9. Physischer Kontakt | Keno
Vierzig Minuten später stand ich außer Atem vor Mikis Tür.
„Keno?", fragte sie verschlafen, als sie mir im Pyjama öffnete. „Was machst du denn schon hier? Es ist Sonntag und noch nicht einmal elf."
„Wir müssen reden", sagte ich nachdrücklich und quetschte mich an ihr vorbei ins Innere.
„Okay, komm ruhig rein. Fühl dich wie zu Hause", gähnte sie und trottete mir hinterher in ihr Zimmer. Mein Blick glitt hinüber zur Pinnwand, an der jedes Mal mehr Notizzettel hafteten.
„Keno? Alles klar? Du bist kreidebleich", bemerkte Miki verschlafen und sank hinab auf ihr zerwühltes Bett.
„Ich habe etwas gesehen", begann ich behutsam und setzte mich meinerseits in den Korbsessel am Fenster. „Eine neue Erscheinung."
„Wen?"
„Keine Ahnung. Ein Mädchen, vielleicht ein paar Jahre älter als wir. Sie muss einen sehr gewaltsamen Unfalltod gestorben sein. Ihre Verletzungen sahen schrecklich aus."
„Und wo hast du sie gesehen?"
„Auf der Friedhofsinsel."
„Friedhofsinsel?", wiederholte Miki verständnislos und ich erklärte: „Eine Insel ein paar Kilometer vorm Festland, wo wir unsere Verstorbenen bestatten. Dreimal die Woche geht eine Fähre dorthin, wenn deine Familie dort einen Platz erwerben will, müsst ihr euch nur an das örtliche Bestattungsunternehmen wenden. Ich glaube, die haben momentan sogar eine Rabattaktion."
„Sehr witzig. Aber warum dort? Ist sie dort gestorben? Funktioniert das so? Siehst du Lilo deshalb nur in Wassernähe?"
„Na ja, es gibt kein wirkliches Handbuch für den Umgang mit meinen Geistererscheinungen, wo ich nachschlagen könnte", erinnerte ich sie leicht spöttisch. „Es ist schwierig zu verallgemeinern. Meine Familienmitglieder scheinen schon irgendwie an den Ort ihres Todes gebunden zu sein, aber Robins Vater starb beispielsweise im Krankenhaus und ihn kann ich ausschließlich an seinem Vogelbeobachtungsplatz sehen. Vermutlich hat es eher mit dem Ort an sich zu tun und was man damit verbindet. Lilo hat das Meer geliebt, auch wenn genau dieses Meer sie uns genommen hat."
„Also manche Geistererscheinungen, zieht es immer wieder zu ihren schönsten Erinnerungsplätzen zurück und manche zu ihren schlimmsten?", fasste Miki nachdenklich zusammen.
„Ja, vermutlich."
„Also muss mit diesem Mädchen auf der Insel irgendwas passiert sein", murmelte Miki überzeugt und fuhr ihren Laptop hoch. „Und wenn sie dort sogar gestorben ist, gibt es sicher irgendwelche alten Aufzeichnungen darüber."
„Aber das muss dann Jahre her sein", überlegte ich. „Warum zeigt sie sich mir jetzt? Ich hab davor noch nie Leute gesehen, die ich nicht persönlich zu ihren Lebzeiten gekannt habe ..."
„Lass uns erstmal herausfinden, wer sie ist", meinte Miki beschwingt und schlug enthusiastisch in die Tasten. Doch nach einer Stunde intensiver Recherche, wussten wir auch nicht mehr.
„Fuck", knurrte Miki frustriert und knallte den Deckel zu. „Sonst berichten die Medien über jeden Scheiß, aber wenn ein junges Mädchen auf einer unbewohnten Insel umkommt, findet man plötzlich kein Wort darüber?!"
„Wir wissen nicht, ob sie dort gestorben ist", erinnerte ich sie. „Möglicherweise, hat sie nur eine enge Verbindung zu-" Ich stockte und begann nachdenklich meine Unterlippe mit den Vorderzähnen zu malträtieren. Eine enge Verbindung zu dem Ort? Dann ...
„Hey! Worüber denkst du nach? Lass mich gefälligst teilhaben!"
„Diese Insel war nicht immer unbewohnt", erklärte ich Miki. „Und wenn sie eine enge Verbindung zu dem Ort hat, hat sie vielleicht selbst dort gelebt oder hat zumindest jemanden gekannt, der es getan hat."
„Wer hat dort einmal gelebt?", fragte Miki aufgeregt. „Eine ansässige Ortsfamilie? Gibt es noch Nachfahren, die wir dazu befragen könnten?"
Ich schluckte schwer. „Ja, Robins Familie mütterlicherseits."
„Perfekt! Dann können wir seine Mutter fragen?"
„Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie mit uns darüber reden wird – Carmen ist eine sehr verschwiegene und distanzierte Frau. Wenn Onkel Naz noch leben würde, ständen die Dinge anders, aber so ..."
„Onkel Naz?"
„Carmens Bruder und letzter Bewohner des Anwesens. Als Kinder durften wir die Sommerferien immer bei ihm auf der Insel verbringen."
„Er hat ganz allein auf dieser grusligen Insel gelebt?"
„Nun, meistens war er auf Reisen, aber ein paar Wochen im Jahr hat er sich dorthin zurückgezogen. Er war ein unglaublich netter und lebenslustiger Zeitgenosse."
„Woran ist er gestorben?"
„Er hat sich in den Tropen irgendeinen Infekt eingefangen. Das war hart für Robins Familie, da sein Vater damals bereits mit der Chemo begonnen hatte."
„Hm, du denkst also eher nicht, dass er ein Psycho gewesen sein könnte, der dieses Mädchen in seinem Anwesen abgeschlachtet hat?"
„Nein, auf keinen Fall", knurrte ich entschieden.
„Na gut, suchen wir erstmal weiter nach Hinweisen. Hast du es dir schon überlegt, ob du es moralisch vertreten kannst, Kajas Laptop zu klauen?"
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir darauf etwas finden, was uns in der Endler-Sache weiterhilft", behauptete ich seufzend.
„Warum nicht? Kaja hat selbst gesagt, dass sie regelmäßig mit ihm gesprochen hat. Es ist durchaus möglich, dass er ihr das ein oder andere anvertraut hat. Und einen anderen Anhaltspunkt haben wir nicht – also entweder das oder weiter abwarten, bis sein Rachedurst ihn völlig überwältigt und schlimmeres passiert. Willst du das wirklich riskieren?"
Bevor ich darauf antworten konnte, wurde die Zimmertür aufgerissen und Gloria erschien im plüschigen Morgenmantel. „Oh, ich wusste gar nicht, dass wir schon Besuch haben. Wollt ihr was frühstücken?"
„Nein, Mum! Geh weg!"
„Nicht in diesem Ton, Miki. Keno, was ist mit dir? Keinen Hunger?"
„Ehrlich gesagt, doch", gab ich etwas verlegen zu und Gloria grinste zufrieden. „Alles klar, dann mach' ich uns mal Pancakes."
*
Montagmorgen wartete ich nervös auf Miki.
Die ganze Situation überforderte mich weiterhin, und das Schlimmste war, Lilo zeigte sich mir einfach nicht mehr.
„Keno!"
Miki bremste kurz vor mir ab und blies sich eine ihrer langen Locken aus dem Gesicht.
„Du bist spät dran."
„Ja, hab verschlafen, weil ich gefühlt die ganze Nacht recherchiert habe. Doch der Schlafentzug hat sich komplett gelohnt, denn ich habe eine unglaubliche Entdeckung gemacht!"
„Ach ja?", fragte ich wenig überzeugt und sie nickte eifrig. „Ich bin auf diese Website gestoßen, die ein riesiges Archiv an lokalen Zeitungsartikeln vorrätig hat. Guck, ich hab gleich ein paar der Interessanteren ausgedruckt!"
Die Brünette kramte kurz in ihrer Tasche und drückte mir dann einen Schwung Blätter in die Hände.
Ich las: Leichnam in ansässiger Schule gefunden. Hausmeister schlitzt sich im Heizungskeller beide Pulsadern auf. Darunter eine Schwarzweißfotografie von Patrick Endler.
„Ich kenne die Artikel", murmelte ich wenig überzeugt. „Die Lokalpresse hat die Story schlimm ausgeschlachtet. Aber wie soll uns das weiterhelfen?"
„Das ist noch nicht alles ... Schau dir den letzten Ausdruck an!"
Ich blätterte weiter und erstarrte. Die Schlagzeile lautete: Eine Tote und ein Schwerverletzter nach Unfall. Darunter: Die 18-jährige verstarb noch an der Unfallstelle, ihr 19-jähriger Beifahrer wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht und schwebt in Lebensgefahr. Die genaue Unfallursache ist noch unklar. Ein Gutachter soll nun bei der Klärung der Unfallursache helfen.
„Okay ... und was soll ich jetzt damit anfangen?"
„Nun, es gibt noch einen weiteren Artikel ..." Miki fischte ein weiteres Blatt aus der Arschtasche ihrer Jeans und faltete es auseinander: Der 19-jährige Patrick Endler überlebt knapp – seine Mitfahrerin Alicia Ruíz hatte dagegen weniger Glück.
„Verstehst du jetzt? Bei dieser mysteriösen Erscheinung auf der Friedhofsinsel könnte es sich doch um Alicia Ruíz handeln! Vom Alter her würde es passen!"
„Aber dieser Unfall ist schon über fünfzehn Jahren her ... warum zeigt sie sich mir dann jetzt?"
„Vielleicht hatte sie davor keinen Grund, sich dir zu zeigen, aber jetzt nach Endlers Tod stehen die Dinge plötzlich anders. Möglicherweise war sie sogar sein erstes Opfer!"
„Oder sie hatten wirklich einen schweren Unfall und ihn trifft überhaupt keine Schuld."
„Wenn er wirklich unschuldig ist, warum hat er es deiner Meinung nach dann getan?!"
„Weil er eine diagnostizierte Angststörung hatte. Und ganz ehrlich? Nur weil er keine Schuld an dem Unfall hatte, bedeutet das nicht unbedingt, dass er sich nicht selbst die Schuld daran gegeben hat! Glaubst du, ich hatte mit keinen Schuldgefühlen zu kämpfen als das mit Lilo passiert ist? Das ist eine ganz normale menschliche Reaktion, wenn so etwas Schreckliches passiert; man sucht die Schuld automatisch bei sich selbst oder gibt sie anderen. Aber manchmal passieren schreckliche Sachen einfach."
„Oh bitte, Keno! Du glaubst echt, dass es da keinen Zusammenhang gibt? Du siehst zum ersten Mal eine Erscheinung, der du selbst zu ihren Lebzeiten nie begegnet bist und dann ist sie rein zufällig eine Bekannte von Patrick Endler, der Erscheinung, die es auf dich abgesehen hat? Das ist doch Bullshit!"
Mikis Flut aus Worten traf mich hart. „Ich sage nur, dass wir keine voreiligen Schlüsse ziehen sollten ...", argumentierte ich deshalb trotzig. „Ich weiß zufällig sehr gut wie es ist, wenn die Menschen in deinem Umfeld ein zu schnelles und endgültiges Urteil fällen. Ich weiß nicht, warum Endler es getan hat oder warum er so wütend ist, aber ich weiß, dass ihn des Mordes zu beschuldigen, ohne den geringsten Beweis zu haben, ihn nicht gerade besänftigen wird."
Hatte Dr. Larson recht? Führte mich die Freundschaft zu Miki zurück auf einen gefährlichen Pfad?
„Dann sollten wir es herausfinden. Lass uns zur Friedhofsinsel fahren und mit Alicia reden."
Diese Vorstellung behagte mir überhaupt nicht. „Ich ... muss darüber nachdenken."
„Natürlich musst du das", seufzte Miki gereizt. „In der Zwischenzeit versuche ich an Kajas Laptop ranzukommen."
Damit ließ sie mich stehen und eilte in einen der Korridore davon. Mein Herz hämmerte laut in meiner Brust, während ich die Fotokopien in meinen Rucksack stopfte. Was war das nur plötzlich für ein nagendes Gefühl in mir drin? Wie ein Jucken unterhalb meiner Schädeldecke ...
Irgendwas lief gewaltig schief in meinem Kopf.
Und dann sah ich ihn auf einmal. Endler, wie er inmitten eines lärmenden Flurs stand und mich direkt anblickte.
Möglicherweise wurde ich wirklich langsam verrückt.
Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und folgte dem Schülerstrom. Um mich herum hörte ich Gesprächsfetzten und Gelächter.
„Hey Geisterjunge!"
Eine Hand packte mich an der Schulter und hinderte mich so am Weitergehen. Na toll, dieser Idiot hatte mir gerade noch gefehlt.
„Was willst du, Marlon?", fragte ich resigniert und ohne mich nach ihm umzudrehen.
„Warum sofort so abweisend? Ich will nur ein bisschen plaudern."
„Ich aber nicht mit dir. Kannst du mich jetzt freundlicherweise loslassen?"
„Nein, erst ..." Doch er vollendete den Satz nicht, nur ein erstickter Laut entwich seiner krampfenden Kehle und ich wandte mich schließlich verwundert herum, um zu sehen, was los war. Der Anblick bescherte mir einen Schock. Marlon hatte mich inzwischen losgelassen und hielt sich mit beiden Händen den Hals, er hatte offensichtliche Probleme Luft zu bekommen. Und der Grund dafür stand direkt hinter ihm. Endler hatte seine blutverschmierten Finger um ihn gelegt und drückte ihm kontinuierlich die Luft ab. Seine Augen glühten regelrecht vor Hass und sein ganzes Gesicht war zu einer wütenden Maske verzerrt.
Scheiße ... was mache ich jetzt nur?!
„Marlon!"
Seine Zwillingschwester Marnie kam angelaufen und drückte ihm augenblicklich einen Inhalator an die zuckenden Lippen. „Tief einatmen", instruierte sie. „Alles ist gut, du hast nur einen Anfall, der geht gleich vorüber."
Doch auch nach der Inhalation bekam Marlon keine Luft. „Scheiße, warum funktioniert das denn nicht?!"
Inzwischen hatte sich eine Traube Schaulustiger gebildet. Das ist nicht echt, versuchte ich mich selbst zu überzeugen. Du bildest dir das alles nur ein – Marlon hat einen Asthmaanfall und wird von keinem rachesüchtigen Geist stranguliert!
„Marlon!", kreischte Marnie panisch, als dieser die Augen verdrehte und man nur noch das Weiße darin sah. „Bitte! Irgendwer! Hilfe!"
Fuck ...!
„Lass ihn gefälligst los", zischte ich und alle starrten mich an, als wäre ich völlig geistesgestört. Was ich meinen Mitschülern diesmal nicht einmal verübeln konnte, es war bestimmt mega verstörend mir dabei zuzusehen, wie ich mit Endler sprach.
Sein hasserfüllter Blick richtete sich auf mich. „Warum? Er hat es nicht anders verdient ... Sie alle ... lügen und verbreiten Gerüchte ..."
Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet und schluckte überfordert. „Ich meine es ernst, lass ihn los! Du bringst ihn sonst noch um ...!" Meine Hand schnellte vor und wollte ihn am Handgelenk packen, doch in der Sekunde, als ich ihn berührte, oder zumindest so etwas in der Art tat, weil er ja keine wirkliche physische Erscheinungsform besaß, entglitt ihm ein gellender Schmerzensschrei und er wich zurück, wobei seine Manifestation sich mehrmals hintereinander auflöste und wiedererschien. Im selben Moment schnappte Marlon neben mir gierig nach Luft.
„Was zum ...?" Ich starrte überfordert meine Hand an, die ich immer noch ausgestreckt vor mir hielt. Was ist da gerade passiert ...?
„Woah, voll krass", sagte jemand, der Geschehenes mit seinem Handy abgefilmt hatte. „Geisterjunge hat Marlon mit seinen paranormalen Fähigkeiten das Leben gerettet!"
Shit!
Der Tumult um mich herum wurde immer lauter und als ich dann plötzlich Andys besorgtes Gesicht in der Masse aufblitzen sah, machte ich am Absatz kehrt und rannte weg.
***
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