8. Die Friedhofsinsel | Keno
„Und? Wie ist es dir in den letzten sechs Wochen ergangen?"
„Ganz gut?"
Dr. Larson musterte mich eingehend. „Das klingt wie eine Frage."
„Ganz gut", wiederholte ich und senkte diesmal übertrieben stark meine Stimme in eine tiefere Tonlage herab.
„Ja? Ist irgendwas Gutes passiert?"
„Könnte man so sagen", stimmte ich zu, wobei mein Blick mal wieder entrückt am Fenster hing. „Ich habe eine neue Freundin gefunden. Miki."
„Oh ja, der Neuzugang", sagte Dr. Larson lächelnd. „Das freut mich wirklich sehr. Erzähl mir doch etwas mehr von eurer Freundschaft. Was unternehmt ihr zusammen?"
Wir gehen auf Geisterjagd, aber dieses Detail behielt ich wohl besser für mich.
„Ach nichts Besonderes. Wir hängen nur ab, meistens im Vogelschutzgebiet. Miki macht es nicht das Geringste aus, dass ich manchmal ... Dinge sehe. Im Gegenteil, sie findet es sogar cool. Ist ne nette Abwechslung zu den Reaktionen, die ich normalerweise deswegen erhalte."
„Wie genau darf ich das verstehen? Was genau findet sie daran cool?", forschte Dr. Larson sofort nach und lehnte sich ein Stück aus ihrem Sessel vor.
„Na ja, schätze, dass es ihr einfach egal ist – ob diese Dinge nun real sind oder ich einfach nur verrückt."
„Deine Erscheinungen sind real, zumindest für dein Gehirn. Aber das bedeutet nicht, dass du wirklich tote Menschen sehen kannst, Keno. Darüber haben wir doch schon oft gesprochen."
„Ich weiß", seufzte ich resigniert. „Das wollte ich damit auch gar nicht sagen. Doch nur mal angenommen es wäre so-"
„Keno", unterbrach sie mich nachdrücklich und ich verstummte. „Du solltest dich nicht wieder in einer Fantasie verrennen. Wir haben es schon oft geübt, Realität und Vorstellungskraft auseinanderzuhalten."
„Ich weiß, dass es nicht real ist. Ich sage nur, dass es schön ist jemandem in meinem Leben zu haben, dem es egal ist, selbst wenn es so wäre."
„Diese Art von Gedanken sind nicht hilfreich."
„Wieso? Weil Verrückte keine Freunde haben dürfen?"
„Du weißt, dass ich dieses Wort nicht sehr schätze. Du hast ein unverarbeitetes Trauma, welches zuweilen schwere Halluzinationen auslöst und bist deshalb seit Jahren in Therapie. Du bist krank, nicht verrückt. Dafür muss man sich nicht schämen."
„Nein? Da habe ich andere Erfahrungen gemacht."
„Ich weiß, die letzten Jahre waren nicht einfach für dich. Aber du hast auch wirklich große Fortschritte gemacht. Wirf das nicht weg, nur, weil du jemanden begegnet bist, der spirituell sehr offen veranlagt ist", formulierte sie es betont diplomatisch.
„Ich verstehe schon, was Sie mir damit sagen wollen", versicherte ich meiner Therapeutin eisig. „Keine Sorge, ich habe nicht vergessen, dass ich mir das alles nur einbilde. Wie könnte ich auch? Ich werde mindestens fünfmal täglich daran erinnert."
Die restliche Stunde vermied ich es, erneut über Miki zu sprechen und erzählte stattdessen irgendwelchen Mist von der Schule. Dr. Larson tolerierte es.
Nach dieser zugegebenermaßen sehr unbefriedigten Therapiestunde, beeilte ich mich raus ins Freie zu gelangen, so schnell, dass ich mit Miki zusammenstieß.
„Aua. Was ... machst du denn hier?"
„Auf dich warten! Komm, ich muss dir was erzählen!"
Am Kiosk an der Ecke holten wir uns Getränke und steuerten anschließend das Naturschutzgebiet an.
„Was ist denn?", fragte ich ungeduldig, aber Miki schüttelte nur entschieden den dunklen Schopf. „Nicht hier."
„Was soll denn diese Geheimnistuerei? Selbst wenn jemand zuhört, uns nimmt doch eh keiner ernst."
„Vertrau mir. Das sollte wirklich niemand anderes mitanhören", murmelte sie überzeugt und ich sog unsicher meine Unterlippe ein.
Endlich, nachdem wir ein paar Minuten die verwaisten Stege entlanggelaufen waren, blieb sie stehen. „Das sollte reichen."
„Okay, also was ist eigentlich los?"
Sie fuhr dramatisch herum. „Kaja schreibt Tagebuch."
Einen Moment, konnte ich sie nur verwirrt anstarren, bevor ich bemerkte: „Okay. Schön für Kaja."
„Nein, du verstehst nicht. Wenn sie mit Endler gesprochen hat, hat sie das doch sicher niedergeschrieben. Möglicherweise finden wir in den Aufzeichnungen einen Hinweis auf sein Motiv."
„Ähm, möglich, aber wie stellst du dir das vor? Denkst du ernsthaft, Kaja würde uns einfach so ihr Tagebuch lesen lassen?"
„Natürlich nicht. Genau deshalb müssen wir uns ihr Laptop ungefragt für eine Weile ausleihen."
„Bitte was? Du willst Kajas Laptop stehen?", entschlüpfte es mir schockiert, doch Miki verdrehte daraufhin die Augen. „Sie kriegt es doch wieder. Und wir lesen nur die Einträge über Endler. Wir machen es ja nicht, um ihr zu schaden. Schon vergessen? Wir wollen nur ihr Leben retten."
„Trotzdem ..."
„Ach komm, Keno. Denk doch mal genauer darüber nach. Was ist schlimmer, heimlich Kajas Tagebuch zu lesen oder zuzulassen, dass ein rachsüchtiger Stalker-Geist sie ermordet?"
„Das wird dann vermutlich ein Richter entscheiden", vermutete ich ironisch.
„Sie muss es ja nicht einmal merken. In ein paar Stunden ist das erledigt."
„Ich weiß nicht, Miki. Wenn wir erwischt werden, haben wir echt Riesenärger am Hals. Das ist keine Lappalie, dafür fliegt man von der Schule."
„Okay, dann legen wir die Hände in den Schoß und machen nichts. Aber könntest du dann wirklich mit dieser Schuld leben? Von der Gefahr gewusst und dennoch nichts unternommen zu haben?"
„Gib mir ein paar Tage", verlangte ich seufzend. „Lass mich darüber nachdenken."
„Fein, aber lass dir besser nicht zu viel Zeit."
Unschlüssig betrachtete ich sie aus den Augenwinkeln heraus. Die wehende Brise spielte mit ihrem langen Haar.
Hatte Dr. Larson recht? Verrannte ich mich da in was, weil ich es unterbewusst genoss, dass mir jemand einmal nicht die ganze Zeit über sagte, diese Dinge wären nicht real?
„Was?", fragte Miki, die mein anhaltendes Starren bemerkt hatte und sich die herumflatterten Haare versuchte hinters Ohr zu streichen.
„Nichts."
Sie war meine Freundin, oder?
Also warum zweifelte ich plötzlich an ihr?
*
Einmal in der Woche, sonntags, setzte ich vormittags mit der Fähre auf die Friedhofsinsel über, um ihre Gräber zu besuchen. In meinem Rucksack steckte Lilos Lieblingsbuch, aus dem ich ihr regelmäßig vorlas und im Blumenladen am Hafen kaufte ich Omas Lieblingsblumen. Harald legte immer einen Strauß für mich zurück und rechnete nie den vollen Betrag ab. Andy begleitete mich oft, während mein Vater meines Wissens nach seit Mums Beisetzung keinen Fuß mehr dorthin gesetzt hatte.
Es war windig, aber nicht zu stürmisch, um die Überfahrt unmöglich zu machen. Andy meckerte trotzdem übers Wetter und klammerte sich an dem Styroporbecher Kaffee fest, den sie vorhin im Backshop erworben hatte, während ich Omas Kornblumenstrauß einsammelte.
Andy rauchte, wie bei jeder Überfahrt und wir starrten beide versunken ins dunkle Wasser, welches von Regentropen in Aufruhr versetzt wurde. Wir hatten die stillschweigende Übereinkunft getroffen, bei diesen Besuchen so wenig wie möglich zu kommunizieren, damit jeder in Ruhe seiner eigenen Trauer nachhängen konnte. Aufgrund des schlechten Wetters waren wir die einzigen Fahrgäste. Möwen kreisten über unseren Köpfen und kreischten mit ihren Artgenossen um die Wette.
Langsam nahm die Friedhofsinsel Kontur an. Die sichelförmige Insel war etwa 3 km lang und an ihrem dicksten Punkt 1,5 km breit. Seit etwa acht Jahren war sie unbewohnt und verwildert, nur das eindrucksvolle alte Herrenhaus, welches im Kern der Insel schlummerte, erinnerte heute noch daran, dass sie einst von Menschen bewohnt worden war.
Mare, die erfahrene Fährfrau, lehnte sich aus dem Seitenfenster ihrer Kabine. „Wir legen in fünf Minuten an! Kommt mir aber nicht zu spät zurück, ich denke heut Abend wird's nochmal richtig ungemütlich werden!"
„Klar", versprachen wir synchron und Mare nickte zufrieden. Die Fähre fuhr ohnehin nur an 3 Tagen in der Woche und auch nur, wenn das Wetter mitspielte. Die Ortsansässigen hatten deshalb schon öfter überlegt, den Friedhof umzusiedeln, aber aufgrund des weitläufigen Naturschutzgebiets, fehlte dafür einfach der Platz. Andere boykottierten das Vorhaben, da es angeblich die Totenruhe zu sehr stören würde und das Unglück heraufbeschwor. Ich war auch dagegen, zwar hatte ich noch keine Erscheinung am Friedhof gesehen, aber aufgrund meiner Anfälligkeit für Paranormales, war ich für den räumlichen Abstand durchaus dankbar.
Das Boot legte am Steg an und Andy und ich gingen von Board. Es regnete immer noch leicht und meine Sneaker versanken im feuchten Sand. Der Friedhof lag einen etwa zehnminütigen Spaziergang vom Strand entfernt, auf einer kleinen Anhöhe, von dem man einen fantastischen Ausblick bis zum Festland hatte.
Aus der saftigen, mit Wildblumen durchwachsenen Wiese, ragten Hunderte Grabsteine hervor, die sich über die komplette Anhöhe erstreckten - manche alt und verwittert, andere neu und funkelnd.
Unser Familiengrab befand ich auf der Nordseite des Abhangs. Ich kniete davor nieder und lehnte die Korblumen an den nassen Stein. Drei Bilder wurden in den letzten zehn Jahren darauf eingraviert; das Bildnis einer Greisin, einer hübschen Frau mittleren Alters und das eines kleinen Mädchens. Auch nach knapp drei Jahren, fühlte es sich noch so unglaublich falsch an, Lilo an ihrem Grab zu besuchen. An ihrem Grab! Sie war doch gerade einmal sechs Jahre alt als sie beigesetzt wurde! Das war doch krank.
Hinter mir hörte ich, wie Andy erneut versuchte eine Flamme mit ihrem Zipper zu erzeugen.
„Du solltest hier echt nicht rauchen. Wenn Mama könnte, würde sie dich sicher maßregeln."
„Sie kann aber nicht", erwiderte Andy unbeeindruckt. „Und ihretwegen bin ich auch nicht hier. Soll ich ihr heute vorlesen?"
Ich nickte, da sich ein fetter Kloß in meinem Hals gebildet hatte. Andy verstand sofort und kramte das Buch aus meinem Rucksack.
Sie las: „Es gibt einen höchst bemerkenswerten Brunnen am Marheinekeplatz – fünf mannshohe Pötte aus grauem Stahl, die auf niedrigen Bodenerhebungen stehen. Über ihre Ränder läuft Wasser, das sich auf dem mit Kopfstein gepflasterten Platz in einer schmalen Rinne sammelt, die wiederum in einem kreisrunden Becken mündet. An sonnigen Tagen planschten gern Kinder herum, denn gleich nebenan, unter hohen, Schatten spendenden Platanen, befindet sich ein Spielplatz. Außerdem gibt es, rund um den Platz herum, mehrere wunderbare Buchhandlungen, Kneipen, Restaurants, eine große Markthalle und das Gasthaus Dietrich Herz, wo man die leckersten Schnitzel Berlins bekommt und wo die Väter der Kinder mit den Kellnerinnen flirten. Und es gibt dort jede Menge Tauben."
Während ich Andys ruhiger Stimme lauschte, liefen mir plötzlich die Tränen. Eigentlich würde ich behaupten, dass ich abgesehen von meinen hin und wieder auftretenden Wahnvorstellungen, ihren Tod ganz gut verarbeitet hatte - aber manchmal, wie jetzt, überrollte mich der Schmerz erneut. Und so saß ich dann eine Weile da, in gekrümmter Haltung, das Gesicht in den Händen vergraben, während meine Schwester das begonnene Kapitel beendete.
Erst danach legte sie mir tröstend eine Hand auf die Schulter, die immer noch bebte. Nach weiteren Minuten war ich so weit aufzustehen. Seite an Seite gingen wir den Abhang hinunter.
Der Regen war verstummt, aber eine kühle Brise fraß sich unangenehm durch meine Kleidung und zerzauste mir das Haar. Ich wusste, dass meine Augen stark gerötet waren und ich vermutlich insgesamt verheult aussah, weshalb ich mir ein paar Mal mit dem Ärmel über die Augen wischte.
„Ich hasse dieses Gruselhaus", meinte Andy auf einmal und starrte auf das Inselzentrum, welcher einen Wald aus dunklen Tannen bildete. Und im Herzen davon lugte die steinerne Fassade eines nun leerstehenden Herrenhauses hervor.
„Verrückt, oder? Das hier tatsächlich mal eine Familie ansässig war. Eine schreckliche Vorstellung."
Ich zog eine Augenbraue empor und bemerkte trocken: „Du bist auch nicht unbedingt meine erste Wahl mich zu begleiten, sollte ich jemals auf eine einsame Insel verbannt werden."
„Lügner. Wen willst du sonst wählen, etwa deine neue Freundin? Wie heißt sie noch gleich?"
„Miki."
„Miki, richtig. Sie scheint nett zu sein."
„Mhm, sie steht außerdem auf Mädchen. Also musst du dieses Gespräch wirklich nicht mit mir führen."
„Dieses Gespräch muss vorab noch jemand mit mir führen", warf sie lachend ein und wuschelte mir liebevoll durchs Haar - und in genau diesem Moment sah ich sie. Die Erscheinung eines Mädchens, schätzungsweise in Andys Alter und blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah schrecklich aus. Besaß mehrere offene Wunden, durch die stellenweise blanker Knochen hindurch schimmerte. Eine besonders schlimme klaffte an ihrem Kopf und legte Teile ihrer Schädeldecke frei. Es wirkte, als wäre sie von einem wilden Tier zerfetzt worden.
„Keno", fragte Andy besorgt, „alles in Ordnung?"
Ich konnte nicht antworten, der schwere dunkle Blick der Erscheinung, hatte mich völlig in ihren Bann gezogen. Sie sah mich einfach nur an, voller Schmerz und Traurigkeit.
„Hey! Reiß dich zusammen! Da ist nichts, okay?", behauptete Andy nachdrücklich, doch ich merkte die beginnende Panikattacke in mir hochsteigen und begann zu hyperventilieren.
„Fuck!", fluchte Andy und scheuerte mir eine. Das half. Ich schaffte es, wieder etwas freier zu atmen und die aufkeimende Panik in meinem Inneren verflüchtigte sich.
„Sorry", sagte ich sehr leise, traute mich aber noch nicht, den Blick vom Boden loszureißen.
„Komm, lass uns einfach gehen", drängte Andy und zerrte mich am Ärmel weiter. Erst als wir den Strand erreichten, traute ich mich den Blick wieder zu heben.
Andy setzte sich trotz der Nässe auf die Wartebank in der Nähe des Haltestegs und starrte aufs Wasser. Ich sank daneben und tat es ihr gleich.
„Tut mir leid", sagte ich nach einer Weile und hörte sie seufzen. „Ich weiß ja, dass du es nicht mit Absicht machst. Aber manchmal ist es echt schwer damit klarzukommen. War es jemand, denn du kanntest? Lilo oder ... Mum?"
„Nein", erwiderte ich. „Ich hab sie davor noch nie gesehen."
Was komisch war, weil ich sonst ausschließlich Menschen sah, die ich zu ihren Lebzeiten gekannt hatte.
„Sie?"
„Ein Mädchen, vielleicht achtzehn oder neunzehn. Sie sah absolut schrecklich aus, wie nach einem Bärenangriff oder so."
„Ein Bärenangriff?", echote Andy ungläubig.
„Keine Ahnung. Vielleicht hatte sie auch einen schweren Autounfall, ich kann es nicht genau sagen."
Schweigend betrachtete sie mich. Sie musste auch nichts weiter sagen, ich konnte fühlen, was ihr gerade durch den Kopf spukte. Mir ging es nicht nur nicht nicht besser, es wurde schlimmer.
Eine halbe Stunde später sammelte Mare uns ein. Sie brachte nur einen einzigen Passagier mit auf die Insel, unsere ehemalige Grundschullehrerin Frau Kufeisen.
„Andrea und Konrad Finke", begrüßte sie uns lächelnd, als das Boot anlegte. Ich konnte sie nicht ausstehen. Sie war die Umbridge unter den Lehrkräften unserer ehemaligen Grundschule. Eine echte Sadistin.
Als wir ablegten, blickte ich wie in Trance auf die sich nun entfernende Halbmondküste. Ich bekam den Anblick des so schrecklich zugerichteten Mädchens nicht aus meinem Kopf.
Was war nur auf dieser Insel mit ihr passiert?
***
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