24. Zusammen | Keno
Ruckartig schreckte ich auf und bereute es sogleich; die Welt schwankte bedenklich.
Mehrere Stimmen redeten gleichzeitig auf mich ein, was mich verwirrte. Mein Kopf schmerzte und verwehrte mir jeden vernünftigen Gedanken. Wo bin ich? Was ist passiert?
Aus all dem Chaos hörte ich vor allem Robins Stimme deutlich heraus. „Er ist apathisch. Wir müssen ihn sofort zu einem Arzt bringen!"
Robins Stimme? ... War ich etwa immer noch in einer Traumwelt gefangen?
„Ich bin nicht apathisch", widersprach ich bockig und blinzelte mehrmals, um den Blick fokussiert zu bekommen. Wir waren immer noch im Wald, auf der Insel.
Die Sonne war bereits aufgegangen. Was...?
„Wie lange war ich denn bewusstlos?", erkundigte ich mich heiser, da mir langsam gewahr wurde, dass ich wohl nicht mehr träumte. Neben Robin waren auch Marlon und Marnie plötzlich anwesend.
„Knapp zwanzig Minuten", schätzte Kaja, während Miki mir überraschend um den Hals fiel und wisperte: „Ich bin so froh, dass es dir gut geht! Ich dachte schon..."
„Du dachtest schon was?", erklang es ausgesprochen eisig neben uns. „Das wieder einmal ein Dämon von einem deiner Freunde Besitz ergriffen hat?"
Miki ließ so schnell von mir ab, als hätte sie sich eben heftig an mir verbrannt. Ihr Gesicht war absolut blutleer und ihre Unterlippe zitterte heftig.
„Eigentlich schade. Jetzt kannst du gar keinen Exorzismus mehr durchführen. Wolltet ihr etwa das hier draußen veranstalten?"
Ich kapierte gar nichts mehr und konnte der Dunkelhaarigen, der neben mir kniete, nur perplex anstarren. Exorzismus?
„Robin, wovon redest du da eigentlich?", fragte Kaja ihn stirnrunzelnd, doch Angesprochener ignorierte sie. „Es reicht dir wohl nicht, nur eine Freundin geradewegs in die Psychiatrie zu befördern. Also ist nach Lily jetzt Keno dran?"
Lily? Wer ist Lily?
„Woher weißt du von... warte... hast du etwa mein Foto geklaut?!"
„Du meinst dieses Foto?" Robin zog eine Fotografie hervor, auf dem Miki und noch ein weiteres Mädchen abgebildet waren.
„Woher hast du das?!", schrie Miki und entriss es ihm hektisch.
„Was spielt das für eine Rolle? Wichtig ist, dass deine ehemalige Freundin seit fast einem Jahr in der Geschlossen versauert, weil du ihr eingeredet hast, von Dämonen besessen zu sein!"
„So war das überhaupt nicht! Wer hat dir das erzählt?! Meine ehemaligen Klassenkameradinnen, die mich über Jahre hinweg gemobbt haben? Tja, Überraschung! Die haben dir natürlich nur ihre Seite der Geschichte dargelegt!"
Miki war richtig aufgelöst und Zornestränen schimmerten in ihrem Blick. „Du hast keine Ahnung, was im letzten Jahr alles passiert ist, also behalte deine Anschuldigungen gefälligst für dich!"
„Leute", mischte Marnie sich ungeduldig ein. „Könnt ihr das später ausdiskutieren? Wenn Keno wirklich so lange ohnmächtig war, sollte er besser bald zu einem Arzt."
„Mir geht's gut", betonte ich, ohne irgendwen anzusehen. Mir fiel es weiterhin schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Worte der anderen berieselten mich nur, ohne, dass ich sie richtig fassen konnte. Fühlte sich ein bisschen so an, als hätte sich mein Gehirn in ein Nudelsieb verwandelt, durch das nun jeder von mir gedachte Gedanke einfach durchträufelte...
„Und wie?", hakte Kaja skeptisch nach. „Die erste Fähre kommt erst gegen elf."
„Wir sind mit einem Ruderboot gekommen", antwortete Marnie. „Wenn wir etwas zusammenrücken, passen wir da schon alle rein."
Eine unangenehme Stille entstand, dessen Ursprung eindeutig von Robin und Miki ausging.
„Meinetwegen", willigte Robin zähneknirschend ein. „Lasst uns erstmal zusammen von dieser Insel verschwinden."
*
Unbehaglich streiften wir den Pfad entlang durch den Wald. Langsam funktionierten meine Gedanken wieder besser und der Nebel in meinem Kopf lichtete sich.
„Es ist Kurt Endler", ließ ich die Bombe platzen, ohne auf die Anwesenheit von Robin, Marnie und Marlon Rücksicht zu nehmen. Wieso auch? Sie dachten ohnehin schon längst, ich sei psychisch instabil. Sollten sie ruhig denken, was sie wollten.
„Kurt Endler hat seinem Sohn das angetan, zumindest laut Alicia."
Bei diesem Gedanken erschauderte ich immer noch. Mein Verhältnis zu meinem Vater war zwar auch nicht gerade rosig, aber das... tat man doch nicht seinem eigenen Kind an.
Die anderen blieben wie angewurzelt stehen, während ich unbeeindruckt weiterging.
„Bist du sicher?", murmelte Kaja und ihre Pupillen weiteten sich entsetzt. „Kurt? Er war immer sehr streng zu Patrick, aber..."
„Du bist das Kind des Teufels. Ich wusste es an dem Tag als ich dich zum ersten Mal im Arm hielt, du bist verkommen", rezitierte ich Endler Seniors Worte von damals nochmals, als wir ihn zu interviewen beabsichtigten. „Jetzt beginnt es endlich Sinn zu machen. Er hat herausgefunden, was Alicia war und sie verraten. Deshalb musste sie sterben. Er wollte Patrick davon überzeugen, mir dasselbe anzutun, um das ach so heilige Gleichgewicht zu bewahren. Aber er hat sich geweigert, weshalb Kurt Endler zu anderen Methoden gegriffen hat. Erst hat er seinen Sohn in den Selbstmord gezwungen, um dann Kontrolle über seinen Geist zu erlangen."
„Das sind ziemlich krasse Anschuldigungen, Keno. Der Zirkel wird nicht einfach..."
„Mir herzlich egal, was dein Zirkel davon hält", schleuderte ich Kaja kalt entgegen. „Ich weiß, was ich gesehen habe."
„Und was genau hast du gesehen, während du ohnmächtig warst?", fragte Robin beunruhigt. „Meine Tante Alicia?"
„Was interessiert's dich? Du glaubst doch ohnehin nicht an Übernatürliches."
„Ich will es wissen, um zu verstehen, was hier eigentlich gerade abgeht!", erwiderte er deutlich angepisst. „Keno, verdammt, ich weiß, wir hatten in den letzten Jahren unsere Schwierigkeiten, aber das bedeutet doch nicht, dass mir egal ist, was mit dir passiert."
„Witzig. Denn ehrlich gesagt hast du mir diesen Eindruck sogar ziemlich deutlich vermittelt; dass ich dir inzwischen absolut egal bin. Aber schön, dass du deine Meinung darüber jetzt geändert hast, kommt nur leider ein paar Jährchen zu spät!"
Ich konnte fühlen wie mir die Hitze meiner Wut durch die Adern rauschte und ballte die Hände.
„Jungs!", ging Marnie abermals dazwischen. „Kommt schon, uns gegenseitig anzufahren bringt uns nicht weiter. Wir müssen jetzt zusammenhalten, zumindest bis wir von dieser Insel runter sind. Okay? Wir sitzen gleich alle in einem Boot und das nicht nur im übertragenen Sinn. Also bitte, benehmt euch nicht weiter wie bockige Kleinkinder."
Meine Wut war noch nicht abgeklungen, aber Marnie hatte irgendwo recht. Wir mussten vorübergehend miteinander klarkommen.
Also gingen wir weiter.
„Ihr habt meine vorherige Frage gar nicht beantwortet", sagte Kaja irgendwann an Robin gewandt. „Warum seid ihr hier?"
„Ich habe nur etwas aus dem Haus meines Onkels geholt", antwortete dieser vage, was mich aufhorchen ließ. Also etwas, was Onkel Naz gehört hatte?
„Aber warum jetzt? Mitten in der Nacht?"
Robin zuckte mit den Schultern. „Ist das wichtig?"
„Ja", betonte Kaja. „Denn manche Flüche lassen sich nur zu bestimmten Zeiten brechen. Also was hast du geholt?"
„Ich denke nicht, dass dich das etwas angeht", meinte Robin abweisend. „Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Onkel."
„Dein Onkel war nicht irgendwer. Und wenn er dir etwas vermacht hat, womit du nicht umgehen kannst, geht mich das sehr wohl etwas an."
„Das sehe ich anders. Was ich mit dem Erbe meines Onkels mache, ist allein meine Angelegenheit."
„Nicht, wenn..."
„Verdammt, es ist doch nur ein dämliches Laptop", schnaubte Marlon gelangweilt, der offensichtlich keine Lust mehr hatte, dem Wortgefecht der beiden weiterzuzuhören. „Und nicht einmal ein besonders wertvoller."
Doch Kaja schien das anders zu sehen; mit leicht geöffneten Mund, starrte sie Robin an als wäre dieser ein Alien aus einer fernen Galaxie.
„Du... hast wirklich Nazario Siennas Blackbox gefunden?", keuchte sie regelrecht schockiert. „Der Zirkel sucht seit vielen Jahren danach! Wie hast du ihn gefunden?!"
„Warte... diese Blackboxen sind Laptops?", entschlüpfte es mir ungläubig und Kaja nickte und erklärte präziser: „Nicht immer. Früher waren es Bücher, aber in Büchern ist es auffälliger, wenn diese selbstständig Texte schreiben, deshalb sind wir vor einiger Zeit auf Laptops umgestiegen. Ist risikoarmer. Es gibt aber auch noch ältere Zirkelmitglieder, die lieber Bücher benutzen."
„Wovon redet ihr da bloß? Was sollen diese Blackboxen sein?", fragte Robin irritiert.
„Eine Art Sicherheitskopie. Aber ich kann dir das vor außenstehenden nicht im Detail erklären. Es ist ohnehin schon zu viel durchgesickert", seufzte Kaja und ihr Blick streifte die Zwillinge.
„Nenn es wie du willst, er gehörte meinem Onkel und er wollte, dass ich ihn bekomme. Auf keinen Fall werde ich ihn dir oder sonst wem überlassen. Warum sollte ich?"
„Weil er ein wichtiges Beweisstück sein könnte. Vielleicht kriegen wir durch ihn raus, was mit Nazario passiert ist."
„Was mit ihm passiert ist? Er ist in den Tropen an einer Infektion gestorben."
„Robin, da du in der Lage warst Nazario Siennas Blackbox aufzuspüren, weißt du, wie unwahrscheinlich diese Wahrheit ist. Niemand weiß, was mit deinem Onkel passiert ist. Nicht einmal seine Schwester Carmen. Aber es gibt Gerüchte. Grauenvolle Geflüsterfeuer."
„Okaaay", unterbrach Marlon Kaja langgezogen. „Keinen Schimmer, was ihr hier für nen merkwürdigen Trip schiebt, aber langsam hört es auf lustig zu sein."
„Ich mache keine Witze", knurrte Kaja. „Die Lage ist sehr ernst. Bitte übergib mir den Laptop."
„Ganz sicher nicht", entgegnete Robin gänzlich unbeeindruckt und ging weiter.
„Dann lässt du mir leider keine andere Wahl", murmelte Kaja und hob die linke Hand, ihre Fingerspitzen vibrierten und ich machte einen unruhigen Schritt auf sie zu. Was hatte sie vor? Wollte sie Robin etwa verfluchen?
Ja gut, ich war sauer, aber tatenlos danebenzustehen, wie sie ihn verletzte, würde ich sicher nicht.
„Was zum...?" Kaja starrte auf ihren Handrücken, während Robin und die Zwillinge ihr einen Blick zuwarfen als wäre sie völlig geistesgestört. Einen Blick, den ich nur allzu gut kannte, da ich ihn selbst oft genug abbekommen hatte.
„Warum funktioniert es nicht?"
„Warum funktioniert was nicht?", betonte Robin fragend. „Was genau wolltest du denn tun?"
„Das wird mir jetzt wirklich zu blöd", mischte Marnie sich ungeduldig ein und packte Robin am Ärmel seines Hoodies. „Gehen wir einfach zum Strand, okay?"
In Robins Augen glühte weiterhin ein rebellisches Funkeln, doch er ließ sich von seiner Freundin fortziehen.
Auf Abstand achtend folgten wir ihnen und ich beugte mich fragend zu Kaja hinüber und murmelte ein unsicheres: „Was ist los mit dir?"
„Keine Ahnung. Vermutlich trägt er einen sehr starken Schutztalisman bei sich, der meine Fähigkeiten blockiert."
„Aber Robin weiß nichts von alldem."
„Da wäre ich mir inzwischen nicht mehr so sicher", widersprach Kaja und strich sich eine verirrte Strähne zurück hinters Ohr. „Warum sonst hätte er mitten in der Nacht Nazarios Blackbox geholt? Außerdem kann er den Talisman auch bei sich haben und nichts von seiner Wirkung wissen. Vielleicht hat seine Mutter es ihm zum Schutz untergejubelt."
Das machte natürlich Sinn, aber... wusste Robin wirklich Bescheid? Vielleicht irrte Gesche sich ja und er spielte nur den Unwissenden... oder er hatte es selbst herausgefunden.
„Endlich", japste Marlon erleichtert als sie die letzten Bäume hinter sich ließen und den Strandabschnitt erreichten.
Das Meer funkelte friedlich in der Morgensonne.
Das Boot stellte sich als halbverrottete Nussschale heraus, welches wie ein gestrandeter Wal im feuchten Sand lag.
Gemeinsam schoben wir es zurück ins Meer und hüpften nacheinander hinein, erst die Mädchen und danach Robin, Marlon und zum Schluss ich selbst.
Robin übernahm dann die erste Paddelschicht und ich blickte mit einem flauen Gefühl im Magen zurück auf die Insel, die sich allmählich zu entfernen begann.
Wir mussten Patrick Endlers Geist vom Einfluss seines hasserfüllten Vaters befreien, so viel war klargeworden. Fragte sich nur... wie? Wir konnten ja schlecht in die nächste Polizeistation marschieren und ihn anklagen.
Niemand würde uns glauben.
In diesem Moment sah ich ihn plötzlich, knapp unterhalb der Wasseroberfläche schimmern. Lilos orangefarbenen Schwimmflügel.
Ich beugte mich aus dem Boot und versuchte noch mehr zu erkennen. Dann, ohne erkennbaren Grund, erfüllte mich auf einmal eine abnormale Kälte und als ich hinab auf meine Hände blickte, sah ich, wie sich dort auf der Haut meiner Fingerkuppen kleine Eiskristalle bildeten. Passiert das wirklich oder verliere ich gerade endgültig den Verstand?
Verzweifelt versuchte ich mich zusammenzureißen und den Blick zu fokussieren.
Dort unten ist es passiert, wurde mir schlagartig bewusst. Irgendwo dort unten ist sie ertrunken. Allein.
Lilos kleiner Körper manifestierte sich unter der Wasseroberfläche, doch diesmal lächelte sie nicht. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen und ihre Handflächen panisch gegen das Wasser gedrückt, beinahe als wäre sie hinter Spiegelglas gefangen.
Ihre Lippen bewegten sich hastig, doch ich konnte nicht verstehen, was sie versuchte mir zu sagen.
Schiere Panik überwältigte mich als ich zusehen musste, wie meine kleine Schwester erneut zu ertrinken schien, während ich einfach nur tatenlos zusah. Schon wieder.
Nein. Diesmal nicht.
Ohne jedes Zögern sprang ich ins Wasser.
*
Sobald mein Körper mit dem eisigen Wasser der Nordsee in Berührung kam, standen meine Gedanken still. Es war als hätte jemand einen geheimen Schalter umgelegt, der Raum und Zeit ausschaltete.
Doch ich konnte immer noch die Kälte fühlen, die qualvoll schmerzte, was ich jedoch völlig ausblendete und blindlings tiefer schwamm. Lilo... sie musste irgendwo ganz in der Nähe sein. Nur wo?
Die Abwesenheit von Sauerstoff machte sich zunehmend in meinen Lungenflügeln bemerkbar.
Wo ist sie?!
Meine Körper rebellierte und ertaubte, beginnend an den Fingerspitzen, wo sich immer noch Eis befand. Aber wenigstens wurde dadurch die stechende Kälte erträglicher. Luftblasen stiegen vor mir im Wasser auf.
Was...?
Irgendwas stimmte nicht. Die Welt stand Kopf und ich sah über mir Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche glitzern.
Und dann war Lilo auf einmal ganz nah und streckte vorsichtig ihre winzige Hand nach mir aus.
Ich lächelte sie beruhigend an und hielt sie fest. Und so sanken wir in die Tiefe, gemeinsam.
***
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