4. Der Grund
Es war brütend heiß, trotzdem legte ich fast die komplette Strecke bis zum nächstgelegenen Ufer im Laufschritt zurück.
Da die Schule ans Schutzgebiet grenzte, musste ich dafür nur querfeldein durch ein Waldstück, um an die Dünen zu gelangen. Die Mittagshitze ließ das Wasser funkeln, aber ich hatte keinen Blick dafür. Rasch streifte ich mir Sneaker und Socken ab und ließ meine nackten Zehen vom Meerwasser umspülen. Meine Augen schweiften unruhig umher, doch von Lilo fehlte jede Spur. Ich hatte noch nie aktiv auf sie gewartet, vor allem anfangs hatte mich ihr Anblick jedes Mal mit Kälte erfüllt und manchmal spürte ich selbst jetzt noch jene Eisklumpen in mir knacken.
Nach einer Weile ließ ich mich dann in den Sand nieder und starrte wie betäubt aufs Wasser.
Diese ganze Situation verunsicherte mich - meine Erscheinungen waren bisher immer friedvoll aufgetreten, traurig ja, aber niemals aggressiv oder verängstigt.
Ich versuchte mich an die lebende Version Endlers zu erinnern, aber da gab es fast nichts woran sich meine Gedanken haften konnten ... Er war reserviert, hatte den Lehrkräften auf den Fluren freundlich zugenickt und war ansonsten in Stille seiner Arbeit nachgegangen. Oft hatte er billige Kopfhörer um den Hals getragen, die in einer ausgebeulten Hosentasche innerhalb eines altmodischen Walkmans mündeten. An mehr erinnerte ich mich nicht, abgesehen von diesem Gerücht, welches ich immer als absolut lächerlich abgetan hatte; Endler würde einer Schülerin nachstellen. Angeblich sollten sogar Polaroidaufnahmen bei seiner Leiche gefunden worden sein, die diese Besessenheit bewiesen. Aber weder die Polizei noch die Zeitungen hatten dieses Detail erwähnt und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein solcher Skandal lange unentdeckt geblieben wäre. Die Regionalzeitung berichtete später über eine diagnostizierte Angststörung und ein Alkoholproblem, darunter die Telefonnummer einer Hotline an die sich Betroffene wenden konnten. Ein paar meiner Mitschüler fanden es offenbar schrecklich witzig diese Nummer auszuschneiden und mir an den Spind zu kleben. Ein paar hafteten da immer noch gut lesbar, andere waren durch den Gebrauch eingerissen oder von ihren Anbringern wieder abgerissen worden.
Aber noch mehr beunruhigte mich Lilos Furcht. Ihre Furcht um mich. Was glaubte sie, konnte mir passieren?
Einmal hatte ich versucht die Hand meiner auf der Bettkante sitzenden Oma zu berühren, aber abgesehen von einem unwohlsamen Schauer, der mich daraufhin schockartig überkam, hatte ich ins Leere gegriffen. War es anderes, wenn die Erscheinung von sich aus versuchte mich anzufassen? Oder war es mehr wie bei dem Film Poltergeist wo nur Gegenstände bewegt wurden? Oder hatte ich gerade nur einen richtig krassen Schub, der meine Psychose realer erschienen ließ?
Vielleicht sollte ich wirklich wieder regelmäßiger meine Tabletten schlucken.
»Hier steckst du!«
Ich war ehrlich beeindruckt, als Miki so plötzlich zwischen den Sanddünen auftauchte - unsere vorangegangenen Streifzüge schienen sich ausgezahlt zu haben.
Sie war verschwitzt und das lange Haar hing ihr in Strähnen am Gesicht herunter.
»Was war denn bloß los? Robin meinte, du bist im Krankenzimmer, aber als ich dort nach dir sehen wollte, warst du wie vom Erdboden verschluckt. Die Lehrer sind übrigens gerade am Durchdrehen.«
»Ich habe Lilo gesehen«, weihte ich sie vorsichtig ein und sah weiter aufs Wasser. »Ich habe sie noch nie außerhalb des Ufers gesehen, aber das war noch nicht einmal das Seltsamste daran.« Eine Gänsehaut überkam mich und elektrisierte meine feinen Armhaare.
»Sondern?«, fragte Miki aufmerksam und rutschte neben mich. Ihr Gesicht war von der Sonne gerötet.
»Na ja, sie hat versucht mich zu warnen.«
»Wovor?«
»Endler. Sie meinte, er wäre nicht grundlos zurückgeblieben, dass er geblieben ist, um andere zu verletzen.« Ohne mir dessen richtig bewusst zu sein, zeichnete ich mit dem Finger feine Linien in den Sand.
»Etwa dieses Mädchen, was er angeblich vor seinem Suizid gestalkt hat oder einfach willkürlich irgendwen?«
»Keine Ahnung.«
»Wir sollten es herausfinden«, meinte Miki mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen. Ich war mir unsicher, ob sie den Ernst der Lage vollständig umriss.
»Und dann? Ich meine, wir können ihn schlecht bei der Polizei anzeigen, oder?«
»Aber wenn wir wissen, was er vorhat bzw. auf wen er es abgesehen hat, könnten wir-«
»Wahrscheinlich ist er hinter mir her. Lilo hat sowas in die Richtung angedeutet, dass er weiß, dass ich ihn sehen kann und ihm dieser Umstand offenbar missfällt.«
»Gut!«, fand Miki triumphierend und ich hob entrüstet eine Braue. „Ich meine, nicht gut, dass ein rachsüchtiger Geist dich möglicherweise ermorden will - aber immerhin müssen wir niemanden vom Ernst der Situation überzeugen und du kannst deinen Angreifer sehen. Ein enormer Vorteil.«
»Und wenn ich es mir doch nur ... einbilde?«
»Auch gut. Aber im Fall der Fälle sollten wir vorbereitet sein und recherchieren, wie man etwas tötet, was eigentlich bereits verstorben ist.«
»Oh ja, lass es uns einfach in Google Search eingeben«, schlug ich sarkastisch vor und pustete mir einen kleinen schwarzen Käfer vom Knie. Er breitete die hauchdünnen, membranartigen Flügel aus und sirrte davon.
»Oder wir fragen gleich bei den Betroffenen nach«, überlegte Miki und begann ihre Zehen unbewusst im Sand einzugraben. »Lebende eignen sich Wissen darüber an was ihnen schadet um zu überleben, vielleicht tun Verstorbene dasselbe um zu bleiben.«
»Und wen soll ich da fragen? Weder meine Mutter noch meine Großmutter haben in der Vergangenheit groß auf meine Ansprechversuche reagiert und ich will Lilo auf keinen Fall noch weiter verängstigen.«
»Und sonst gibt es keine weitere Erscheinung, die wir ausfragen könnten?«, wurde Miki nicht müde nachzuhaken und ließ den Sand über ihren Zehen bröckeln. »Niemanden?«
Da gab es durchaus jemanden.
»Fein, einen Versuch ist es wohl wert«, murmelte ich angespannt und sprang auf. »Treffen wir uns in zwei Stunden bei dir Zuhause.«
»Wieso kann ich nicht einfach mitkommen?«
»Nein, diese Erscheinung zeigt sich nur, wenn ich allein bin. Alles Weitere erkläre ich dir später.«
Mit diesen Worten ließ ich sie sitzen und folgte dem Uferverlauf weiter ins Schutzgebiet hinein.
Die Erscheinung, die mir in den Sinn gekommen war, verband ich mit einer sehr schmerzhaften Erinnerung. Sie war der Auslöser für den verheerenden Streit zwischen mir und Robin gewesen, welche unsere Freundschaft jäh und unwiderruflich beendet hatte.
Mein Ziel war eine kleine Aussichtsplattform, die aus den Dünen ragte. Darauf befand sich eine weitere Erhöhung mit einem Fernglaspodest und eine zum Meer gerichtete Holzbank. Darauf saß die kränklich ausgezehrte Erscheinung von Robert Walcher, Robins mit achtundvierzig Jahren an Prostatakrebs verstorbener Vater, der den Kopf in den Nacken geworfen hatte und den über ihm kreischenden Seemöwen zusah. Robert war zu seinen Lebzeiten ein leidenschaftlicher Vogelbeobachter gewesen, und ich glaube aus diesem Grunde ist er geblieben, um es auch weiterhin zu tun.
Schweigend setzte ich mich daneben und tat es ihm nach.
»Du bist lange nicht mehr hier gewesen«, bemerkte Robert irgendwann, ohne den Blick von den kreisenden Vögeln abzuwenden und ich konnte nicht anders und musste ihn ansehen. Die lange Krankheit hatte ihn gezeichnet, seine Wangen waren eingefallen und die Haut schlang sich dermaßen eng um die Knochen, dass er mehr Ähnlichkeit mit dem Schulskelett im Bioraum hatte als mit einem Menschen aus Fleisch und Blut.
»Ich weiß«, sagte ich. »Wir sind über die Sommerferien weggefahren.«
Falls Geister Lügen durchschauen konnten, war er zu höflich, um mich bloßzustellen.
»Wohin?«
»Nach Lettland«, war das Erste, was mir spontan einfiel, hatte ich letztens erst eine beeindruckende Naturdokumentation übers Baltikum gesehen. »Es war wunderschön.«
Robert lächelte gelassen und sah weiter in seinen Himmel hinauf. Vielleicht war das hier sein Paradies und er konnte sich einfach keinen geeigneteren Ort vorstellen, wo er die Ewigkeit verbringen wollte.
»Robert, ich ... Da gibt es eine Sache, über die ich gerne mit dir reden möchte.«
Er antwortete nicht und ich deutete sein Schweigen als Aufforderung weiterzusprechen: »Da gibt es diese neue Erscheinung an meiner Schule, Patrick Endler, falls du dich erinnerst? Er müsste in deinem Jahrgang gewesen sein.«
»Patrick Endler. Eine unscheinbarere Person, nicht wahr? Ich glaube, er war in seiner Jungend schwer in Carmen verliebt, ich erinnere mich daran ihn ein, zweimal vor ihrem Fenster lungernd erwischt zu haben.«
»Jedenfalls ist er anders als du und die anderen. Ich weiß nicht, was ihn in den Selbstmord getrieben hat, aber da ist diese unangenehme Aura, die ihn umgibt, die etwas Bedrohliches ausstrahlt. Ich glaube, er ist sehr wütend und befürchte, dass er diese Wut an jemanden auslassen will; an mir.«
»Wieso sollte er ausgerechnet wütend auf dich sein?«
»Weil ich ihn sehen kann.«
»Ein äußerst trivialer Grund, um jemand anderem wehzutun.«
»Kann er das denn? Mir physischen Schaden zufügen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Robert ein und strich sich über den durch die Chemotherapie verursachten kahlen Schädel. »Ich denke es hängt stark mit dem Grund zusammen, warum jemand geblieben ist.«
Er ist geblieben, um anderen wehzutun, hörte ich Lilos leises Stimmchen in meinen Gedanken echoen.
»Und wenn du dir wünschen würdest meine Hand zu berühren, könntest du es?«
Endlich riss Robert den Blick vom Himmel los, hob seine linke Hand vors Gesicht und betrachtete sie nachdenklich. »Wenn der Wunsch stark genug wäre, vielleicht.«
***
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