15. Blackbox | Miki
Nichts... wirklich absolut keinen einzigen Anhaltspunkt ergab meine intensive Internetrecherche. Frustriert streckte ich mich auf meinem Bett aus und starrte zur Zimmerdecke empor, legte meinen Handrücken auf der Stirn ab.
Das alles war wirklich surreal. Es war eine Sache, an Geistersichtungen zu glauben, aber auch noch daran, dass Kaja ein Hexenblut und Keno so eine Art Nekromant war, war schon nochmal ne härtere Nummer.
Anderseits... Ich fasste mir an den Hals und schluckte schwer. Wenn Kaja vorhin nicht aufgetaucht wäre...
„Das ist wirklich passiert", hauchte ich nachdenklich. Ich hatte es mit eigenen Augen in der Spiegelreflexion gesehen. Da war niemand sonst dort gewesen, der mich hätte hinterrücks strangulieren können. Niemand lebendiges.
Bei der Erinnerung an meine Nahtoderfahrung, klopfte mein Herz aufgeregt. Keine Ahnung... irgendwie fühlte ich mich dadurch richtig lebendig. Der Adrenalinkick hallte wohl noch in mir nach.
Und Kaja... sie war nicht halb so langweilig, wie ich anfangs angenommen hatte.
Ich musste unbedingt mehr herausfinden. Aber wie? Die seltsamen Symbole und Zeichen, die ich abfotografiert hatte, ergaben in keiner bekannten Sprache Sinn. Also war es ein Code? Eine verschlüsselte Nachricht?
Abrupt setzte ich mich auf. Die Blackbox, ich musste irgendwie an diese verdammte Blackbox herankommen. Worum es sich dabei auch immer handeln mochte... Kaja wollte sie unbedingt und dafür würde es sicherlich einen bestimmten Grund geben.
Rasch sprang ich auf und suchte einiges Zeug zusammen, was eventuell nützlich sein konnte. Anschließend stopfte ich gesammeltes in meinen Rucksack, wobei mein Blick zufällig auf das aufgeschlagene Buch auf meinem Nachtkästchen fiel. Die Seiten waren leer, die Fotografie, die ich als Lesezeichen genutzt hatte, verschwunden. Verwirrt blätterte ich darin und sah dann unter meinem Bett nach. Nichts.
Komisch.
Es handelte sich um meine Lieblingsfotografie von mir und Lil und ich hatte dummerweise keine digitale Version davon.
Egal, dass musste ich wohl oder übel später suchen, Kenos und mein Leben zu retten, hatte im Moment Priorität.
Ich ging hinunter in die Werkstatt und behauptete meiner Mutter gegenüber dreist, dass ich heute Nacht bei Keno übernachten wolle.
Sie mochte Keno und hatte nichts dagegen, weshalb ich mich zehn Minuten später auf mein neuerworbenes Fahrrad schwang und losstrampelte. Neu... haha... meine Mutter hatte es vor einer Woche von unserem Nachbarn erworben und ein paar Teile ausgetauscht, aber es erfüllte seinen Zweck. Ich war keine wirklich passionierte Fahrradfahrerin, aber in dieser Einöde, wo nur alle paar Stunden ein Linienbus durchfuhr, war man als Teenager ohne Führerschein ansonsten aufgeschmissen.
Doch ich fuhr nicht zu Keno. Glücklicherweise war es nicht schwer gewesen herauszufinden, wo Patrick Endler gelebt hatte. Isoliert in dieser Isolation, an einem Strandabschnitt in der Nähe des Leuchtturms. Ich fuhr eine gute Viertelstunde über die langen Holzstege der Dünen hinweg, bis ich mein Ziel erreichte; ein typisches Backsteinhaus mit Reetdach, welches hier draußen so oft das Landbild prägt, eingebettet zwischen Wiese und Sand.
Ich glitt vom Sattel und ließ den Drahtesel achtlos in den Sand fallen, bevor ich aufgeregt meine Taschenlampe hervorholte und anknipste, um die Gegend nochmal genauer abzuleuchten. Die einzigen künstlichen Lichtquellen boten der Leuchtturm und ein paar weiter entfernt stehende Häuser. Ansonsten sah man nur die Mondsichel dominant am Himmel glühen, in dieser wunderbar klaren Septembernacht.
Perfekte Einbruchvorrausetzungen also.
Natürlich war die Fronttür abgeschlossen. Ich schlich einmal ums Haus und leuchtete durch die Fenster ins Innere. Es war ein bisschen ernüchternd. Es wirkte wie ein ganz normales Haus, mit langweiligen alten Möbeln bestückt.
In der Einfahrt parkte ein uralter, mit Rostflecken übersäter Jeep, denn meine Mutter sicher einmal gerne generalüberholen würde und nebenbei ein hübsches Sümmchen verdiente.
„Na schön", flüsterte ich in die beginnende Nacht. „Wie komme ich da jetzt rein?"
Die Lösung war ernüchternd. Im oberen Stockwerk entdeckte ich ein zerbrochenes Fenster, vermutlich von gelangweilten Kindern mit Steinen eingeworfen.
Es war nicht sehr hoch und sollte machbar sein, wenn ich das Außengehäuse des Jeeps als Ausgangspunkt nutzte. Ich kletterte hinauf und hangelte mich von dort aufs Fensterbrett. Jetzt kam mir meine geringe Körpergröße mal zugute – denn so gelangte ich problemlos durch das zerbrochene Fenster ins Hausinnere. Ich war im Schlafzimmer gelandet. Auch das war beinahe beleidigend normal; ein altes Holzbett und ein massiver Bauernschrank dominierten darin. Es gab wenig Persönliches; ein paar aufgehängte Ölmalereien an den ansonsten kahlen Wänden und ein schräg stehender, zum Fenster gerichteter Sessel mit einer bunten Tagesdecke darauf, hauchten dem Raum ein wenig Leben ein.
Ich ging zum Nachtkästchen und zog die oberste Schublade auf. Tatsächlich hätte ich in dieser Umgebung fest mit einer Bibel gerechnet, stattdessen sah ich die Fotografie einer sehr attraktiven jungen Frau.
Ist das Alicia?, fragte ich mich stumm und griff danach, um es näher zu beleuchten. Sie war wirklich unfassbar schön, mit den langen, sich wellenden Haaren und den beinah schwarzen Augen.
Auf einmal hörte ich ein näherkommendes Motorgeräusch und knipste panisch das Licht aus.
Ein Auto fuhr die Auffahrt hoch und in meiner Panik nahm ich kaum wahr, wie die Scheinwerfer lange Schatten auf die Wände warfen.
„Ich wünschte, ich könnte dieses alte Haus endlich niederbrennen", grummelte die Stimme einer Frau und ich nahm all meinen Mut zusammen und riskierte einen flüchtigen Blick.
Durch das fahle Mondlicht nur schwach auszumachen, standen zwei Gestalten in der Einfahrt. Eine davon ging zur Tür und besaß offensichtlich einen Schlüssel.
Scheiße.
Was jetzt? Sollte ich besser rasch abhauen? Aber waren das nicht sehr wahrscheinlich Mitglieder dieses Hexenblutzirkels? Und eine davon wollte das Haus niederbrennen. Vielleicht um Beweise zu vernichten?
Diese Gelegenheit kam vielleicht nie wieder. Also schlich ich geduckt zur Schlafzimmertür und zog diese einen Spalt auf, um zu lauschen.
„Ach, ich kann nicht verstehen, warum Patrick alles so gelassen hat", krächzte die Stimme der Frau wieder. „Oder warum er überhaupt hier eingezogen ist. Er und Vater haben sich gegenseitig gehasst."
Er und Vater?, wiederholte ich gedanklich. Dann ist das Patrick Endlers Schwester? Würde Sinn machen. Aber wenn er wie sie sagt, seinen Vater gehasst hat, warum hat er ihn dann so oft im Seniorenheim besucht?
„Dein Bruder war eben schon immer ein Sonderling, Gesche", sagte eine zweite Stimme, die ebenfalls weiblich klang. „Und ich verstehe kein bisschen, warum du unbedingt nochmal herkommen wolltest. Der Zirkel hat das Haus bereits auf den Kopf gestellt und nicht den Hauch einer Spur von seiner Blackbox gefunden. Wahrscheinlich werden wir sie nie finden. Du musst der Wahrheit ins Gesicht schauen; er hat sich umgebracht."
„Sei still, Wilma. Du hast ihn nicht so gut gekannt wie ich. Er hätte niemals..."
„Du solltest besser still sein. Du klingst ja schon wie Erikas dummes Gör, welches diese unfassbar schweren Anschuldigungen erhoben hat. Ihr kann man zumindest noch Jugend und Unerfahrenheit zugutehalten, aber dein eigener Starrsinn ist unentschuldbar. Wenn der Zirkel erst davon Wind bekommt..."
„Ich kenne meinen Bruder", wiederholte Gesche verärgert und im nächsten Moment wurde das Licht angeknipst und der untere Bereich des Hauses in Helligkeit getaucht. „Davon abgesehen, hat Patrick es mir testamentarisch überschrieben. Ich habe also jedes Recht, hier zu sein."
Das Licht blendete mich zuerst, doch nach und nach gewöhnte ich mich daran. Zwei Frauen, vermutlich um die vierzig, standen sich im engen Hausflur gegenüber. Die Blonde trug die Haare im Nacken zu einem strengen Knoten gebunden und erste Krähenfüße zeichneten die Haut um ihre Augen. Die andere besaß kurze schwarze Locken und ein extrem rundes Gesicht.
„Gesche", zischte die Dunkelhaarige vorwurfsvoll, doch die Blondine schritt bereits fest entschlossen in eines der abzweigenden Zimmer hinein.
Also war Kaja nicht die Einzige, die Endlers Selbstmord anzweifelte. Sehr interessant.
Ich beugte mich leicht vor, um noch einen letzten Blick erhaschen zu können und dann knarrte die dämliche Tür. Shit.
„Gesche", sagte Wilma alarmiert. „Hast du das auch gerade gehört? Ich glaube, da oben ist jemand..."
„Du hörst Gespenster."
„Ganz genau. Vielleicht ist Patrick zurückgekehrt und spukt jetzt munter auf dem Dachboden herum. Oder schlimmer... Es sind Ratten. Lass uns nachsehen."
„Sieh du nach, wenn du unbedingt willst. Ich bin hier gerade noch beschäftigt."
Mist. Ich hörte näherkommende Schritte und geriet in Panik. Was sollte ich tun? Mich im Schrank verstecken? Unters Bett kriechen? Oder blindlings aus dem Fenster springen?
Angstschweiß kroch mir das Rückgrat hinab und mein Herz wummerte verstörend laut. Ich musste mich entscheiden; jetzt.
Dann legte sich plötzlich eine fremde Hand fest auf meinen Mund und ich gab nur noch einen erstickten Angstlaut von mir.
„Psst", zischte mir eine Stimme dicht ins Ohr und ich erkannte die Silhouette einer Person. Ist das...?
Dann sah ich, wie die Person neben mir ihre bis dahin geschlossene Faust öffnete und sich eine Motte von ihrer Handfläche abhob und auf das Licht zuflog.
Kurz darauf sirrten noch weitere Hunderte von Artgenossen an mir vorbei und strömten allesamt an uns vorbei durch den Türspalt. Ein erschrockener Aufschrei erfolgte.
„Komm mit!", sagte die Gestalt, riss mich hinter sich her zum Fenster und kletterte hinaus in die Nacht. Im Schein des Mondes erkannte ich sie dann vollständig.
„Bist du mir etwa gefolgt?", fragte ich sie entrüstet und Kaja schnaubte verächtlich. „Ich habe wirklich Besseres zu tun, als dir hinterherzulaufen", stellte sie unmissverständlich klar. „Und jetzt komm, der Fluch wird nicht lange andauern."
Sie sprang aufs Autodach und ich folgte ihrem Beispiel, wobei ich beinahe abgestürzt wäre, wenn sie mich nicht noch rechtzeitig festgehalten hätte.
„Alles okay? Hast du dir wehgetan?"
„Mir geht's gut."
Sie nickte, ließ meine Hand aber nicht los und zerrte mich geradewegs ins hochgewachsene Schilfgras des Vogelschutzgebiets. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah wie das ganze Haus von Insekten belagert wurde.
„Was... ist das bitte für ein kranker Fluch?"
Kaja blickte ebenfalls zurück. „Ich habe elektrisches Licht verflucht, aber nur vorübergehend und in einem Umkreis von fünfhundert Metern. Niemand wird verletzt werden, es war nur als Ablenkung gedacht."
„Wenn du nicht meinetwegen dort warst, warum dann?"
„Die interessantere Frage wäre eigentlich, was du dort verloren hattest, Miki."
„Was wohl? Ich wollte natürlich herausfinden, was es mit diesem ganzen Hexenblutkram auf sich hat und wie genau das mit Kenos Erscheinungen zusammenhängt, bevor ich meinem besten Freund den Horrorschreck seines Lebens einjage. Das ist echt ziemlich kranker Scheiß, ist dir das eigentlich bewusst?"
„Mir schon, bei dir bin ich mir da allerdings nicht so sicher", gab sie eisig zurück.
In dieser Sekunde flog die Haustür auf und die beiden Frauen stolperten ins Freie. Kaja und ich duckten uns reflexartig noch tiefer ins Gras.
„Was für ne Möwenkacke war das denn?!", fluchte Wilma lauthals und klopfte sich die letzten verbliebenen Motten aus der Kleidung. „Ein Sicherheitsfluch? Sollte der Zirkel nicht längst alle entschärft haben?"
„Davon bin ich ausgegangen", antwortete Gesche mürrisch. „Oder aber..."
„Oder aber was?", fragte Wilma ihre Begleitung.
„Ach nichts. Brennen wir das Scheißhaus einfach nieder, bevor noch mehr Flüche ausgelöst werden."
„Sicher? Dem Zirkel wird das nicht gefallen, Gesche."
„Es ist mein Haus und ich kann damit machen, was ich will." Während sie sprach, zog sie ein Zipper aus der Taschenritze ihrer Strickjacke und erzeugte eine Flamme.
Neben mir hörte ich, wie Kaja zischend ausatmete.
Die Flamme züngelte ungewöhnlich hoch und reckte sich dann vorwärts. Das Feuer bewegte sich wie eine Schlange, die sich einmal um das Haus wand und dann in ihren einen Schwanz biss. Ein Feuerkreis leuchtete in der Dunkelheit.
„Gesche, mach das besser nicht...", flehte Wilma sie noch an, doch da war es bereits zu spät. Der Kreis schloss sich und das Haus stand in Flammen.
Wenn ich es nicht meinen eigenen Augen bezeugt hätte, würde ich es nicht glauben. Aber das hatte ich und schluckte bedrückend etwas Speichel meine ausgetrocknete Kehle hinunter.
Eine Weile sahen wir zu, wie das Feuer alles verschlang. Dann knurrte Wilma: „Komm jetzt, irgendwer wird das Feuer sehen und Hilfe anfordern. Bis dahin sollten wir besser weit weg sein."
Gesche Endler, die unentwegt in die wütenden Flammen gestarrt hatte, nickte schließlich und schritt zum Auto. Ohne die Scheinwerfer anzumachen, fuhren sie rückwärts aus der Ausfahrt und waren bald darauf verschwunden.
„So eine Scheiße", murmelte Kaja unglücklich. „Ohne weiteren Anhaltspunkt, werde ich vermutlich nie herausfinden, wo Patricks Blackbox ist. Das war meine letzte Gelegenheit."
„Tja, dann sei besser dankbar", lächelte ich und fischte das zerknüllte Foto von Alicia aus meiner Kapuzenjacke.
„Wer soll das sein?"
„Alicia Ruíz."
„Das ist Alicia?!", fragte Kaja ganz aufgeregt und entriss mir das Foto.
„Du kennst sie?"
„Natürlich. Alicia Ruíz war immerhin Nazario Siennas Cousine. Meine Mutter sagte, sie war ein Hexenblut, wie es nur einmal jedes Jahrhundert geboren wird. Ein Sehendes Blut."
„Sehendes Blut?", echote ich verwirrt. „Was soll das bedeuten?"
„Na ja, sie war wie ich, aber konnte sehen wie Keno."
Langsam verstand ich. Alicia konnte also sehen und fluchen. Deshalb war sie wahrscheinlich ein besonders wertvolles Mitglied von Kajas Zirkel und ihr früher Verlust wiegte selbst Jahre später noch schwer.
Auf einmal erklangen Sirenen.
„Polizei und Feuerwehr", vermutete Kaja und sprang auf. „Komm, wir müssen sofort von hier verschwinden!"
Ich nickte und folgte ihr, doch nach ein paar abgehetzten Schritten blieb ich stehen und zischte: „Scheiße, mein Fahrrad!"
„Was?"
„Mein Fahrrad! Es liegt immer noch vor Endlers Haus! Ich muss zurück..."
„Lass es. Dafür reicht die Zeit nicht mehr! Ich lege einen Segen darüber, dann kannst du es morgen holen."
„Und das funktioniert?"
„Wirklich? Jetzt zweifelst du an mir, nachdem du gerade zwei Flüche bezeugt hast?"
Kopfschüttelnd sank sie nieder in den Sand, klaubte eine Handvoll Sand auf und pustete diesen in Richtung des Strandes.
Ich sah zu, wie die Sandkörner durch die Luft schwebten und wie der sandige Untergrund vor uns in Aufruhr geriet.
„Und nimm besser eine Schaufel mit, vermutlich wirst du tief Graben müssen."
„Vermutlich? Du weißt es nicht genau?"
„Das ist das Komplizierte an Segen und Flüchen, man weiß nie genau, was man bekommt. Manchmal entpuppen sich Segen als Flüche und andersherum. Deshalb wurde auch die Blackbox eingeführt. Schnell."
Ohne mir endlich zu erklären, was diese verdammte Blackbox eigentlich war, drehte sie sich um und hastete tiefer ins Vogelschutzgebiet.
Seufzend warf ich einen letzten Blick auf das brennende Haus und die sich nähernden blinkenden Lichter, dann folgte ich ihr.
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