14. Ein ganz bestimmtes Gefühl | Keno/Robin
Ich entdeckte Miki als ich in einen der Flure im zweiten Stock einbog und legte ihr hinterrücks meine Hand auf die Schulter. „Hey."
Miki entfuhr ein spitzer Schrei, der mich überrascht zurücktaumeln ließ: „Ich bin's nur..."
„Scheiße, Keno, du hast mich fast zu Tode erschreckt!", behauptete die Brünette dramatisch. Sie sah schrecklich aus, leichenblass und irgendwie durch den Wind. Als hätte sie ein Gespenst gesehen oder so.
„Alles in Ordnung bei dir? Wo ist der Laptop?"
„Der ist wieder bei Kaja."
„Was? Dann war mein missglücktes Liebesgeständnis völlig umsonst?"
„Du hast ihr ernsthaft deine Liebe gestanden? Du weißt, dass sie auf Frauen steht, oder?"
„Jetzt schon, aber woher weißt du das?"
„Total offensichtlich", behauptete Miki, worauf ich aber im Moment nicht näher eingehen wollte. „Ich muss dir was erzählen", flüsterte ich stattdessen erregt. „Gestern Nacht hatte ich einen Traum oder besser gesagt ... eine Vision. Ich war wieder im Wald auf der Friedhofsinsel und bin dem Pfad zum alten Sienna Anwesen gefolgt. Ich habe Alica am Abgrund stehen gesehen und eine unbekannte weitere Person, die sich an sie angeschlichen hat. Möglicherweise... ist sie gar nicht bei dem Autounfall damals gestorben."
„Aber ihre Leiche wurde doch im Wagen gefunden", zweifelte Miki. „Denkst du etwa, jemand hat ihre Leiche hinters Steuer gesetzt und diesen Unfall inszeniert? Das klingt ein bisschen..."
„Klingt wie?", fragte ich leicht verärgert. „Bisschen verrückt und unlogisch? Ja, verdammt! Aber die ganze Sache ist doch verrückt und unlogisch, oder? Ich meine, ich sehe und rede mit verstorbenen Menschen. Abgedrehter geht's kaum!"
„Sag das nicht", verlangte sie überraschend nachdrücklich. „Egal was alle anderen sagen, du bist nicht verrückt."
„Schön, dass du dir da plötzlich so sicher bist", schnaubte ich belustigt. „Doch zurück zu meinem Traum; selbst wenn Patrick Endler Alicia damals von diesem Abhang gestoßen hätte und Geschehnisses anschließend durch den Unfall vertuschte, erklärt das immer noch nicht, warum sich Alica mir jetzt plötzlich zeigt und warum Endler wütend ist... Miki, ist wirklich alles in Ordnung? Du wirkst... verstört. Wieso? Konntest du beim Durchsehen der Einträge was herausfinden?"
Meine beste Freundin holte tief Luft: „Ich weiß das du die Wahrheit sagst, weil Endler mich vor etwa zehn Minuten auf der Mädchentoilette beinahe erwürgt hat. Keine schöne Nahtoderfahrung, aber sämtliche meiner Zweifel sind damit endgültig behoben. Aber das ist noch mehr... ich habe wirklich etwas sehr Entscheidens rausgefunden."
„Du wurdest was...?", entschlüpfte es mir geschockt. „Miki, warum hast du das nicht gleich gesagt?! Geht es dir gut?!"
„Jaja, ich werd's überleben. Die Sache ist die, weißt du noch als du mir damals gesagt hast, dass manche Erscheinungen nur auftauchen, wenn du ganz allein bist?"
„Klar."
„Tja, ich denke diese Tagebucheinträge sind auch etwas, was ich erstmal allein weiterrecherchieren muss."
„Du willst mir nicht sagen, was du herausgefunden hast?"
„Doch. Aber nicht sofort. Vertrau mir, ich muss selbst erstmal darauf klarkommen und ein paar Dinge überprüfen, bevor ich dich einweihe."
„Wie du willst. Aber verrat mir nur eine Sache, denkst du, dass der Angriff vorhin mit dem Erwerb dieses Wissens zusammenhängen könnte?"
„Ziemlich sicher sogar", erwiderte sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. „Ich wüsste sonst ehrlicherweise keinen Grund, warum ein verstorbener Hausmeister mich auf dem Klo überfällt."
„Scheiße, das ist gar nicht gut", murmelte ich bestürzt und kaute nervös auf meiner Unterlippe. „Dann sind wir ab sofort beide nicht mehr sicher, sobald wir das Schulgelände betreten."
„Sei nicht so naiv, Keno. Niemand ist mehr sicher."
*
„Hey, pass doch auf", schnauzte mich Kaja an, die soeben aus einem der Flure gebogen war und unsanft in mich hineinrempelte. Ihre Tasche rutschte ihr durch den Aufprall von der Schulter und der Inhalt verstreute sich klappernd über den Flurboden.
„Sorry", erwiderte ich ganz perplex, da ich Kaja noch nie so missgelaunt erlebt hatte. Ich ging in die Hocke und half ihr beim Einsammeln ihrer Habseligkeiten.
„Danke", murmelte sie, ein bisschen kleinlaut. „Tut mir leid, Robin. Ich hätte dich eben nicht so anfahren dürfen."
„Alles okay?", fragte ich sie deshalb stirnrunzelnd, während sie ihr Notebook nach möglichen Schäden untersuchte. „Ach, du weißt schon; nur der übliche Schulstress."
Ich nickte verstehend, wobei mein Blick auf eine Fotografie fiel, die aus einem der Bücher geglitten war. Es zeigte Miki und ein mir unbekanntes Mädchen. Warum hatte sie das?
„Wie geht es Marlon?"
„Ach, der wird schon wieder", versicherte ich ihr mit einem schiefen Grinsen und lehnte mich vor, um nach einem der herumliegenden Stifte zu greifen. Aus einem spontanen Impuls heraus, schnappte ich mir währenddessen mit der anderen Hand unauffällig das herausgerutschte Foto und steckte es ein.
Keine Ahnung, was genau es war, aber irgendwas störte mich an dieser Miki. Allein ihre Anwesenheit schien zu genügen, um Kenos Halluzinationen zu verschlimmern.
„Danke und entschuldige nochmal meinen Ausrutscher eben", murmelte Kaja als alles wieder verstaut war und wir uns gegenüberstanden.
„Kein Problem. Wir sehen uns", sagte ich und kratzte im Anschluss die Kurve.
Marnie wartete am Schultor auf mich. Sie lächelte und ihre erdbeerroten Locken rahmten ihr das hübsche Gesicht.
„Da bist du ja endlich", grinste sie und drückte mir zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Was ist los? Du siehst aus als wärst du gerade einem Gespenst begegnet", witzelte sie und stupste mich liebevoll mit dem Ellbogen an.
„Kein Gespenst, aber Kaja war gerade schon ziemlich gruslig. Erst hat sie mich fast umgerannt und dann übel angefahren."
„Wirklich? Kaja Müller? Die Liebherzigkeit in Person?"
„Na, heute zumindest eher nicht", bemerkte ich, schnappte mir die Hand meiner Freundin und lief los.
*
Später am Tag, saß ich allein in meinem Zimmer und betrachtete das Foto. Miki hatte dem unbekannten Mädchen einen Arm umgelegt und grinste fett in die Kamera. Das andere Mädchen lächelte ebenfalls, aber irgendwas an ihr machte mich dennoch stutzig.
Ich konnte nicht erklären wieso, aber je länger ich sie anschaute, desto mehr kroch mir Unbehagen die Magenwände hinauf. Wieso? Wer war sie? Und warum hatte Kaja überhaupt dieses Foto bei sich gehabt? Und warum hatte ich Idiot es eingesteckt? Irgendwas daran... zog mich an. Und zwar auf eine sehr negative weise. Ich wünschte, mir würde etwas weniger Bescheuertes dazu einfallen, aber, wenn ich es benennen müsste... wäre es wohl ihre Aura, die mir dieses extreme Unbehagen bescherte.
Manchmal überkam es mich einfach wie jetzt und ich bildete mir ein, gewisse Eigenschaften oder Absichten einer Person herauslesen zu können, selbst wenn ich diese gerade erst zum ersten Mal sah. Was natürlich totaler Bullshit war, aber... es hatte auch schon Momente gegeben, wo sich meine Ahnungen bestätigt hatten, sowohl im positiven als auch im negativem Sinne. Und die Aura dieses Mädchen schrie regelrecht nach Gefahr.
Wie fast immer in solchen Momenten der Unsicherheit, wünschte ich Onkel Nazario wäre noch hier. Er war der Einzige, mit den man über solche Sachen hatte reden können, ohne sich dabei lächerlich vorzukommen.
Doch er war nicht mehr länger hier und diese Wahrheit zu akzeptieren, schmerzte noch immer.
„Robin?", hörte ich die Stimme meiner Mutter zu mir hinaufrufen. „Bist du da?"
„Bin ich", antwortete ich und ließ das Bild schnell in einer Schublade verschwinden. Meine Mutter war wirklich die letzte Person, die ich bei sowas um Rat fragen konnte. Carmen Walcher glaubte ausschließlich an Dinge, die wissenschaftlich fundiert waren. Und jedes Mal, wenn das Thema auf etwas fiel, was ihrer Meinung nach absoluter Unsinn war, konnte ihr Tonfall ausgesprochen eisig werden.
„Könntest du mir beim Auspacken der Einkäufe helfen?"
„Klar."
Als ich in die geräumige Küche trat, fischte sie geschäftig die Einkäufe aus der Tüte. Wie meistens, hatte sie ihre rabenschwarzen Haare im Nacken zu einem festen Dutt gebunden und ihre schlanke Gestalt steckte in einem langen Sommerkleid. Ich trat neben sie und schnappte mir die Sachen fürs Kühlfach.
„Danke, du bist ein Schatz."
Wenn wir allein waren, wechselte sie in ihre Muttersprache, auch wenn mein Spanisch alles andere als perfekt war.
„Wie geht es dir? Nach diesem... unschönen Vorfall in der Schule."
„Du meinst Marlons allergische Reaktion auf sein Asthmaspray?"
„Ich meine das zirkulierende Video von Konrad. Ja, wir Erwachsenen kriegen sowas auch mit. Der arme Junge, es scheint ihm immer schlechter zu gehen. Um ehrlich zu sein bin ich froh, dass ihr inzwischen kaum noch Kontakt zueinander habt. Man kann ja nie wissen."
„Man kann nie was wissen? Willst du etwa andeuten, dass seine Nähe für andere gefährlich werden könnte? Das ist doch Unsinn. Er hat Marlon nicht einmal berührt."
Plötzlich ertönte die Hausklingel. „Erwartest du jemanden?"
„Nein, vielleicht nur ein Paket für die Nachbarn", vermutete ich und war eigentlich ganz froh darüber, dieser Unterhaltung entfliehen zu können.
Ich riss die Tür auf und da stand... Keno.
„Hi", sagte ich verwundert und er schien gar nicht begeistert zu sein, mich zu sehen. Aber immerhin hatte er an unserer Tür geklingelt.
„Hi...", echote er. „Ist deine Mutter da?"
„Was?", fragte ich nur völlig perplex.
„Deine Mutter. Carmen. Ist sie da?"
„Äh... ja?"
„Dann kann ich kurz reinkommen? Ich müsste etwas mit ihr besprechen."
Was zur Hölle könnte Keno denn mit meiner Mutter besprechen wollen?
„Sicher, komm ruhig rein", sagte ich immer noch ziemlich verwirrt und trat zur Seite, damit er hereinkommen konnte.
„Danke. Es dauert auch nicht lang."
Ich folgte ihm in die Küche, wo meine Mutter nun herumfuhr und den eintretenden Keno irritiert musterte. „Konrad? Hallo?"
„Carmen, kann ich kurz mit dir reden? Unter vier Augen?"
„Na sicher. Äh, komm doch mit ins Wohnzimmer, dann kann Robin weiter ausräumen."
Ungläubig sah ich zu, wie mein ehemaliger bester Freund und meine Mutter ins Wohnzimmer entschwanden und mich verwaist in der Küche zurückließen.
Das ist doch wohl ein schlechter Witz?!
So leise wie möglich, schlich ich deshalb an die nun geschlossene Wohnzimmertür heran und presste mein Ohr dagegen. Worum könnte es bloß gehen?
Erst konnte ich nichts hören, dann fragte meine Mutter: „Alicia? Meine Cousine? Ja, natürlich erinnere ich mich an den Vorfall – ein wirklicher tragischer Unfall. Sie war ja erst achtzehn als sie verstarb. Meine Familie konnte ihren plötzlichen Verlust nie ganz überwinden."
Leider sprach Keno so leise, dass ich ihn überhaupt nicht verstand.
„Patrick Endler? Sein Vater hat damals das Dach unseres Anwesens repariert. Er hat Patrick mit auf die Insel gebracht und mein Bruder und Alicia haben sich in diesem Sommer mit ihm angefreundet."
Was? Onkel Naz und Patrick Endler waren mal befreundet? Klar, sie waren im selben Jahrgang und mussten sich deshalb zwangsläufig als Kinder gekannt haben, aber allein die Vorstellung fand ich dennoch absurd. Onkel Naz war schließlich der coolste Mensch, dem ich jemals begegnet war und unser ehemaliger Hausmeister war dagegen... nun... creepy.
„Nein, das war nur ein dummes Gerücht. Patrick und Alicia waren nur Freunde. Aber warum interessiert dich das überhaupt? Das ist schon so lange her... Denn um ehrlich zu sein, fällt es mir immer noch schwer darüber zu reden. Sie war so ein guter Mensch und ihr plötzlicher Verlust... Konrad, ich weiß nicht, warum du dich plötzlich so sehr für unsere Familienvergangenheit interessierst. Aber ich kann dir versichern, dass Alicias Unfalltod und Patrick Endlers kürzlicher Suizid in keinem Zusammenhang miteinander stehen. Es war reiner Zufall, dass Patrick mit im Auto saß. Sie hat ihn nur am Straßenrand stehen sehen und ihn mitgenommen, da ein Unwetter aufzog. Das ist alles."
Wieder verstand ich die nächsten Gesprächsfetzen nicht.
„Soll ich besser jemanden anrufen, der dich abholt? Deinen Vater? Sicher? Na gut."
Etwas zu spät realisierte ich die Schritte, die sich der Tür näherten. Warum war er auch immer so verdammt leise?
Die Tür wurde aufgezogen und ich schaffte es noch gerade so, zur Kücheninsel zurückzuweichen und ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen.
„Schon fertig?", fragte ich ihn, während Kenos Blick auf mir ruhte.
„Als ob du das nicht gehört hättest", erwiderte er. „Du gibst immer noch einen miserablen Ninja ab."
„Warum hast du meiner Mutter nach einem bereits Jahre zurückliegenden Autounfall befragt?", fragte ich ihn stirnrunzelnd.
„Weil ich etwas überprüfen wollte", antwortete er ausweichend.
„Etwas überprüfen? Was?"
„Kann dir doch egal sein."
„Ist es aber nicht", betonte ich genervt.
„Ach ja? Seit wann?", schnappte er angriffslustig zurück und verließ die Küche. Ich holte tief Luft und folgte ihm.
„Keno... warte."
Ich holte ihn noch im Flur ein und hielt ihn am Handgelenk zurück, doch er versuchte sich sofort loszureißen und stieß dabei ungeschickt gegen die alte Biedermeierkommode. Durch den Ruck, wurde eins der gerahmten Bilder heruntergeschleudert und zerbrach am Boden. Erschrocken sahen wir beide hinunter auf das Bild. Es zeigte Onkel Nazario auf seinem schäbigen alten Schifferboot, mit dem wir früher oft gemeinsam rausgefahren sind – nicht um zu fischen, sondern meistens um Pirat zu spielen oder auch nur, um den Sonnenuntergang anzugucken, während er uns eine neue abgefahrene Abenteuergeschichte erzählt. Mit der Sunflower aufs offene Meer hinauszufahren, war immer das Highlight jedes Sommers gewesen.
„Ich vermisse ihn", sagte Keno plötzlich und riss mich damit zurück ins hier und jetzt. „Er war der einzige Mensch in dieser Abgeschiedenheit, der mich jemals weder verurteilt noch bemitleidet hat. Bei ihm durfte ich immer ich selbst sein. Aber wem erzähle ich das? Du verstehst das nicht. Du... hast es nie verstanden."
Dieser Vorwurf schmerzte.
„Ich verstehe es besser als du denkst."
Wenn Onkel Naz noch am Leben wäre, hätte ich jemanden, dem ich mich unvoreingenommen anvertrauen konnte. Aber das war er nun mal nicht mehr, deshalb war es für alle besser zu schweigen. Wahrscheinlich waren meine Ahnungen ohnehin nur Zufallstreffer.
„Klar", schnaubte Keno bloß und wandte sich ab. „Sorry für den Bilderrahmen. Ich besorg euch Ersatz."
Damit verschwand er endgültig aus der Haustür und ich ging seufzend in die Hocke und begann die verteilten Scherben aufzuklauben, den Blick weiterhin auf das Bild gerichtet.
„Ich weiß", murmelte ich unglücklich. „Aber was soll ich denn machen?"
Ich wusste, dass Onkel Naz in dieser Sekunde wahnsinnig von mir enttäuscht gewesen wäre, wenn Verstorbene wirklich in irgendeiner Form weiterexistierten und über die Leben der Zurückgeblieben wachten. Für ihn war Keno immer genauso Teil seiner Familie wie ich es war. Blutsverwandtschaft hatte ihn nie sonderlich interessiert, lieber hatte er sich seine Familienmitglieder selbst ausgesucht. Vielleicht wachte er auch lieber über ihn. Wer weiß?
Ich hob das Bild auf und bemerkte aus den Augenwinkeln einen Schriftzug. Was ist das? Neugierig drehte ich das Bild um und las: Vergiss das niemals, Robin.
Es handelte sich eindeutig um Naz' Handschrift. Aber ich verstand nicht.
„Robin?", rief meine Mutter und ich steckte rasch das Bild ein. „Was ist passiert?"
„Nichts. Ich bin nur gegen die Kommode gerannt."
...
Was sollte ich niemals vergessen?
***
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