feste Umarmung. Und für einen Moment fühlte ich mich – sicher.
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