25. Irgendwo dazwischen | Robin/Miki/Keno
Ich hörte es platschen und drehte mich irritiert herum, die Ruderriemen weiterhin fest umklammert.
Obwohl unmöglich länger als eine Sekunde verstrichen sein konnte, brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit um zu realisieren, dass Keno nicht mehr hinter mir im Boot saß.
Was...?
„Keno!", schrie Miki panisch und auf dem Boot brach heilloses Durcheinander aus.
„Ist er etwa gerade ins Wasser gefallen?!"
„Wo ist er?! Warum taucht er nicht wieder auf?!"
Ins Wasser.
Mein Körper reagierte, lange bevor mein Verstand fassen konnte, was ich da gerade tat.
„Robin – nicht!", hörte ich Marnie noch verzweifelt schreien, da war ich schon kopfüber hineingesprungen.
Die Kälte war ein Schock.
Ich tauchte so tief ich konnte und blinzelte panisch im Wasser umher. Auch wenn ich ein guter Schwimmer war, ich konnte nicht ewig die Luft anhalten und die Meeresströmungen hier draußen waren tückisch.
Ich hatte nur diese einzige Chance ihn zu retten und musste sie unbedingt nutzen.
Doch um mich herum sah ich nur undurchdringbare Finsternis. Das darf doch nicht sein... bitte. Onkel Naz, sag mir, was ich tun soll, um ihn zu finden... Bitte... ich brauche einen Hinweis... Irgendwas...
Und dann sah ich ein Leuchten. Eine menschliche Aura.
Keno!
So schnell ich konnte, schwamm ich darauf zu und versuchte ihn zu fassen. Meine Lunge war kurz davor zu kapitulieren.
Komm schon... bitte.
Endlich schaffte ich es und schlang einen Arm um seine Taille. Er hatte offensichtlich das Bewusstsein verloren und seine Gliedmaßen trieben schlaff im Wasser, wie bei einer Marionette, dessen Fäden durchtrennt wurden.
Wie waren ziemlich tief abgesunken und der Licht an der Oberfläche schien unendlich fern.
Ob wir das überhaupt schafften?
In diesem Augenblick veränderte sich die Wasserströmung. Überrascht stellte ich fest, dass ich nicht mehr gegen den Sog ankämpfen musste, im Gegenteil, er schien uns regelrecht aufwärts zu ziehen.
Wie ist das möglich?
Ist das... Magie?
Was immer es war, es rettete uns das Leben. Sekunden später durchbrachen wir die Oberfläche und ich jagte wunderbaren Sauerstoff meine ausgehungerte Lunge hinab.
Aus den Augenwinkeln sah ich wie Marlon nun ebenfalls ins Wasser sprang, um mir Kenos schlaffen Körper abzunehmen. Kaja lehnte weit über dem Boot und hatte beide Arme Ellbogentief ins Wasser getaucht. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und ihr Atem ging stark beschleunigt.
Hatte sie etwa die Meeresströmungen beeinflusst, um uns zu retten?
Marnie und Miki halfen, Keno zurück ins Boot zu hieven und auch ich klammerte mich erleichtert am Holz fest.
„Er atmet nicht mehr, oder?", hörte ich Miki kreischen. „Wir müssen ihm das Wasser aus der Lunge holen", meinte Marnie völlig aufgelöst.
„Weg da", befahl Kaja fordernd und begann geschickt mit der Herzdruckmassage.
Ich zitterte am ganzen Leib und sackte völlig fertig im Bauch des Bootes zusammen.
„Robin!"
Marlon packte mich besorgt an beiden Schultern. „Was ist mit dir? Hast du viel Meerwasser geschluckt?"
„Nein, mir geht es gut", behauptete ich, auch wenn nichts ferner von der Wahrheit lag. „Paddel verdammt! Wir müssen Keno ins Krankenhaus schaffen!"
Mein bester Freund gehorchte sofort und manövrierte uns verbissen ans Ufer. Meine Sicht verschwamm immer wieder, doch ich erkannte Kenos aschfahles Gesicht, dessen Kopf auf Mikis Schoß platziert war und Kaja, die ihm alle paar Sekunden Sauerstoff in den Mund pustete. Doch egal wie sehr sie es versuchte, seine Augen blieben geschlossen.
*
Pure Panik beherrschte mein Denken.
Wie konnte das passieren? Warum hatte er das getan? Hatte Kurt Endler irgendwie herausgefunden, dass wir das Rätsel um Patrick Endlers angeblichen Suizid geknackt hatten und Keno aus Rache verflucht?
So schnell?!
„Miki!"
Kajas strenge Stimme, katapultierte mich schonungslos zurück ins Hier und Jetzt. Ich blinzelte und sah ihr tief in die schokobraunen Augen.
„Du musst dich jetzt zusammenreißen, verstanden? Für Keno!"
„Klar", erwiderte ich zittrig und versuchte fokussiert zu bleiben. Noch mehr als für ihre Segen und Flüche war ich im Moment für Kajas medizinische Kenntnisse dankbar. Da sie Teilzeit im Pflegeheim arbeitete, hatte sie sicherlich einige Erste-Hilfe-Kurse besucht.
Sie wusste, was sie tat und würde Keno niemals sterben lassen. Ja, so musste es sein. Alles andere wäre undenkbar.
Bleib konzentriert, Miki, ermahnte ich mich selbst. Und denk auf keinen Fall an diesen Februartag zurück. Der Tag, an dem Lily beinahe gesprungen wäre. Meinetwegen. Weil ich unbedingt dieses dämliche Hexenbrett vom Dachboden ihrer Großmutter hatte ausprobieren wollen.
Ich schloss die Augen und hatte sofort wieder die Bilder im Kopf. Wie Lily übers Geländer geklettert war und ich noch gelacht hatte, weil ich anfangs überzeugt war, es handelte sich nur wieder um einen ihrer makaberen Scherze. Bis ich realisiert hatte, dass dem nicht so war und ich sie unter Tränen angefleht hatte, zurückzukommen. Ich sah die Schneeflocken, die sich in ihrem blonden Haar verfingen hatten. Wie ich verzweifelt meine Hand nach ihr ausstreckte, um sie in letzter Sekunde noch am Mantel zu erwischen und festzuhalten.
Ich hörte die Schreie meiner Mitschülerinnen und die blinkenden Polizeisirenen in meinen Gehörgängen echoen.
Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugedrückt, aber ich musste weiter Kenos Kopf ruhig halten. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen.
Endlich, nach einer Ewigkeit erreichten wir das Ufer und Marnie sprang sofort aus dem Boot und schrie lauthals um Hilfe.
Schaulustige kamen angelaufen, darunter auch eine Frau mit dunklem Dutt, die sich als Ärztin auswies. „Was ist passiert?!"
„Er ist aus dem Boot gefallen und hat eine Menge Wasser geschluckt", erklärte Kaja und trat zurück, damit die Medizinerin übernehmen konnte.
„Wie heißt er?!"
„Keno. Konrad Finke."
„Verständigt bitte sofort seine Angehörigen. Der Notarzt ist unterwegs! Keno? Hallo? Kannst du mich hören?"
Ich blieb wie eine unbeteiligte Außenstehende am Rand stehen und versuchte mit der Situation klarzukommen. Was mich absolut überforderte.
Ich hyperventilierte und sank in die Hocke, da meine Beine nicht mehr länger bereit waren mich zu tragen.
„Hey, alles gut", flüsterte Kaja dicht an mein Ohr und zog mich in eine tröstende Umarmung. Es tat so gut, menschliche Nähe zu spüren, aber ich konnte es ihr nicht sagen, da ich einfach nur hemmungslos losschluchzte. Das war alles so schrecklich. Warum passierte das?
„Hallo? Andy? Hier ist Marlon. Nein, bitte leg nicht sofort auf. Es geht um Keno. Er... Es gab einen Unfall und er ist auf den Weg ins Krankenhaus. Ich weiß es nicht, er ist im Moment noch bewusstlos, aber sicher geht es ihm bald wieder gut. Andy?"
Scheinbar hatte Kenos Schwester bereits wieder aufgelegt, denn der Rotblonde ließ ohne ein Wort des Abschieds sein Handy sinken und blickte ratlos in die Runde.
„Na gut. Ihr bleibt hier bei Keno. Ich muss mit Kurt reden", sagte Kaja bestimmt und ließ mich los.
„Was? Allein? Das ist zu gefährlich!"
„Er ist ein pflegebedürftiger alter Mann im Rollstuhl. Ich komme schon klar", behauptete die Blondine zutiefst überzeugt, doch dann zögerte sie doch noch einmal und ihr unsicherer Blick verweilte auf Robin. „Kommst du mit?"
„Wieso sollte ich?", fragte Angesprochener stirnrunzelnd.
„Weil du Robin Sienna bist – und dieser Name in unsrer Gemeinschaft etwas bedeutet. Auch wenn du nicht dein Onkel bist."
„Mein Nachname ist Walcher. Aber... ich schätze für Keno kann ich aktuell nichts weiter tun."
Während er das sagte, fummelte er einen massiven Siegelring aus der Fronttasche seines Rucksacks und betrachtete diesen einen nachdenklichen Moment.
„Nazarios Siegelring", flüsterte Kaja, richtig ehrfürchtig.
Ich verstand gar nichts. Hatte dieser übertrieben massige Ring irgendeine besondere Bedeutung?
Bevor ich deshalb nachfragen konnte, schob Robin ihn sich über den linken Mittelfinger und blickte missmutig zu Kaja. „Na schön, ich begleite dich. Aber auf den Weg dorthin, beantwortest du mir gefälligst ein paar Fragen."
„Einverstanden. Auch wenn meine Antworten dir wahrscheinlich nicht sehr gefallen werden.
*
Möwen kreischten am Himmel.
Ich saß verwaist an einem Standabschnitt und blickte versunken aufs Wasser hinaus. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich mich nicht mehr so glücklich gefühlt; alles war friedlich und im Einklang miteinander.
Alles war gut.
Plötzlich drang glückliches Kinderlachen an mein Ohr und ich riss lächelnd den Kopf herum.
Lilo stand vor mir und grinste breit, wobei mir die neusten Verluste ihrer Milchzähne präsent ins Auge stachen. In ihren Händen hielt sie Eimer und Schaufel.
„Wollen wir zusammen eine Sandburg bauen?", fragte sie dermaßen begeistert, dass ihre unbändige Freude wie eine Infektion auf mich übersprang.
„Klar", willigte ich deshalb ein und sie lief sofort zum Wasser hin, um den Eimer mit Meerwasser zu füllen.
Ich strich derweil sorgsam den feinen Sand glatt, um eine brauchbare Basis zu kreieren.
Ohne viel zu reden, arbeiteten wir an dem Grundgerüst unserer Burg. Ich modellierte mit den Händen und Lilo bereitete mir den Bausand vor, indem sie den Sand mit Wasser mischte. Wir waren ein gutes Team und kamen schnell voran.
Ich war völlig vertieft in meiner Arbeit, weshalb ich Lilos Flüstern zunächst völlig überhörte. „Hm? Was hast du gerade gesagt?"
„Glaubst du... Mami vermisst mich?"
Meine Hände erstarrten und der Turm, den ich gerade detailliert errichtet hatte, zerbröckelte unter meinen Fingern. Ich öffnete überrascht den Mund, bekam aber keinen vernünftigen Ton zustande.
„Denn ich vermisse Mami ganz schrecklich! Aber ich trau' mich nicht nach Hause zu gehen. Weil ich so große Angst habe."
„Angst wovor?", hauchte ich ungläubig.
„Das Mami mich nicht sehen will, weil ich der Grund dafür war, warum sie so traurig wurde. Ich... habe euch alle traurig gemacht. Es tut mir leid, es war keine Absicht!", schluchzte Lilo herzzerreißend und ich zog meine kleine Schwester in eine tröstende Umarmung, wodurch auch die restliche Sandburg einstürzte.
„Lilo, niemand ist sauer auf dich. Der Grund warum Mama so schrecklich traurig wurde, ist, weil sie dich vermisst hat. Sie wollte einfach nicht ohne dich sein. Deshalb hat sie es getan. Um bei dir zu sein. Ich bin mir sicher, dass sie zu Hause auf dich wartet und gar nicht erwarten kann, dich endlich wieder in die Arme zu schließen."
„W-W-Wirklich?", stotterte Lilo, das Gesicht fest an mein Schlüsselbein gepresst.
„Ja, wirklich", versicherte ich ihr überzeugt und mein Herz schlug laut in meiner Brust. „Wollen wir vielleicht zusammen zu ihr gehen?"
„O-Okay."
Mit einem beruhigenden Lächeln erhob ich mich und griff nach ihrer kleinen Hand. „Die Frage ist nur... wie wir da hinkommen..."
„Das ist einfach", behauptete Lilo, die sich gerade mit dem Handrücken ihrer anderen Hand den laufenden Rotz unter der Nase fortwischte und sogar wieder ein bisschen schmunzelte. „Ich zeig's dir! Mach die Augen zu."
Ich gehorchte und schloss die Lider; Dunkelheit umhüllte mich.
„Jetzt musst du ganz fest an etwas denken, was du mit zu Hause verbindest. Es muss ein richtig starker Gedanke sein, sonst funktioniert es nicht!"
„Woran denkst du?"
„An das Weihnachtsfest als ich das blaue Fahrrad gekriegt habe und Papa mir erlaubt hat, ausnahmsweise damit im Haus herumzufahren."
„Ich erinnere mich; an diesem Abend hast du den Weihnachtbaum umgefahren. Mama war total sauer, weil du zwei ihrer Lieblingskugeln bei der Aktion zerdeppert hast."
„Stimmt. Aber später am Abend haben wir noch alle zusammen heiße Schokolade getrunken und Brettspiele gespielt. Das... fehlt mir sehr."
„Heiße Schokolade?", witzelte ich, im verzweifelten Versuch sie ein wenig aufzumuntern.
„Mit euch allen zusammen zu sein."
Das Herz wurde mir bei diesen Worten unsagbar schwer. Denn ja... ich vermisste es auch.
„Denkst du ganz fest daran?"
Ich konzentrierte mich angestrengt und versuchte die vergangene Erinnerung zurück an die Oberfläche zu holen. Das Bild einer noch intakten Familie tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ich sah mich selbst, meine Eltern und Schwestern am Küchentisch sitzen und Monopoly spielen.
Es wirkte so idyllisch, wie aus einem längst vergangenen Leben. Beinahe surreal, wie in einem Traum.
Als ich die Augen wieder öffnete, waren wir zu Hause. Ich blickte zum Esstisch und den leeren Stühlen drum herum.
„Ist niemand daheim?", fragte Lilo zögernd und blickte fragend zu mir hoch.
„Doch", erwiderte ich überzeugt und drückte leicht ihre Hand in der meinen. „Sie ist sicher oben."
Einen Moment brauchte ich, um mich zu sammeln und den Mut zu finden, die Stufen emporzusteigen.
Ich hatte den Dachboden nicht mehr betreten, seit... dem Vorfall.
Der Schlüssel steckte wie immer und ich streckte die Hand aus, um ihn im Schloss zu wenden, doch ich konnte ihn nicht fassen, meine Finger glitten einfach hindurch, als besäße ich keine feste Form.
Komisch. Das war irgendwie anderes als in meinen bisherigen Visionen. Warum war es diesmal so anders?
„Lass mich mal", verlangte Lilo und schaffte, was mir misslungen war – den Schlüssel herumzudrehen und die Tür aufzustoßen.
Dank der nun geöffneten Tür hatten wir einen guten Blick ins Innere des Dachbodens. In Rente geschickte Kindermöbel und anderes Gerümpel prägten dort die Bodenlandschaft. Lilos altes Kinderbett, darin sitzend mein zerfledderter Stoffhase und Andys verstaubtes Puppenhaus sprangen mir ins Auge. Über allem tanzte der Staub und eine melodramatische Stimmung schwängerte die Luft.
Vorsichtig suchte ich mir einen Pfad durchs Möbellabyrinth, bis ich an die Stelle gelangte, wo ich sie vor vierzehn Monaten gefunden hatte. Leblos.
Sowie jetzt.
Leise und behutsam näherte ich mich und sank vor ihr in die Hocke.
„Mum?"
Die Erscheinung reagierte nicht auf meine Stimme, ihr flaschengrüner Blick wirkte entrückt.
„Mum", wiederholte ich diesmal lauter und nachdrücklicher. „Lilo ist hier."
Wieder keinerlei Resonanz.
Am liebsten würde ich sie an den Armen packen und durchschütteln.
„Mum, bitte. Sieh mich an. „Ich bin es, Keno."
Nichts. Ihr Blick ging weiterhin ins Leere, als könnte sie meine Anwesenheit nicht wahrnehmen. Als wäre ich ein Geist.
„Mami?"
Der Klang von Lilos Stimme schien etwas auszulösen. Denn plötzlich blinzelte sie. Ganz langsam drehte sie den Kopf und sah zu ihrer kleinen Tochter, die nervös von einem Fuß auf den anderen tapste.
„Elena?"
„Ja, Mami", bestätigte diese und nickte heftig. „Ich bin genau hier!"
Und zum ersten Mal, nach über einem Jahr, trat wieder so etwas wie Leben in die Augen meiner Mutter.
Zittrig streckte sie die Arme nach ihrer Tochter aus und Lilo rannte ihr mit einem erleichterten Schluchzen entgegen.
Endlich waren Mutter und Tochter wieder vereint.
***
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