3. Der Mann aus dem Keller
Seit dem Nachmittag an dem ich Miki traf, veränderte sich mein Leben grundlegend. In den Sommerferien verbrachten wir fast jede freie Minute zusammen, ich zeigte ihr die Gegend und sie berichtete mir ausführlich von ihrem Leben in der Großstadt. Anfangs fand ich diese schnell aufgebaute Nähe zwischen uns unbehaglich, aber irgendwann legte sich das und ich wurde entspannter. Ich hatte fast vergessen wie es sich anfühlte, einen richtigen Freund zu haben und erst dadurch realisierte ich, wie einsam ich die letzten Jahre gewesen sein muss. Miki redete viel, hatte zuweilen verstörend gute Laune und sang jeden Song der ihr gefiel laut mit, ganz egal, ob wir alleine durchs Vogelschutzgebiet streiften und damit sämtliche Vögel aufscheuchte oder ob sie bei mir mit in der Eisdiele saß und ich gerade Kunden bediente.
An dem Abend bevor das neue Schuljahr anbrach, lud sie mich spontan zum Abendessen zu sich ein und ich bekam sofort kalte Füße. Bestimmt hatte ihre Mutter, Gloria, inzwischen die Gerüchte über mich gehört. Der Verrückte, der behauptet Verstorbene zu sehen, war ein allseits beliebtes Gesprächsthema. Zu allem Überfluss stellte sich auch noch heraus, dass Mikis Mum dieselbe Frau war, die vor einigen Wochen besorgt angenommen hatte, ich wolle mich vorsätzlich ertränken. Aber meine Sorgen stellten sich als absolut unbegründet heraus. Genau wie Miki fand sie das Thema eher faszinierend und bot sogar an, mir nach dem Essen die Tarot-Karten zu legen.
Mikis Zimmer, noch halb mit unausgepackten Kartons zugestellt, erinnerte mich an einen Souvenirshop; es gab Postkarten, Muscheln, Traumfänger, bunte Tücher und jede Menge Reisekataloge, die allesamt mit gelben Post-its übersät waren.
»Warst du da schon überall?«, fragte ich beeindruckt und setzte mich im Schneidersitz aufs Bett.
»Noch nicht«, sagte sie schwermütig und ließ sich rücklings in ihr Kopfkissen sinken. »Aber ich habe es fest vor, gleich nach meinem Abschluss toure ich durch die Welt.«
Sie sah zu mir hinüber. »Was ist mit dir?«
»Mit mir?«
»Du hast doch bestimmt auch irgendwelche Zukunftspläne?«
»Keine konkreten«, gab ich schulterzuckend zu. Bisher war ich so sehr auf meine Erscheinungen fokussiert, dass ich nie ernsthaft über meine Zukunft nachgedacht hatte. »Ich glaube es würde mir guttun, hier mal herauszukommen; vielleicht in eine Großstadt ziehen und ein bisschen meine Anonymität genießen.«
»Ein ziemlich magerer Traum«, bemerkte Miki gewohnt einfühlsam und streckte ihre Beine über meine Schenkel. »Weißt du was? Du begleitest mich einfach so lange auf meinen Reisen, bis du was Besseres gefunden hast.«
»Okay.«
*
Der erste Schultag nach den Sommerferien war in unangenehme Schwüle getränkt. Mein T-Shirt klebte bereits an mir bevor ich überhaupt auf dem Gelände war und der voranschreitende Tag machte es nicht besser. Wie angekündigt, wich Miki mir nicht von der Seite und ließ die komischen Blicke, die unsere Mitstudierenden ihr gelegentlich zuwarfen, gekonnt an sich abprallen. Ich sagte ihr ein paarmal, dass das echt nicht nötig war und es mich keineswegs kränken würde, wenn sie abgesehen von mir noch weitere Sozialkontakte eingehen würde. Aber sie behauptete daraufhin, sie sei schüchtern, woraufhin ich das Thema fallenließ. Selbst nach nur dieser kurzen Zeit bin ich mir sicher, dass absolut niemand Miki vorzuschreiben vermag, wie und mit wem sie ihre Zeit verbrachte, ganz gleichgültig, ob die von ihr Erwählten das jetzt wollten oder nicht.
»Sag mal«, begann Miki in der Mittagspause gedehnt, als wir uns mit Sandwiches bewaffnet in den Schatten eines Laubbaums verkrümelten. »Wie sieht es aus? Gibt es viele Geister auf dieser Schule?«
Mein Appetit erlosch augenblicklich und der Rest meines Bisses schmeckte fad. »Nein«, antwortete ich langsam, »nur einen. Und den auch noch nicht so lange.«
»Wen?«
»Unser ehemaliger Hausmeister Patrick Endler. Er hat sich letztes Frühjahr umgebracht, unten im Heizungskeller. Es dauerte Tage bis man ihn fand und eigentlich auch nur, weil es mehrere Beschwerden vom Schwimmteam über den Gestank gab.«
»So abgefahren«, hauchte Miki und ihre Augen funkelten beinahe manisch. »Was glaubst du, warum er es getan hat?«
»Es gab da dieses Gerücht, na ja, dass er einer Schülerin nachgestellt hat. Keine Ahnung, ob da was dran ist, aber ... «
»Was?«, drängte Miki mich weiterzusprechen.
»Ich hatte nie wirklich Angst vor meinen Erscheinungen. Ja, manche sind mit tiefem Schmerz verbunden, aber keine hat jemals ... bedrohlich auf mich gewirkt. Aber bei Endler ist es anders. Er wirkt so verdammt wütend und ich ... kann manchmal nicht mehr richtig atmen, wenn er in meiner Nähe ist; bekomme Herzrasen und ... werde das Gefühl nicht los, dass er auf irgendetwas wartet.«
»Worauf?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur je länger eine Erscheinung ein fester Bestandteil meines Lebens ist, desto ... klarer wird sie. Irgendwie lebendiger. Meine Schwester zum Beispiel war anfangs nur ein auf dem Wasser treibender Leichnam, aber mit der Zeit kam immer mehr von ihr zurück und jetzt reden wir manchmal sogar miteinander.«
»Warte ... deine kleine Schwester ist gestorben?«
Ich nickte und es schnürte mir die Kehle zu. So offen hatte ich schon ewig nicht mehr über Lilo gesprochen. Nicht mal mit Dr. Larson.
»Ihr Name war Elena, aber wir riefen sie immer nur Lilo. Sie war gerade sechs geworden als es passierte, vor ziemlich genau drei Jahren ist sie mit meiner Mutter zum Strand gefahren und nicht mehr zurückgekommen. Wahrscheinlich hat sich ein Schwimmflügel gelöst und ... « Ich brach ab und senkte den Blick.
»Fuck Keno, das tut mir unendlich leid«, flüsterte Miki zutiefst betroffen und legte tröstend einen Arm um mich.
»Ein Jahr später hat sich meine Mutter dann am Dachboden erhängt, ich kann sie beide sehen, was es für meine lebenden Angehörigen schwer macht mit mir zusammenzuleben. Natürlich behalte ich das immer für mich, aber ich glaube, sie können es mir trotzdem ansehen und ... es macht sie kaputt. Vor allem meinen Vater, er kann kaum noch länger als fünf Minuten mit mir allein sein.«
»Hey«, sie drückte sanft meinen Oberarm. »Keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, aber ich glaube, das Universum hat uns aus einem Grund zusammengebracht. Egal was es ist, wir stehen es gemeinsam durch, okay?«
Mir fehlten die Worte und konnte nur nicken - was hätte ich dafür gegeben, wenn Robin oder Andy nur ähnlich darauf reagiert hätten ... und nicht so wie es getan hatten.
Plötzlich fühlte ich mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Es war okay, selbst wenn ich verrückt war, es war okay.
Bevor der Unterricht weiterging, verschwand ich zum Klo. Ich wollte kurz allein sein und mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Quietschend drehte ich den Hahn auf und ließ das Wasser eine Weile laufen bis es richtig kalt wurde. Erst dann formte ich eine Mulde und tauchte mein Gesicht hinein. Eisige Wasserperlen rannen mir an der Haut hinab und verfingen sich in meinen Wimpern.
»Keno?«
Erschrocken klammerte ich mich am Waschbecken fest und starrte auf die Reflexion im Spiegel. Noch nie hatte ich sie außerhalb offenen Wassers gesehen. Doch da stand sie, mit nur noch einem Schwimmflügel am Arm, triefend und blaugefroren.
»Lilo ... «, sagte ich und drehte mich ganz vorsichtig zu ihr um, als befürchtete ich jede hektische Bewegung könnte sie vertreiben. »Was machst du denn hier?«
»Keno, du darfst nicht hier sein.«
»Ich darf nicht auf dem Klo sein?«, fragte ich die verstorbene Erscheinung meiner kleinen Schwester und mein Mundwinkel zuckte kurz amüsiert. Doch als ihre Miene sich nicht aufhellte, wurde ich wieder ernst: »Wieso denn nicht?«
»Weil ... der böse Mann hier wohnt.«
»Der böse Mann? Wen meinst du damit?«
»Der Mann aus dem Keller«, flüsterte Lilo. »Er ... macht mir Angst.«
»Lilo ... du musst keine Angst haben.« Du bist doch schon tot.
»Er will anderen Menschen wehtun«, fuhr sie fort zu erklären. »Nur deshalb ist er geblieben. Um anderen wehzutun. Und er weiß es, Keno, er weiß, dass du uns sehen kannst, deshalb ...«
»Fuck, was soll der Scheiß denn?!«, fragte eine erzürnte Stimme und Lilo war verschwunden. »Hey du, hey, ich rede mit dir!«
Ich blinzelte und wandte mich der verärgerten Stimme zu. Ein Junge, ich glaube aus Andys Jahrgangsstufe, hatte den Hahn zugedreht und versuchte jetzt mit Papierhandtüchern die Überschwemmung zu beseitigen. »Könntest du mir wenigstens helfen?!«
Wie betäubt schnappte ich mir eine Handvoll Tücher und begann den Boden damit abzutupfen. »Hey, geht's dir gut? Hattest du nen Anfall oder sowas? Soll ich jemanden holen, deine Schwester?«
Ich schüttelte den Kopf und tupfte weiter. Die Tücher waren sofort durchweicht und rissen auseinander - es machte überhaupt keinen Sinn, was ich da tat.
»Okay ... du bist echt creepy und ich hol' jetzt besser deine Schwester.«
Er wollte gerade loslaufen, als die Tür aufschwang und Robin hereinkam, der allerdings irritiert am Türrahmen verharrte. »Da steckst du. Ich soll dich suchen, was machst du denn da?«
»Der Typ hat ne Vollmacke«, behauptete der ältere Junge und wirbelte vielsagend seinen Zeigefinger um die Schläfe. »Hat einfach den Hahn laufenlassen und zugeschaut wie das Wasser überläuft.«
»Gibt Schlimmeres«, fand Robin ziemlich unbeeindruckt und stupste mich auffordernd mit seiner Sneakerspitze an. »Komm jetzt, sonst verpasst du noch den total faszinierten Vortrag über neuronale Informationsverarbeitung.«
»Schön, ich bin raus«, sagte der andere beleidigt und schob sich an Robin vorbei in den Flur. »Andy kann einem echt leidtun.«
Tja, da hatte er wohl nicht unrecht ... Das vorhin noch aufflackernde Wohlbefinden war erloschen und ich fühlte mich wieder elend.
»Mach schon«, drängte Robin weiter und ich warf meine vollgesogene Papierpampe in den Mülleimer und folgte ihm ergeben. Die Flure waren verwaist, da der Unterricht schon wieder lief, zumindest alle bis auf einen.
»Keno?«, fragte Robin, als ich unvermittelt stehenblieb und in einen der leeren Gänge starrte. Nur das er für mich eben nicht leer war. Patrick Endler stand mitten auf dem Flur und erwiderte meinen Blick. Er trug einen blauen Overall mit aufgeritzten Ärmeln und auf seinen nach vorne gerichteten Handflächen klebte schwarzes Blut.
»Keno ... Hey, Keno!«
Das Schlimmste aber waren seine nach Innen gedrehten Augen, man konnte nur noch das Weiße darin erkennen.
Ich hyperventilierte und Robin stellte sich direkt vor mich und packte mich fest an beiden Armen. »Hör mir zu«, sagte mein ehemaliger bester Freund ruhig, »was immer du da gerade zu sehen glaubst, es ist nicht real. Es ist nicht real. Es passiert nur in deinem Kopf. Atme einfach, okay? Konzerntrier dich nur aufs Atmen.«
Es half. Meine Panik ging vorüber und ich konnte wieder klar denken.
»Geht's wieder?«
Ich nickte, musste mich aber kurz rücklings an die Wand lehnen, da meinen zitternden Knien misstraute.
»Okay gut.« Robin ließ mich los und trat zurück, um mir genügend Raum zu geben. Schon als wir klein waren hatte er immer instinktiv gewusst, was er in einer kritischen Situation sagen oder tun musste, um die Sache zu entschärfen. Dieses Gespür hatte uns viel Ärger erspart.
»Was ist passiert?!«
Andy bog in genau jenen Flur ein, der jetzt wieder gespenstisch leer war und fokussierte mich besorgt. »Max meinte, du hättest das Jungenklo geflutet und dich äußerst merkwürdig verhalten.«
»Ja«, gab ich zu. »Es war keine Absicht, hab einfach vergessen den Hahn zuzudrehen. Keine große Sache. Aber weißt du, ich fühl' mich nicht so gut. Vielleicht sollte ich besser ins Krankenzimmer gehen und mich hinlegen.«
»Dann bring' ich dich«, entschied Andy und sagte an Robin gewandt: »Kannst du eurem Lehrer Bescheid geben?«
»Sicher", sagte Robin und fand wieder in seine desinteressierte Coolness zurück. »Soll ich Marlon schöne Grüße ausrichten?«
Andy präsentierte ihm den Mittelfinger, schnappte sich meinen Arm und riss mich mit sich in den Flur zurück, aus dem sie gekommen war. Ich konnte nicht anders und starrte wie hypnotisiert auf die Stelle, wo sich der tote Hausmeister manifestiert hatte. Ich musste nochmal mit Lilo reden, musste verstehen, was genau sie damit gemeint hatte; er ist geblieben, um anderen Menschen wehzutun ...
»Was ist los mit dir?", fragte Andy mich und wurde langsamer.
»Wie gesagt, mir ist schwummrig und ... «
»Ich rede nicht von deinem körperlichen Befinden ... Du hast doch was gesehen oder?«
Sie holte tief Luft und drehte sich um. Wir waren ungefähr gleichgroß, aber mehr Ähnlichkeit besaßen wir auch nicht - sie glich extrem unserer verstorbenen Mutter; dichtes, dunkelbraunes Haar, feine Sommersprossen im Gesicht, dieselben, wachen, flaschengrünen Augen. Dieselben Augen, die auch Lilo besessen hatte. Bei dem Gedanken an meine kleine Schwester drehte sich mir der Magen um.
»Was hast du gesehen? Oder besser gefragt - wen?«
»Niemanden«, log ich wenig überzeugend.
»Keno komm schon ... «
»Niemanden, okay? Schwindel und Abgeschlagenheit sind ganz normale Nebenwirkungen meiner Medikation. Du kannst also aufhören mich zu löchern und zurück in den Unterricht gehen. Die letzten Meter schaff' ich auch allein.«
Mit diesen Worten umrundete ich sie und bog in einen weiteren Korridor ein. An dessen Ende befand sich das Krankenzimmer, aber nach einem prüfenden Schulterblick um sicherzugehen, dass Andy mir nicht folgte, ging ich geradewegs daran vorbei und verließ das Gebäude durch einen seit Jahren nicht mehr alarmgesicherten Notausgang.
***
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