19. Er | Keno
Nachdem Miki ihre wirre Geschichte beendet hatte, wurde es still.
Ich wusste auch ehrlich nicht, was ich dazu sagen sollte... das war... viel. Man hörte nur das Rauschen des Meeres und die Schreie der Seevögel über uns.
„Nur um das richtig zu verstehen", brach ich schließlich das Schweigen. „Du denkst also, dass Patrick Endler gar keinen Suizid begangen hat... sondern... was? Verflucht wurde?"
„Es besteht zumindest die Möglichkeit", erwiderte Miki ungewohnt diplomatisch und ich hob staunend die Braue.
„Ganz schön krasser Sinneswechsel. Vor ein paar Tagen warst du noch felsenfest davon überzeugt, dass er Alicia umgebracht hat."
„Da wusste ich aber auch noch nichts von Flüchen und Segen und deren Anwender", meinte sie kleinlaut. „Ich weiß, dass das alles schwer zu glauben ist... aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Mehrmals sogar."
„Das heißt gar nichts. Wenn ich eins während meiner Therapie gelernt habe, dann, dass man den eigenen Augen nicht immer trauen kann."
„Aber du kannst mir trauen, oder?", fragte sie beinah schüchtern und suchte meinen Blick.
Konnte ich das?
Bevor ich darauf antworten konnte, hörten wir ein Geräusch. Das Rattern von Rädern auf modrigem Holz.
Kaja stoppte neben dem Haus und betrachtete es eine Weile nachdenklich, als hätte sie uns nicht einmal bemerkt. Dann rutschte sie vom Sattel und ließ ihr Fahrrad achtlos in den Sand fallen.
„Ich vermute, Miki hat dich inzwischen aufgeklärt?", fragte sie ruhig, ohne den Blick vom niedergebrannten Haus abzuwenden.
„Könnte man so sagen", antwortete ich und fühlte einen dicken Kloß im Hals. „Du hältst dich also wirklich für eine Hexe?"
„Hexenblut", korrigierte sie ungerührt. „Lasst uns keine wertvolle Zeit mehr verschwenden und mit Patrick reden."
„Was erhoffst du dir denn davon?", fragte ich sie völlig entsetzt. „Er hat versucht Marlon und Miki zu strangulieren!"
„Weil er mir sagen muss, wo seine Blackbox ist", erklärte Kaja missmutig und verschränkte anschließend die Arme vor der Brust. „Hilfst du mir jetzt mit ihm zu reden oder nicht?"
Mit vor Verblüffung halbgeöffneten Mund starrte ich sie einfach nur an. Sie glaubte wirklich daran... Miki hatte sich das nicht nur eingebildet.
„Na schön", gab ich schließlich nach. Früher oder später wäre eine weitere Konfrontation ohnehin unvermeidbar geworden. Meine Gedanken schwirrten wie ein Bienenschwarm. All das machte überhaupt keinen Sinn. Es war eine Sache die Existenz von Geistern anzuerkennen, aber die von Hexen und Flüchen war schon nochmal eine andere Nummer.
„Dann los", sagte Kaja und ging vor der Sandkuhle in die Hocke, welche ich gerade so mühsam ausgehoben hatte. Ihre Fingerspitzen tasteten sanft über die feinen weißen Körnchen, fast als würde sie auf Klaviertasten spielen. Und diese tonlose Melodie wirkte auf unerklärlicherweise auf den Sand ein; mit geweiteten Iriden bezeugte ich, wie der Sand wie von Geisterhand zurückwich und das Fahrrad freilegte.
Mein Herz hämmerte unglaublich laut in meiner Brust, als meinen trockenen Lippen ein schwaches: „Abgefahren", entwich.
Kaja grinste flüchtig. „Glaub mir, für mich ist deine Fähigkeit mit Geistererscheinungen zu kommunizieren mindestens genauso eindrucksvoll. Wenn nicht sogar mehr."
„Ich finde beides gleichermaßen faszinierend", versicherte uns Miki todernst. „Seit gestern Abend liebe ich diesen Ort total und will auch niemals wieder woanders leben."
„Irgendwas läuft da gewaltig schief unter diesen vielen hübschen Locken", schnaubte Kaja daraufhin ungläubig und erhob sich.
Gemeinsam mit Miki zog ich das Fahrrad aus der freigelegten Grube heraus, dabei streifte sie meinen Ellbogen und flüsterte: „Das ist doch ne gute Entwicklung, oder? Immerhin wissen wir jetzt ganz sicher, dass du dir das alles nicht nur einbildest."
Ich wusste darauf keine gute Antwort und zuckte ziemlich hilflos mit den Schultern. Ist es das? Eine gute Entwicklung? Das all diese schrecklichen Dinge der Realität entsprachen? All der Schmerz und die Verzweiflung echt waren? Ich weiß ja nicht...
Im Moment wünschte ich mir fast, all dies würde sich doch nur in meinem Kopf abspielen. Das Mum, Lilo, Alicia und sogar Patrick Endler in Wahrheit irgendwo ihren Frieden gefunden hätten.
*
Eine Dreiviertelstunde später ketteten wir unsere Fahrräder an. Sonntags war natürlich kein Schwein auf dem Gelände und obwohl es taghell war, beschlich mich eine eigentümliche Gänsehaut.
Nur wir drei und ein rachsüchtiger Geist. Einfach super.
„Wie kommen wir rein?", fragte Miki und kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Hat von euch schon mal jemand eine Tür aufgebrochen?"
„Nicht nötig", meinte Kaja und zauberte einen Schlüsselbund aus ihrer Manteltasche.
„Du hast einen Schlüssel? Woher?!"
„Den hab ich bei Patricks Totenwache mitgehen lassen", gestand sie. „Dachte, der könnte durchaus mal praktisch sein und er braucht ihn ja schließlich nicht mehr."
„Klar. Aber mir ein schlechtes Gewissen machen, weil ich mir deinen Laptop kurz ausgeliehen habe", grummelte Miki und ging voran.
Kaja und ich folgten ihr mit ein bisschen Abstand.
„Hey Keno."
„Hm?"
„Es tut mir leid."
„Was denn?", hakte ich verwirrt nach.
„Das ich nie etwas gesagt habe. Das war dir gegenüber grausam. Du hättest einen Freund gebraucht, der dir durch diese schwere Zeit hilft."
Bei diesen Worten wanderten meine Gedanken automatisch zu Robin und verdüsterten sich. „Schon okay."
„Nein, ist es nicht. Patrick hatte recht. Mit allem."
Bevor ich sie fragen konnte, wie genau sie das meinte, erreichten wir die Eingangstür und Kaja entriegelte diese bestimmt.
Wir betraten das Schulhaus und blickten uns aufmerksam um.
„Irgendeine Idee, wo wir als erstes nach ihm suchen sollen?", flüsterte ich nervös und die beiden Mädchen sagten mehr oder weniger synchron: „Heizungskeller."
Ich schluckte.
Das war wirklich der letzte Ort, wo ich hinwollte, doch für einen Rückzieher war es inzwischen zu spät. „Okay. Dann los."
Wir erreichten das Treppenhaus und blickten einen Moment unschlüssig ins Untergeschoss, bevor Miki hinuntertapste und bemerkte: „Da unten gibt es hoffentlich einen funktionstüchtigen Lichtschalter."
Denn gab es und Kaja legte ihn um. Das elektronische Deckenlicht sirrte und zuckte mehrmals, bevor es sich entschloss konstant zu leuchten.
„Ist doch gar nicht so dramatisch", meinte Miki enthusiastisch und klatschte in die Hände. „So. Wo ist jetzt dieser sagenumwobene Heizungskeller?"
„Da vorne links", behauptete Kaja und übernahm die Führung. Ihre Anwesenheit beruhigte mich ehrlicherweise. Ich hatte nämlich nicht den Hauch einer Ahnung, was uns dort drin gleich erwarten würde.
Doch der Raum, den Kaja aufsperrte, entpuppte sich als wirklich unspektakulär. Rohre an den Wänden, Kästen mit Warnhinweisen – aber weit und breit kein Patrick Endler.
Erleichtert stieß ich die Luft aus und ließ meine Augen nochmal genauer durch den Raum wandern. Es gab eine Werkbank, auf dem ein Pappkarton voller Bücher stand, auf deren Einbände sich inzwischen eine feine Staubschicht gelegt hatte.
Kaja ging darauf zu und seufzte. „Patrick hat Bücher geliebt."
Mir schnürte es die Kehle zu und ließ den Blick sinken. Auf dem Boden gab es einige dunkle Flecken. Kein Menschenblut, dafür hatten die Tatortreiniger sicherlich gesorgt, dennoch... Die Vorstellung, dass hier vor ein paar Monaten ein Mensch gesessen und diesen schrecklichen Ausweg gewählt hatte, setzte mir zu.
„Was ist das?"
Mikis Stimme riss mich abrupt aus der hereinströmenden Düsternis meiner Gedanken und ich drehte den Kopf in ihre Richtung. „Was?"
„Da klebt ein Foto hinter dem Rohr hier."
„Ein Foto?"
Kaja und ich traten neugierig näher, während Miki den Arm verrenkte, um an das Bild zu gelangen. „Ah, hab's!"
Das Foto zeigte die jüngere Alicia aus meiner ersten Vision und den blonden Jungen, der damals auch dort gewesen war. Sie saßen breitgrinsend in einem Café, vor zwei riesigen Eisbechern, dessen hässliches Mobiliar mir verdächtig vertraut vorkam.
„Das wurde doch in Johannes Eisdiele aufgenommen", erkannte ich überrascht.
„Das ist Alicia, oder?", überlegte Miki. „Aber wer ist dieser Junge?"
„Patrick", flüsterte Kaja und ich nickte nachdenklich. Ja... das machte durchaus Sinn. Er war damals dort gewesen, auf der Insel und hatte sich mit ihr angefreundet.
Plötzlich spürte ich die Anwesenheit von etwas Neuem, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ganz langsam riss ich den Blick von dem Foto los und wandte mich um.
Und da stand er. Patrick Endler, in seinem dunkelblauen Arbeiteroverall und aufgeschlitzten Handgelenken. Ich sah wie das zähflüssige Blut zu Boden tropfe und diese dunklen Flecken hinterließ. Es war also doch Blut. Totes Blut, welches nur ich sehen konnte.
„Wir sind nicht allein", wisperte ich, damit auch die anderen zwei verstanden.
„Patrick?", fragte Kaja unsicher und ich nickte, da meine Kehle völlig ausgetrocknet war.
„Kannst du... mit ihm sprechen?"
Tja, dies war wohl der Moment der Wahrheit.
„Herr Endler", begann ich zögernd. „Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber..."
„Natürlich erinnere ich mich an dich. Du bist Tildas Enkel. Konrad. Nazario hat oft von dir gesprochen. Bevor er verschwand, hat er mich gebeten ein Auge auf dich zu haben."
„W-Wirklich?", fragte ich nun komplett überfordert mit der Situation. „Wieso sollte er das tun?"
„Weil er wusste was du bist und fürchtete, dir könnte vielleicht dasselbe wiederfahren wie Alicia. Ein weiteres verwirktes Leben, um das Gleichgewicht zu bewahren."
„Keno", wisperte Kaja drängend. „Frag ihn nach der Blackbox."
Richtig.
„Ähm, wenn es Ihnen nichts ausmacht... Also Kaja glaubt das auf Ihrer Blackbox der Beweis zu finden ist, dass ihr Suizid gar kein richtiger Suizid war. Aber wir können sie nicht finden. Würden Sie uns verraten, wo sie ist?"
Seine blutleeren Augen wanderten zu Kaja, die etwas schräg an ihm vorbeistarrte.
„Ich kann nicht. Selbst wenn ich wollte, kann ich es dir nicht sagen. Er würde es niemals zulassen."
„Er?", fragte ich. „Wer ist er?"
Partick Endler schüttelte nur traurig den Kopf. „Ich muss gehen, sonst merkt er, dass ich mit euch gesprochen habe. Bitte sag Kaja, dass es mir leidtut. Sehr leid."
„Warten Sie!", flehte ich drängend und trat einen Schritt vorwärts. „Was soll das alles bedeuten? Wer ist er?!"
„Er?", echote Kaja hinter mir.
„Bitte. Bitte gehen Sie noch nicht! Ich verstehe immer noch nicht, warum ich plötzlich diese Visionen habe... von Alicia. Herr Endler... Patrick... was ist auf dieser Insel mit ihr passiert?"
„Alicia...? Du... hast Alicia gehen?"
„Ihren Geist, ja. Vor ein paar Tagen erst. Und seitdem sehe ich sie auch regelmäßig in meinen Träumen."
„Alicia ist noch... hier?", murmelte er abwesend und er umklammerte seine Schädeldecke mit beiden Händen. „Aber wieso...?! Sie sollte nicht hier sein. Sie sollte längst..."
Ich schluckte schwer und wusste nicht, wie ich auf seinen emotionalen Zusammenbruch reagieren sollte. „Es ist... alles gut. Ich bin mir sicher wir finden einen Weg, um Alicia von ihren Qualen zu befreien. Gemeinsam."
Ein bellendes Lachen entrang seiner Kehle und als er schließlich die blutigen Hände vom Kopf losriss, konnte ich wieder einmal nur das Weiße in seinen Augen erkennen.
„Du bist wirklich genauso nerv tötend wie deine verdammte Großmutter. Mathilde wusste auch nie, wann es besser war ihre neugierige Nase aus den Angelegenheiten anderer rauszuhalten. Sie, Alicia, du... ihr seid allesamt verkommen; Kinder des Teufels!"
Ich zuckte zurück und stieß gegen Miki und Kaja, die mich überrascht auffingen. „Keno... was ist los? Was sagt er...?"
„Das..." Meine Stimme zitterte heftig, „...ist nicht Patrick Endler."
„Was? Wie meinst du das? Wessen Erscheinung siehst du dann dort?!"
„Er... hat zwar Patricks Gesicht, aber er ist es nicht."
„Keno... was du da sagst, ergibt überhaupt keinen Sinn", zischte Kaja verwirrt. „Was...?"
Doch ich ignorierte sie und trat abermals vor. Ignorierte den Angstschweiß, der mir kalt das Rückgrat hinabkroch und sprach mit möglichst fester Stimme: „Wer sind Sie? Was... Was ziehen Sie da für ein total krankes Spiel ab?! Was soll das alles?!"
„Meine Beweggründe haben dich nicht zu interessieren. Ich tue nur das, was getan werden muss, um das Gleichgewicht zu wahren. Maden wie du sind es, die alles durcheinanderbringen!"
„Was? Wovon reden Sie da bloß? Was genau haben Sie vor?!"
Doch die Geistererscheinung verzog das Gesicht zu einer grinsenden Grimasse und flackerte wie eine Kerze, die kurz davor war auszugehen. Und mit meinem nächsten Blinzeln war er endgültig verschwunden.
„Scheiße!", entschlüpfte es mir und trat frustriert gegen eins der Rohre. „Er ist weg."
„Kannst du mal erklären, was gerade passiert ist?!", forderte Kaja aufgewühlt und ich versuchte es in ein paar knappen Sätzen zu erklären.
„Wartet mal..." nuschelte Miki und kaute nachdenklich an ihrem Daumennagel. „Heißt das, dass nicht nur jemand Patrick Endlers Selbstmord manipuliert hat, sondern auch weiterhin Kontrolle über seinen Geist ausübt?!"
„Schätze schon", hauchte ich müde.
„Und wenn ich es richtig verstanden habe, hat dieser Er also Patricks Blackbox?", hakte Kaja nach.
„Jap."
„Shit, dass ist überhaupt nicht gut! Wie sollen wir dann überhaupt irgendwas beweisen, ohne jeden Anhaltspunkt?!"
„Na ja, ein paar Anhaltspunkte haben wir doch", erinnerte ich sie finster. „Wer immer es ist, weiß das meine Großmutter wie ich sehen konnte und er kannte auch Alicia. Und er hat auch Onkel Nazario erwähnt."
„Na toll, dass schränkt die Verdächtigen auf fast alle Mitglieder meines Zirkels ein", knurrte Kaja weit weniger überzeugt. „Wie sollen wir über hundert Hexenblute überprüfen?"
„Was?", fragte ich empört. „Das wäre ja knapp Ein Drittel unserer Einwohnerzahl!"
„Nicht alle Zirkelmitglieder wohnen hier im Ort", erklärte Kaja fahrig. „Was es nur schwieriger macht. Diese Person könnte theoretisch sonst wo sein und seinen üblen Einfluss auf Patrick ausüben. Verdammt! Das ist ja noch viel schlimmer als ich bisher angenommen habe... entschuldigt mich, ich muss dringend mit meiner Mutter reden."
„Okay", sagte Miki und tauschte einen überraschten Blick mit mir aus. „Wir sehen uns."
Kaja verließ den Heizungskeller und ich rutschte erschöpft an einem der Rohre hinunter, bis ich auf den mit Endlers Blut vollgetropften Betonboden landete. Miki rutschte neben mich und umklammerte ihre Schienbeine. „Was machen wir jetzt?"
„Keinen Schimmer", gab ich zu. „Sieht nicht so aus, als ob ich irgendwem helfen könnte, oder? Keine Ahnung, warum ich es überhaupt weiter versuche... ich konnte ja nicht mal meine eigene kleine Schwester retten."
„Du versuchst es weiter, weil du ein guter Mensch bist, Keno. Das ist ein guter Grund, um weiterzumachen und der Einzige, der wirklich zählt."
Da war ich mir nicht so sicher, doch als mein Blick auf das Foto fiel, was irgendwann in den letzten Minuten auf den Boden gefallen sein musste und mir Alicia und Patrick daraus entgegenstrahlten, hatte ich meine Entscheidung längst getroffen.
Aufgeben war keine Option.
***
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro