13. Segen und Fluch | Keno/Miki
Unbehaglich folgte ich Kaja in den Durchgang hinein, der von Bücherrücken gesäumt wurde. Das war verdammt knapp ... Was hatte Miki sich nur dabei gedacht?
„Also."
Kaja blieb stehen und blickte mich abwartend an. „Worüber wolltest du mit mir reden?"
„Ich wollte nur..." Scheiße, denk nach! „Wegen gestern."
„Ja?"
„Du hast das Video gesehen, oder?"
„Ja. Machst du dir deshalb Sorgen?"
Eigentlich nicht. Ich war schon der Schulfreak, dieses Video machte da keinen wirklichen Unterschied mehr.
„Kaja... es gibt da eine Sache, die ich dir unbedingt sagen muss."
„Was denn?"
Ich konnte es ihr nicht sagen. Wie denn auch? Übrigens, der Geist unseres rachsüchtigen Hausmeisters will dich eventuell umbringen, also sei bitte besonders vorsichtig. Das war bescheuert. „Ich... Nun..."
Mir fiel nichts ein und sie blickte mich weiter durchdringend an. Ich wurde unglaublich nervös und sagte das Dümmste überhaupt: „Kaja, ich mag dich wirklich sehr. Willst du dich vielleicht mal auf nen Kaffee verabreden?"
Ihr klappte vor Verblüffung sogar der Unterkiefer runter. Ja okay, das war jetzt wirklich ziemlich schräg und plötzlich.
„Sorry, ich wollte dich nicht mit meinem Geständnis überfallen. Ich dachte nur, seit gestern ist mein Leben eh total im Arsch und habe nicht mehr wirklich was zu verlieren."
„Ach Keno, das ist wirklich süß und ich fühle mich total geehrt. Aber du bist gerade einmal sechzehn und ehrlich gesagt auch überhaupt nicht mein Typ."
„Okay", sagte ich, beinahe erleichtert.
„Nein, wirklich, das ist keine dahingeworfene Ausrede. Kannst du... ein kleines Geheimnis bewahren?"
„Äh, klar", stammelte ich überfordert.
„Na ja, um ganz ehrlich zu sein... steh' ich eher auf Mädchen."
„Oh... okay. Cool."
„Was ja gar nichts Schlimmes ist, aber du weißt schon. Kleiner Ort und so. Und solange ich Niemanden offiziell date, brauche ich es auch nicht groß an die Glocke zu hängen."
„Versteh schon. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne gehen, bevor es noch peinlicher wird..."
„Das muss dir echt nicht peinlich sein", behauptete Kaja und umarmte mich herzlich. „Lass uns Freunde sein, okay?"
„Klar."
Danach flüchtete ich aus der Bib und machte mich auf die Suche nach Miki.
*
Ich verkroch mich auf die Mädchentoilette im zweiten Stockwerk, wo ich mich in die hinterste Kabine verschanzte.
Also los.
Enthusiastisch schlug ich in die Tasten, öffnete den Ordner Privat und scrollte mich durch die einzelnen Einträge.
Glücklicherweise waren die Einträge nach Datum sortiert. Ich klickte auf den 20. April, der Tag als Patrick Endler im Heizungskeller tot aufgefunden wurde und las:
Heute wurde Patricks Leiche in der Schule gefunden. Ich kann immer noch nicht fassen, dass er tot ist... wie konnte es nur so weit kommen? Der Zirkel verlangt natürlich vollständiges stillschweigen darüber, aber damit gebe ich mich nicht zufrieden. Ich kannte Patrick und weiß, dass er so etwas nicht aus heiterem Himmel getan hätte. Irgendwer hat ihm das angetan und ich werde herausfinden, wer.
Okay... verwirrt überflog ich die Zeilen nochmals, aber sie ergaben weiterhin wenig Sinn.
Immer noch irritiert, öffnete ich den nächsten Eintrag, der ein späteres Datum trug:
Ich habe mich freiwillig zur Wache gemeldet und bei dieser Gelegenheit Patricks Haus nach seiner Blackbox durchsucht, leider ohne Erfolg. Ein paar Wochen vor seinem Tod hat er mir erzählt, dass er sich beobachtet fühlt und als Vorsichtsmaßnahme einige Schutzrituale ausgeführt hat. Vielleicht war es ein Mitglied des Zirkels. Oder jemand, der nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Was zum... Ich konnte es überhaupt nicht fassen. Das las sich ja als wären Kaja und Patrick Endler Mitglieder irgendeiner ansässigen Sekte gewesen... unfassbar.
Oder jemand, der nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Also glaubte sie doch an Geister?
„Was ist nur diese Blackbox?", flüsterte ich und klickte auf den nächsten Eintrag, doch dieser enthielt nur seltsame Zeichen und Symbole. Irgendwas daran kam mir entfernt bekannt vor. Wo hatte ich das schonmal gesehen?
Ich wühlte mein Handy hervor und machte ein Foto, im selben Moment als das Licht zu flackern begann und kurz darauf vollends erlosch.
Gar nicht creepy.
„Hallo?", rief ich zaghaft und machte zeitgleich meine Handytaschenlampe an.
Ein Stromausfall?
Vorsichtig stellte ich das aufgeklappte Laptop am Boden ab und entriegelte die Kabinentür.
Mein Herz klopfte laut und ich verstand gar nicht, warum. Wahrscheinlich nur eine ausgebrannte Glühbirne.
Da das Badezimmer ein kleines Fenster besaß und so nur ein Hauch Tageslicht hineingelangte, hielt ich mein Handy ausgestreckt vor mir, um mir den Weg zum Lichtschalter zu leuchten, ohne irgendwo gegen zustoßen.
Ich legte den Schalter mehrmals hintereinander um, aber die herrschende Dunkelheit blieb bestehen. Mist. Vermutlich die Sicherung rausgeflogen. Da blieb mir wohl keine andere Wahl, als mir ein neues Versteck zu suchen, um meine Nachforschungen weiterzuführen.
Also ging ich zurück zur Kabine, um den Laptop zu holen, doch bevor ich dessen Tür mit der Hand aufstoßen konnte, ging erneut das Licht an.
Was...?
Und dann spürte ich plötzlich den Druck um meine Kehle und schnappte erschrocken nach Luft, die allerdings nicht länger in meine Lunge gelangte. Ich... konnte nicht atmen!
Verzweifelt tastete ich meinen Hals ab, um die Ursache dieser Atemnot auszumachen, obwohl ich sie bereits erahnte: Endler.
Er tat mir dasselbe an, was er auch schon bei Marlon versucht hatte; mich hinterrücks zu erwürgen. Nur war diesmal kein Keno in der Nähe, der ihn von diesem Vorhaben abbringen konnte. Ich war ganz allein in diesem beschissenen Klo und würde hier drin elendigst krepieren!
Fuck...!
Mit einer Hand hielt ich den Hals umklammert, mit der anderen tastete ich blindlings nach etwas, was ich als Waffe benutzen konnte. Doch selbst wenn ich etwas fand, wie sollte ich etwas bekämpfen, was ich weder sehen noch anfassen konnte?!
Meine Sicht verschwamm und ich stieß mit den Fingern gegen kaltes Porzellan. Das Waschbecken.
Verzweifelt klammerte mich daran fest und blickte auf meine Reflexion im Spiegel. Sah die schiere Todesangst in meinen Augen.
Wenn nicht gleich irgendwas passiert, werde ich vielleicht wirklich sterben...
In diesem Moment splitterte das Spiegelglas und ich sank luftringend auf die Knie.
Scheiße!
Dann hörte ich plötzlich wie die Tür aufschwang und eine Stimme sagen: „Das genügt, Patrick! Lass sie sofort los!"
Ich blinzelte, doch durch den andauernden Sauerstoffmangel bekam ich keinen vernünftigen Gedanken mehr zusammen. Keno? Nein, diese Stimme... doch bevor ich den begonnenen Gedanken zu Ende denken konnte, hieß mich eine allumfassende Finsternis willkommen.
*
„Miki? Miki... komm zu dir!"
Ich blinzelte und... atmete. Unfassbar, wie gut sich das auf einmal anfühlte.
„Was...?" Erschrocken setzte ich mich auf und erkannte Kaja, die dicht neben mir kniete.
„Alles gut? Du warst kurz ohnmächtig. Hier, trink einen Schluck Wasser."
Sie hielt mir auffordernd eine Wasserflasche hin, die ich zögernd entgegennahm. „Danke... was... was ist passiert?"
Das Mädchen neben mir betrachtete mich nachdenklich, bevor sie mir eine Gegenfrage stellte: „An wie viel erinnerst du dich denn?"
„Na ja... ich habe... etwas recherchiert und dann ist plötzlich das Licht ausgegangen."
„Soso – und mit recherchiert meinst du vermutlich, dass du unerlaubt die Tagebucheinträge auf meinem Laptop gelesen hast, welchen du dir vorhin illegal angeeignet hast, richtig?"
Ich schluckte und ließ die an meine Lippen gesetzte Wasserflasche wieder sinken. „Es tut mir leid, aber ich wollte nur herausfinden-" „Ist mir scheißegal, was du wolltest, Miki", unterbrach sie mich hart. „Du mischst dich da in Dinge ein, die du noch nicht einmal im Ansatz verstehst!"
„Was für Dinge?! Was haben diese komischen Einträge zu bedeuten?! Was ist das für ein Zirkel und warum bist du auf der Suche nach Patrick Endlers Blackbox?!"
Sie holte zischend Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. „Du... solltest gelesenes besser sehr schnell wieder vergessen."
„Das wird sicher nicht passieren", erwiderte ich bockig. „Also was...? Warum kanntest du Patrick Endler besser als du zugeben willst? Hattet ihr am Ende doch eine Affäre?"
„Sei bitte nicht albern", schnaubte Kaja und verdrehte die Augen. „Wir... waren einfach Teil derselben Gemeinde, das ist alles."
„So eine Art... Teufelsanbeter?"
„Was? Nein! Na ja, am Anfang vielleicht, aber das liegt wirklich schon viele Jahrhunderte zurück! Wir... tun so etwas nicht mehr. Ehrlich, wir sind ganz normale Menschen, mit ganz normalen Jobs. Nur... sind wir eben auch... die Nachfahren von... Heilern und Gelehrten. Ein... Geheimbund, der vergangenes Wissen bewahrt und immer an die nächste Generation weitergibt. Es ist kompliziert, du würdest es nicht verstehen."
„Versuch es ruhig, denn eben wurde ich fast von einem toten Hausmeister ins Jenseits befördert! Also gibst du zu, dass Geister doch existieren und Keno nicht wahnsinnig ist?! Und du wusstest das die ganze Zeit über und hast nichts gesagt?!"
„Nun, wie gesagt, wir sind ein Geheimbund", betonte sie nochmals. „Und es ist in Kenos eigenem Interesse, wenn er glaubt, dass er sich diese Erscheinungen nur einbildet."
„Wie kannst du so etwas sagen? Wie kann es besser sein, zu glauben, man verliere den Verstand, als die Wahrheit zu kennen?!"
„Weil die Wahrheit zu kennen, eine Gefahr für ihn darstellen würde. Nicht jedes Hexenblut ist so fortschrittlich in ihren Einstellungen wie ich selbst es bin, es gibt auch Mitglieder, die durchaus dazu tendieren..." Sie biss ich auf die Unterlippe und verstummte.
Das musste erstmal in mir sacken.
„Du... behauptest also eine Hexe zu sein? Sowie in Harry Potter?", hauchte ich fast ehrfürchtig.
„Nein, sicher nicht wie in Harry Potter", stellte sie eisig klar. „Wir fuchteln nicht mit Stöckchen in der Gegend rum oder faseln dämliches Fake-Latein herunter. Nimmst du das überhaupt ernst? Willst du als Nächstes vielleicht wissen, ob sich meine Zaubersprüche reimen müssen wie in Bibi Blocksberg?!"
„Hey, für mich ist das gerade ziemlich viel auf einmal, okay", rechtfertigte ich mich, konnte aber nicht verhindern, dass meine Wangen anfingen vor Scharm lichterloh zu glühen.
„Hexen gibt es schon lange nicht mehr", klärte Kaja mich ein wenig unwillig auf. „Ich bin nur ein Hexenblut, eine Nachfahrin. Und alles was du jemals über Hexerei in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen hast, ist völliger Blödsinn. So funktioniert das nicht."
„Wie funktioniert es dann?"
„Es würde Jahre dauern, dir das im Detail zu erklären. Aber grob gesagt gibt es zwei Möglichkeiten, wie man einen Zauber wirken kann: Fluch oder Segen."
„Und du glaubst... das Patrick Endler verflucht wurde?", überlegte ich stirnrunzelnd. „Du denkst nicht, dass es Selbstmord war?"
„Vielleicht. Aber das hat nichts mit dir zu tun."
Kaja stand auf und ging hinüber zur letzten Klokabine, um ihr Laptop zu holen. „Ich meine das ernst, Miki. Das ist kein Spiel."
„Wie hast du mich überhaupt so schnell gefunden? Ist der Laptop verflucht?"
„Nein, im Gegenteil. Ich habe einen Segen darübergelegt, damit ich ihn immer wiederfinde, falls... na ja ich ihn verlege oder irgendein Idiot ihn mir klaut. Was sich ja nun als überaus nützlich erwiesen hat."
Sie klappte ihn seufzend zu und verstaute ihn dann in ihrer Tasche.
„Warte kurz... das bedeutet, dass Patrick Endler ebenfalls ein Hexenblut war und nun die Verantwortlichen finden will, die ihm das angetan haben? Aber warum hat er dann Marlon und mich angegriffen?"
Mein Herz klopfte bei dieser Erkenntnis noch schneller als nach meiner eben zurückliegenden Nahtoderfahrung.
„Dich scheint das alles wirklich nicht besonders zu schocken", bemerkte Kaja. „Die Meisten würden anders darauf reagieren. Willst du nicht wenigstens ein bisschen an meiner Geschichte zweifeln?"
„Wieso sollte ich? Du hast mir vorhin das Leben gerettet. Du bist eindeutig eine von den Guten, oder?"
„Wer weiß? Am Endes des Tages versuche ich auch nur die genauen Umstände ans Licht zu bringen, die zu Patricks Selbstmord geführt haben."
„Warte", hielt ich sie verbal zurück, als Kaja bereits Anstalten machte die Mädchentoilette zu verlassen. „Du machst jetzt einfach die Fliege? Ernsthaft? Wir wollen doch alle die Wahrheit hinter Patrick Endlers Selbstmord aufdecken – warum helfen wir uns dann nicht gegenseitig?"
„Ganz einfach; je weniger ihr über Patricks Vergangenheit wisst, desto besser. Außerdem... welchen Vorteil verschafft mir schon die Zusammenarbeit mit zwei Amateuren?"
„Dann verrate mir nur noch eine Sache", drängte ich und tastete mit einer Hand nach dem Waschbecken neben mir, um mich daran hochzuziehen. Meine Knie zitterten immer noch.
„Was genau hat das alles mit Keno zu tun? Warum kann er als Einziger sehen?"
„Weil er aus einer sehr alten Blutlinie von Totenflüstern heraus stammt. Manche würden ihn auch als Seher, Schamane oder Nekromanten umschreiben. Jedenfalls zieht seine Art den Tod an, weshalb der Schleier zwischen dieser und der nächsten Welt besonders dünn ist. Früher wurden sie deshalb auch als Teufelskinder bezeichnet."
„Teufelskind... so hat Endler Senior Keno damals auch genannt..."
„Ja, Kurt ist natürlich auch ein Zirkelmitglied. Deshalb arbeite ich dort auch in Teilzeit, um ihn ein bisschen im Auge zu behalten. Er ist alt und manchmal vergisst er, dass manche Dinge besser unausgesprochen bleiben. Eigentlich ist das nicht so schlimm, egal was er erzählt, die Leute halten ihn für senil, aber wenn ihr ihm damals die richtigen Fragen gestellt hättet, hätte es üble Konsequenzen haben können."
„Und die wären?"
Kaja warf mir einen stechend scharfen Blick über die Schulter zu, durch den ich etwas Speichel meine ausgetrocknete Kehle hinunterdrückte.
„Wenn du wirklich Kenos Freundin bist, hörst du jetzt besser auf Fragen zu stellen. Gebt eure lächerlichen Nachforschungen auf und überlasst mir die Detektivarbeit. Lass es mich nicht bereuen, dein Leben gerettet zu haben."
Nach dieser unheilvollen Verkündung verließ sie die Mädchentoilette und ließ mich ziemlich überfordert zurück. Ich warf einen Blick in den zersplitterten Spiegel, der mein Antlitz jetzt nur noch bruchstückhaft reflektierte.
Was zur Hölle sollte ich jetzt bloß mit diesen neuen Informationen anfangen?
***
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