9. »Solange es kein Slytherin ist ...«
[Marcus]
Die Gegend hinter den Fenstern des Zuges wurde zunehmend wilder. Marcus sah hinaus in das trübe Grau des bewölkten Himmels. Den ganzen Sommer über war strahlender Sonnenschein gewesen, ideales Quidditch-Wetter. Doch jetzt, pünktlich zum Schulanfang, hatten sich graue Wolken am Himmel aufgetan, und je weiter der Nachmittag fortschritt, desto dichter wurde die Wolkendecke über ihnen, während der Hogwarts-Express stetig gen Norden fuhr.
Ja, er hatte die Ferien genutzt. Marcus konnte sich nicht erinnern, zu Hause jemals so viel für die Schule getan zu haben. Nicht, dass er gelernt hatte. Jedoch konnte er mit Stolz behaupten, so viel trainiert zu haben wie nie zuvor. Das gesamte Ausmaß der Auswirkungen seines Trainings war Marcus erst wirklich bewusst geworden, als er am Bahnhof King's Cross nach zwei Monaten Adrian wiedergesehen hatte. Sein bester Freund hatte ihn mit einer freudigen Umarmung begrüßt, ihn eine Armlänge von sich geschoben und seinen Blick über seinen Oberkörper wandern lassen. Ein Hauch von Röte hatte sich über seine Wangen gelegt, und er hatte gesagt »siehst gut aus«, ehe sie sich aufgemacht hatten, um ihre Koffer zum Zug zu bringen. Erst im Nachhinein hatte Marcus begriffen, was er gemeint hatte, und dass das Training vielleicht nicht nur dazu beigetragen hatte, seine Leistungen als Jäger zu verbessern. Er warf einen Blick zu Adrian, der ihm gegenüber am Fenster lehnte und gedankenverloren Schokofroschkarten sortierte, und grinste. Ja, ihm gefielen diese Auswirkungen.
Sie fuhren weiter Richtung Norden, und das Wetter blieb unbeständig. Eine Zeit lang prasselte Regen sanft gegen die Scheiben, dann brach wieder die Sonne zwischen den Wolken hervor. Während einer dieser sonnigen Phasen zog Marcus Pergament und Feder aus seinem Koffer und begann, einen kurzen Brief zu verfassen. In den Ferien hatte er keine Gelegenheit gehabt, mit Oliver zu schreiben. Die Zauber, mit denen er die Zettel verhexte, funktionierten nicht auf große Distanzen und die kleinen Briefe fanden ihren Weg zu Oliver nur über kurze Entfernungen, einmal ganz abgesehen von dem generellen Zauberverbot in den Ferien. Doch Marcus hatte ohnehin die leise Ahnung, dass auch Oliver in seinen Ferien ziemlich beschäftigt gewesen war, denn er wusste, dass auch Oliver entschlossen war, in seine Hausmannschaft zu kommen. Marcus fragte sich einen Moment lang, ob man Oliver das Training wohl genauso ansah wie ihm selbst, dann verwarf er mit einem verhaltenen Grinsen den Gedanken, faltete das Pergament zusammen und versah es murmelnd mit dem Zauber. Dann öffnete er das Fenster ihres Abteils und fast augenblicklich flatterte der Zettel aus seiner Hand ins Freie. Marcus lehnte sich aus dem Fenster und beobachtete, den Wind in den Haaren, wie der Zettel – dem Fahrtwind erstaunlich gut trotzend – am Zug entlang flatterte und nur zwei Abteile weiter in einem Fenster verschwand.
Marcus stockte, den Blick auf das Fenster gerichtet und rang einen Moment lang mit sich selbst. Seine Augen tränten vom Fahrtwind, und die kalte Luft stach ihm ins Gesicht. Und noch ehe sein Kopf einen Entschluss gefasst hatte, hatte er auch schon das Fenster geschlossen und stolperte beinahe über seinen Koffer, als er aufsprang, die Tür des Abteils aufriss und in den Gang des Zugs trat. Kurz orientierte er sich, dann lief er zielstrebig durch den Zug. Ein Abteil, zwei Abteile, links. An der Tür angekommen, zögerte er. Verdammt, er wollte das doch eigentlich gar nicht wissen. Und dennoch veranlasste ihn irgendetwas dazu, behutsam die Tür aufzuschieben und einen vorsichtigen Blick in das Abteil zu werfen.
Das Erste was er sah, war ein schlaksiger, rothaariger Junge, der gerade im Begriff war, das Fenster zu schließen. »... verstehe echt nicht, warum du mir das nicht sagen willst«, sagte er gerade zu dem Jungen ihm gegenüber, nicht viel jünger als Marcus, der – sein Herz machte einen aufgeregten Satz – Marcus' Zettel in Händen hielt. »So schlimm kann es doch nicht sein, oder?«, fuhr der rothaarige Junge fort, während er sich hinsetzte und Marcus endlich freie Sicht auf den anderen hatte. »Solange es kein Slytherin ist, mit dem du da schreibst ...«
Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter Marcus zu, der mit einem flauen Gefühl im Magen zu seinem Abteil zurückstolperte. Ein Blick auf das Abzeichen auf den Umhängen der beiden Jungen hatte ihm genügt. Gryffindor. Verdammt, verdammt, verdammt.
Im Nachhinein konnte Marcus gar nicht mehr so genau sagen, wie Oliver ausgesehen hatte. Er glaubte, sich an hellbraune, wuschelige Haare zu erinnern, ein junges Gesicht, und braune Augen. Oder blaue? Er wusste es nicht mehr. Eine einzige Information hatte sich in seinen Kopf eingebrannt, und schwirrte nun unaufhaltsam immer wieder durch seine Gedanken: Oliver war ein Gryffindor.
Fast ein wenig zu seiner eigenen Überraschung störte es ihn nicht einmal wirklich; er hatte sich schon länger damit abgefunden, dass Oliver höchstwahrscheinlich in einem anderen Haus war als er selbst. Doch der Gedanke, dass Oliver nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, wenn er erfuhr, dass er ein Slytherin war, bereitete ihm Magenschmerzen. Er wusste, welchen Ruf sein Haus hatte, insbesondere bei den Gryffindors, und Marcus fand die Vorstellung einfach unerträglich, dass daran ihre Freundschaft zerbrechen sollte. Auch wenn sie sich nicht wirklich kannten, war ihm Oliver wichtig geworden. Diese Freundschaft, die sich langsam aus ihrem Zettelschreiben entwickelt hatte, war für ihn etwas besonderes. Er wollte das nicht aufs Spiel setzen. Wollte nicht noch einmal erleben, fast einen Freund zu verlieren, weil er ehrlich gewesen war, offenbart hatte, wie er war. Und das war der Moment, als Marcus beschloss, dass Oliver nie erfahren durfte, wer er war.
~ • ~
Die ersten Wochen des Schuljahres verliefen für die Drittklässler recht ereignisreich, während sich der gewohnte Alltag in Hogwarts langsam wieder einpendelte. Sie hatten neue Fächer belegt: in Marcus' Fall waren es Pflege magischer Geschöpfe und Wahrsagen, die nun zusätzlich in seinem Stundenplan Platz gefunden hatten – aus dem einfachen Grund, dass diese Fächer – Mitschülern zufolge – mit dem wenigsten Lernaufwand verbunden waren. Und während die ersten Stunden Pflege magischer Geschöpfe wirklich interessant gewesen waren, stellte sich Wahrsagen als absoluter Mist heraus. Marcus konnte dem Lesen aus Teeblättern und vagen Zukunftsdeutungen absolut nichts abgewinnen, aber zumindest waren die Unterrichtsstunden zusammen mit Adrian unterhaltsam, und solange man nur genügend Fantasie besaß, waren auch die Hausaufgaben schnell erledigt.
Was Marcus die meiste Zeit über beschäftigte waren die anstehenden Auswahlspiele. Er trainierte nun wieder regelmäßig an den Wochenenden. Jetzt, da noch keines der Teams mit dem Mannschaftstraining begonnen hatte, war das Quidditchfeld so gut wie immer frei. Und doch sah er, als er am letzten Tag vor den Auswahlspielen auf dem Weg zum Feld war, eine einzelne Gestalt auf ihrem Besen die Torringe umkreisen. Er dachte an die Auswahlspiele für Gryffindor, die nächste Woche anstanden, und meinte, hellbraune Haare erkannt zu haben. An diesem Abend trainierte er nicht mehr.
Der Morgen brach klar und kühl an. Ein leichter Wind wehte ihm die Haare aus der Stirn, als er mit geschultertem Besen über den Rasen hinunter zum Quidditchfeld lief. Perfekte Flugbedingungen.
Adrian zu seiner Linken schien seine Gedanken zu teilen, er kniff die Augen leicht zusammen und sah in den Himmel. »Sieht gut aus.«
»Mhm«, meinte Marcus lediglich kurz angebunden, während sich nun doch die Nervosität in ihm breit machte.
Adrian sah ihn an. »Du packst das schon.«
Marcus versuchte sich an einem Grinsen. »Ich weiß.«
Die Auswahlspiele für die Jäger waren ganz an den Anfang gelegt worden. Nachdem die Quidditchmannschaft von Slytherin im vergangenen Schuljahr mit einer ziemlich erbärmlichen Torbilanz auf dem vorletzten Platz gelandet war, hatte Slytherin-Kapitän Vaisey entschieden, die Offensive nochmals komplett neu aufzustellen. Was hieß: bessere Chancen für Marcus, für eine der beiden freien Jäger-Positionen ins Team geholt zu werden.
Nervös stützte Marcus sich auf seinen Besen, während er auf die Anweisungen des Kapitäns wartete. Er kam sich vor wie vor einem Jahr: alleine, zwischen den anderen Spielern, fast alle älter als er selbst. Doch diesmal wusste er, dass Adrian da war; er stand am Spielfeldrand und als Marcus zu ihm hinüber sah, reckte er die Daumen in die Luft und zauberte Marcus trotz aller Anspannung ein schwaches Grinsen aufs Gesicht.
Es war anders als letztes Jahr. Vaisey ließ jeden Spieler einzeln fliegen und bereits nach wenigen Sekunden in der Luft schickte er die ersten schon wieder auf den Boden. Als Marcus an der Reihe war, rechnete er fast jede Sekunde mit dem Pfiff, der ihn als ungenügend befinden und auf direktem Weg aus dem Team weisen würde, bevor er überhaut aufgenommen worden war. Doch er kam nicht. Und nachdem er auf Vaiseys Signal hin mit dem Quaffel einmal quer über das Feld geflogen war, dabei den drei anderen Spielern ausgewichen war, die allesamt versucht hatten, ihm den Ball abzunehmen, und einen Glanztreffer erzielt hatte, dachte er gar nicht mehr daran. Er flog einfach, flog, so wie er immer im Training geflogen war, wich Klatschern und anderen Spielern aus und verwandelte alle Würfe, woraufhin der Hüter kurzerhand aus dem Team geworfen wurde.
Als er den Quaffel an den nächsten Spieler weitergegeben hatte und schon wieder in Richtung Boden fliegen wollte, um die anderen Kandidaten abzuwarten, nahm ihn Vaisey zur Seite. »Du hast trainiert«, stellte er fest und musterte Marcus. Marcus nickte lediglich und wartete angespannt darauf, was Vaisey ihm zu sagen hatte. Doch dieser warf Marcus nur noch einen kurzen Blick zu und sagte knapp: »Du bist im Team.« Und im nächsten Moment war er auch schon wieder zu den anderen Spielern in die Mitte des Feldes geflogen.
Wie er wieder auf den Boden gekommen war, wusste Marcus nicht mehr, als er dort mit zitternden Knien auf dem Quidditchfeld stand, den Besen in der Hand, während Adrian über die Absperrung kletterte und auf ihn zurannte. »Was hat er gesagt?«
»Ich bin im Team«, sagte Marcus ungläubig, erst jetzt wirklich begreifend, was diese Worte bedeuteten, und fiel Adrian um den Hals. »Ich bin im Team!«
Adrian schlug ihm lachend auf den Rücken. »Ich hab dir doch gesagt, dass du's schaffst.«
Marcus wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und löste sich von seinem besten Freund. Adrian grinste ihn zufrieden an.
Über ihnen ertönte eine Stimme. »Flint!« Marcus blickte hoch und sah Vaisey, der auf halber Höhe der Torringe schwebte und zu ihnen herunter sah. »Sieh zu, dass du noch hier bleibst, bis ich mit den anderen Positionen durch bin. Ich will später das ganze Team zusammen sehen.«
Marcus gab ihm ein Zeichen, dass er verstanden hatte, und wandte sich wieder Adrian zu. »Willst du solange noch hier bleiben? Es wird noch länger dauern, jetzt brauchen wir auch noch einen neuen Hüter. Vaisey hat ihn rausgeworfen, nachdem ich beim Testspiel alles getroffen habe.«
Adrian ließ ein ungläubiges Lachen hören. »Echt?« Dann grinste er und boxte ihm freundschaftlich gegen die Schulter. »Ich hab dir doch gesagt, du schlägst jeden Hüter.«
Geschlagene fünf Stunden später war Marcus verschwitzt und ausgelaugt alleine auf dem Weg hoch zum Schloss. Nachdem nach den Auswahlspielen ihre Mannschaft endlich komplett war, hatten sie im Anschluss direkt ihr erstes Training gehabt. Adrian war bereits hochgegangen, um rechtzeitig zum Abendessen zu kommen und ihm noch etwas mitzunehmen, falls das Training länger dauerte.
Über dem Quidditchfeld war inzwischen der Abend hereingebrochen und die untergehende Sonne tauchte die Ländereien in warme Farben, während Marcus über das Gras zum Schloss stapfte. Als er das Schlossportal erreichte, sah er von der Eingangshalle her eine Person auf sich zulaufen.
»Flint!« Marcus brauchte einen Moment, um den Slytherin zuzuordnen. Es war der alte Hüter ihrer Quidditchmannschaft; der, den Marcus unabsichtlich aus dem Team befördert hatte, und er wirkte ganz und gar nicht erfreut. »Du ... wegen dir wurde ich aus der Mannschaft geworfen!«
Obwohl der Sechstklässler wirklich nicht aussah, als sollte man sich gerade mit ihm anlegen, erwiderte Marcus: »Ich würde sagen, du bist aus der Mannschaft geflogen, weil du bei der Auswahl schlecht warst. Beschwer dich nicht bei mir, sondern bei Vaisey. Und jetzt lass mich durch.«
Mit diesen Worten versuchte er, sich an dem anderen vorbeizuschieben, doch dieser stellte sich ihm in den Weg und stieß ihn mit einer groben Bewegung von sich. »Ich war drei Jahre lang Hüter. Und jetzt meinst du, du kannst die ganze Mannschaft umkrempeln –«
»Bletchley war besser als du«, unterbrach ihn Marcus. »Hast du dir die Torbilanz der letzten Saison angesehen? Das kann man sich doch nicht ansehen. Ich bin nicht schuld, wenn du keinen meiner Würfe hältst.« Er stieß ihn mit der Schulter zur Seite und betrat die Eingangshalle.
Im Nachhinein gesehen hätte er sich vielleicht etwas zurückhalten sollen, dachte Marcus, während er sich auf den Weg in den Gemeinschaftsraum die blutende Nase hielt. Dennoch grinste er, vollkommen zufrieden mit sich und seiner Situation, und spürte mit Genugtuung den pochenden Schmerz in seinem Gesicht, der ihm einmal mehr bewies, dass er es geschafft hatte. Er hatte es wirklich geschafft. Er war Jäger in der Quidditchmannschaft von Slytherin.
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