17. Verschiebung ins Rötliche | Keno/Robin
Das gestrige Gespräch mit Carmen Walcher war wenig zufriedenstellend ausgefallen. Aber eine Sache war jetzt völlig klar, sie und Robert wussten mehr über die Umstände von Alicias Tod als sie zugeben wollten.
Irgendwie hing dieser schreckliche Unfall von damals mit Patrick Endlers Suizid zusammen. Und Robins Familie war darin verwickelt.
Heute Nacht hatte ich schon wieder eine Vision von Alicia, wie sie lachend und summend durch den Inselwald gestreift war. „Was ist mit dir passiert?", flüsterte ich frustriert und rieb mir müde über die Augen. „Warum träume ich Erinnerungen von dir, obwohl ich dich überhaupt nie gekannt habe? Und was soll ich überhaupt mit all diesen wirren Eindrücken anfangen? Es macht alles keinen Sinn. Wenn du meine Hilfe willst, musst du es mir deutlicher sagen. Ich bin schon langer kein Geisterdetektiv mehr, nur ein Idiot, der sich weigert seine Pillen regelmäßig zu schlucken."
Ach ja... Ich nahm die Pillenbox, die Andy regelmäßig neu für mich bestückte und dessen Inhalt meistens im Klo landete, zur Hand und starrte die darin enthaltenen weißen Tabletten an. Vielleicht sollte ich langsam damit anfangen, euch regelmäßig zu nehmen.
Mein Handy vibrierte und Mikis Name erschien auf dem Display.
„Moin", sagte ich.
„Treffen wir uns in einer halben Stunde vor Endlers heute Nacht abgebrannten Haus. Und wenn du eine hast, bring eine Schaufel mit. Wir müssen mein Fahrrad ausgraben."
„Wie bitte... was?", fragte ich nur überrumpelt.
„Ich erklär' dir alles, wenn wir uns sehen. Ach ja, nur um das klarzustellen; ich hab sein Haus übrigens nicht abgefackelt, falls dir dieser charmante Gedanke gerade im Kopf rumschwirrt. Das war seine sympathische Schwester Gesche. Aber behalt diese Info erstmal für dich und beeil dich!"
Damit legte sie auf und ließ mich überfordert an meinem Handy hängend zurück.
*
Zehn Minuten später war ich angezogen und trottete in die Küche. Onkel Fred war vorbeigekommen und hatte frisches Gebäck mitgebracht. Da das Gespräch sofort verstummte, nachdem ich hereingekommen war, schätzte ich, es ging um mich.
„Haben wir irgendwo eine Schaufel, die ich mir ausleihen kann?"
„Wahrscheinlich hinten im Schuppen", erwiderte Onkel Fred und Andy fragte irritiert: „Wofür brauchst du denn eine Schaufel?"
„Um etwas auszugraben", antwortete ich. Woraufhin mich alle meine Familienmitglieder völlig entsetzt anstarrten und ich neutral hinzufügte: „Keine Leiche. Mikis Fahrrad steckt nur fest und wir wollen es ausbuddeln."
„Wie hat sie das denn geschafft?", murmelte Andy und nippte ein wenig ungläubig an ihrer Kaffeetasse.
„Hat sie nicht erwähnt. Ich hol' dann mal die Schaufel."
„Willst du nicht zuerst mitfrühstücken?", rief Onkel Fred mir hinterher, doch ich winkte nur noch im Weggehen und schlüpfte im Hausflur schnell in meine ausgelatschten Sneaker.
Ich lief einmal ums Haus und blieb vor dem alten Gartenschuppen stehen, auf dessen Scheiben mit Fensterfarben Regenbögen, Waldtiere und Blumen gemalt worden waren.
Ich versuchte möglichst nicht hinzusehen und ging hinein. Seit Großmutter Mathildes Tod wurde der Schuppen kaum noch genutzt. Verrostetes Gartenwerkzeug und gammlige Erdsäcke dominierten in dem kleinen Raum. Aber hin und wieder stachen mir auch schmerzvolle Erinnerungsstücke ins Auge; der pausbackige Lieblingsgartenzwerg meiner Oma, der eine kleine Schubkarre vor sich herschob oder die gepunktete Plastikgießkanne, die Lilo immer für ihr eigenes kleines Kräuterbeet genutzt hatte.
Endlich entdeckte ich die Schaufel hinter einem Stapel ausgemusterter Tontöpfe und klemmte mir diese unter den Arm.
„Hey."
Überrascht fuhr ich herum und sah mich mit meiner Schwester konfrontiert. Sie trug noch ihren Pyjama und hielt ihre Kaffeetasse zwischen den Fingern.
„Geht es dir gut?"
„Klar", meinte ich möglichst überzeugend.
„Wirklich?"
Nein.
„Ich weiß nicht", gab ich schließlich schulterzuckend zu und wich dabei ihrem bohrenden Blick aus. „Es passieren gerade ziemlich viele schräge Dinge um mich herum, für die ich einfach keine vernünftige Erklärung finde... aber..."
„Aber?"
„Ich komme schon klar. Irgendwie."
„Keno..."
„Ich muss los", würgte ich ab und umrundete sie, um an mein an den Gartenzaun angelehntes Fahrrad zu gelangen.
„Bitte pass auf dich auf", rief sie mir noch hinterher als ich bereits den Hügel hinabrollte und einen flüchtigen Blick über die Schulter warf. Sie stand immer noch in Gummistiefeln neben dem Schuppen und der Wind spielte mit ihrem offenen Haar.
*
Wenn sich die Aura eines Menschen ins Rötliche verschiebt, lügt diese Person.
Meistens versuchte ich ja die Farben um mich herum 24/7 auszublenden, aber diese Erkenntnis, zu der ich vor etwa zwei Jahren gelangt war, ist ziemlich nützlich.
Erneut sah ich auf das Foto hinab und wieder beschlich mich dieses zerreißende Gefühl einer aufkommenden Bedrohung. Als würde ich in das Auge eines Sturms blicken oder so. Dabei handelte er sich nur um das Abbild zweier Mädchen.
Ein hässlicher Knoten hatten sich seit gestern Nachmittag in meiner Magengegend manifestiert und erinnerte mich ständig daran, dass etwas nicht stimmte. Ich musste etwas tun. Irgendwas.
Der Traum oder besser gesagt die Erinnerung an meine letzte Begegnung mit Onkel Naz nagte zusätzlich an mir.
Das, was er mir da gesagt hat, konnte einfach nicht stimmen. Denn das würde bedeuten...
„Verdammt, jetzt reiß dich mal zusammen", murmelte ich kopfschüttelnd an mich selbst gewandt. Diese Farben hatten nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich musste ich nur mal dringend zum Augenarzt. Und diese angebliche Erinnerung lag Jahre zurück. Wahrscheinlich hatte ich nur etwas missverstanden. Vielleicht stimmte es ja und wir stammten wirklich aus der Erblinie dieser verurteilten Hexe heraus, die zum Opfer der Unaufgeklärtheit jener Zeit geworden war. Na und?
Ich vermute schon länger, dass du die Auren anderer Menschen lesen kannst, echote seine Stimme in meinem Kopf. Eine sehr seltene Fähigkeit innerhalb unserer Blutlinie.
Diese Worte beunruhigten mich mit am meisten. Dann war es so eine Art Erbkrankheit? Sollte ich doch lieber mit Mutter darüber reden?
Und dann war da noch diese andere Sache, die er angedeutet hatte; dass ich die Freundschaft zu Keno gar nicht aus eigenem Wunsch beendet hatte. Aber wie sollte es anders möglich sein?
Bei diesem Gedanken schmerzte der Knoten in meiner Magengegend besonders heftig und ich presste meine Hand reflexartig auf die Bauchdecke. Mir wurde richtig schlecht, aber es reichte noch nicht, um mich übergeben zu müssen. Ich hasste diesen Schwebezustand, wenn man das Gefühl hatte, Erbrochenes würde irgendwo in der Speiseröhre festhängen.
Du kannst nicht leugnen, was du bist.
Wie hatte er das gemeint?
Was bin ich?
„Robin? Alles gut bei dir? Ist dir schlecht?"
Ich blinzelte und musste kurz realisieren, wo ich war. In meinem Zimmer, aber offensichtlich nicht mehr allein.
Marlon stand mir gegenüber und grinste schwach.
„Du wurdest aus dem Krankenhaus entlassen?", entschlüpfte es mir überrascht und er nickte bestätigend. „Schon gestern, aber du reagierst ja weder auf meine Anrufe noch Nachrichten und jetzt finde ich dich in diesem abgefuckten Zustand vor. Was ist denn los?"
„Nichts", wehrte ich ab, woraufhin mein bester Freund die Stirn runzelte und sich auf meinen Schreibtischstuhl sacken ließ. „Okay. Nichts. Cool. Das erklärt natürlich, warum ich fast gestorben wäre und du mich trotzdem ignoriert hast."
„Ich habe dich nicht ignoriert. Es ist nur... ich spiele mit dem Gedanken, nach Hamburg zu fahren."
„Na dann mach. Meine Tante lebt dort. Ist ne schöne Stadt", erwiderte er perplex.
„Es geht mir nicht ums Sightseeing. Ich habe kürzlich etwas herausgefunden... etwas über meine Familie. Und seitdem... habe ich ein richtig mieses Gefühl in mir drin und ich glaube dorthin zu fahren und etwas nachzuprüfen, würde mir helfen, besser damit klarzukommen. Sorry, ich weiß, das klingt schwammig, aber ich kann es aktuell noch nicht besser in Worte fassen."
Kurz trat Stille ein und lag schwer zwischen uns in der Luft, bevor er etwas unsicher fragte: „Soll ich besser mitkommen?"
„Nein. Ich meine, du wurdest gerade frisch entlassen und solltest dich schonen. Außerdem hast du doch sicher Folgetermine, die du wahrnehmen musst."
„Schon, aber... Ganz ehrlich? Dein Verhalten beunruhigend mich gerade ziemlich. So bist du doch normalerweise nicht. Das klingt eher nach ner durchgeknallten Sache, die Geisterjunge durchziehen würde."
„Nenn ihn nicht so", sagte ich viel pissiger als gewollt und Marlons Augen weiteten sich sofort verstehend. „Dann geht es hier also in Wahrheit um Keno, ja? Oder um die Neue? Miki?"
Sein Blick fiel auf das Foto, welches ich immer noch umklammert hielt. „Das ist sie doch... Wer ist das andere Mädchen?"
„Keine Ahnung", gab ich zu. „Ich weiß nur, dass seit sie hergezogen ist, die Dinge angefangen haben aus dem Ruder zu laufen. Ich frage mich, ob es dafür einen Grund gibt."
„Und was für ein Grund könnte das sein?", fragte Marlon zweifelnd.
Ganz automatisch wurde mein Blick wieder von dem blonden Mädchen und deren dunkelvioletten Aura angezogen.
„Keine Ahnung. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich es besser herausfinden sollte. Zum Schutz für uns alle."
„Jetzt klingst du wirklich genau wie Geisterjun- sorry, wie Keno", korrigierte Marlon hastig und fuhr sich durch die rotblonden Locken.
„Aber was ist dein Plan? Willst du einfach bei Mikis alter Schule aufschlagen und ihre Mitschüler befragen?"
„Das wäre gar keine üble Idee", erwiderte ich beeindruckt. „Aber leider weiß ich nicht, auf welcher Schule sie war."
„Zeig mal", verlangte Marlon und ich brauchte einen verwirrenden Moment, um zu verstehen, was genau er von mir wollte. Zögernd übergab ich ihm das Foto, welches er daraufhin mit Adlersaugen studierte.
„Was wird das?"
„Scheinbar hast du es vergessen, aber vor dir sitzt der Master of Movie Mistakes. Ah... das ist doch interessant."
„Was?"
„Nun, Mikis Armbänder dokumentieren ziemlich gut, wo sie sich rumgetrieben hat. Gib mir ein paar Stunden, dann recherchiere ich dir die einzelnen Locations. Dann hast du zumindest ein paar kleine Anhaltspunkte und läufst nicht völlig planlos durch die Stadt."
„Oh... gute Idee. Danke. Du hast was gut bei mir."
„Wenn du dich revanchieren willst, dann antworte gefälligst auf meine Nachrichten", stänkerte Marlon und stopfte das Foto in seine hintere Jeanstasche. „Und rede mit Marnie. Sie versucht es zwar nicht zu zeigen, aber sie sorgt sich sehr um dich."
„Ich weiß."
*
Doch bevor ich nach Hamburg fuhr, musste ich nochmal mit meiner Mutter reden.
Ich fand sie unten im Esszimmer, wo sie wie immer am Monatsende, die eingetroffenen Briefe der letzten Wochen in verschiedene Ordner einsortierte.
„Hey."
Sie sah auf und lächelte warm. „Mi cielo, setz dich doch zu mir und leiste mir Gesellschaft."
Ich wusste, dass die meisten Menschen meine Mutter als kalt und distanziert wahrnahmen und auch ich hatte zuweilen Probleme damit, mich ihr zu öffnen. Vermutlich lag das aber vor allem an ihrer schwierigen Familiengeschichte. Im Gegensatz zu Onkel Naz, hatte sie sich nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag völlig von ihrer restlichen Familie losgesagt. Die Gründe dafür hatte sie nie gänzlich offengelegt, ich wusste nur, dass meine Großeltern wohl nicht viel von ihrer Heirat mit meinem Vater gehalten hatten. Doch vielleicht steckte noch mehr dahinter.
„Kann ich dich etwas fragen? Wann war das letzte Mal als du Onkel Naz lebendig gesehen hast?"
Meine Mutter erstarrte in der Bewegung. „Wie kommst du denn jetzt darauf?"
„Um ehrlich zu sein habe ich letzte Nacht von ihm geträumt. Er besuchte uns im Winter vor meinem zehnten Geburtstag und nahm mich mit auf die Insel."
„Tja, ich fürchte, das war dann leider nur ein Traum. Das letzte Mal, das wir deinen Onkel zu Gesicht bekommen haben, war bereits Monate davor. Im August. Erinnerst du dich nicht? Wir haben ihn am Hafen verabschiedet und ihm nachgeblickt, wie er aufs offene Meer hinausfuhr."
Ihre anfängliche neutral eingefärbte Aura glühte glutrot.
Sie log mich an... mitten ins Gesicht.
„Was ist mit Tante Alicia? Wann hast du sie zum letzten Mal gesprochen?"
„Tante Alicia?", echote sie misstrauisch. „Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf Tante Alicia? Sie starb doch schon vor deiner Geburt."
„Na ja, sie bleibt trotzdem meine Tante, oder? Also was ist mir ihr passiert?"
„Sie starb bei einem tragischen Autounfall. Genau das hab ich auch Keno gesagt. Können wir das Kreuzverhör jetzt beenden?"
Ihre Aura blieb rot, was mir Auskunft genug war. Was auch immer damals passiert war, Tante Alicia war sicherlich nicht bei einem einfachen Autounfall gestorben.
„Okay", lenkte ich ein und schob den Stuhl zurück. „Ich penn heut Nacht bei Marlon, wenn es dir nichts ausmacht."
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging ich nach oben und setzte mich an den Rechner, um das benötigte Busticket zu buchen.
***
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